16.09.2019 •

Die Polizei in NRW: Am Anfang eines langen Weges zu ­Verbesserungen

Interview mit Michael Mertens, dem Landesvorsitzenden der GdP in Nordrhein-Westfalen

H. Neumann

H. Neumann

Die Gewerkschaft der Polizei (GdP) ist eine Macht. In Nordrhein-Westfalen zählt sie über 42 000 Mitglieder, der Organisationsgrad ist mit ca.70 % der aktiven Polizeiangehörigen erstaunlich hoch. Dementsprechend ist auch das politische Gewicht der Gewerkschaft anzusiedeln. Landesvorsitzender in NRW ist Michael Mertens, zugleich auch stellvertretender Bundesvorsitzender. Er ist 55 Jahre alt, verheiratet und hat zwei erwachsene Kinder.

Wir besuchten ihn in seinem Büro in Düsseldorf und sprachen unter anderem darüber, wo die Polizei heute der Schuh drückt und welche Entwicklung für die nähere Zukunft gewünscht und erwartet werden kann.

CP: Herr Mertens, was machen Sie, wenn Sie nicht arbeiten müssen?

Michaels Mertens: Viel Zeit für Privates bleibt nicht, das Amt ist schon eine große Aufgabe und erfordert einiges an Zeit. Eins aber lasse ich mir nicht nehmen: Jeden Montagabend treffe ich mich mit Freunden zum Fußballspielen. Das versuche ich beizubehalten, um den Kontakt zu Freunden und Menschen, die man ein Leben lang an der Seite hatte, nicht zu verlieren. Denn nach dem Amt ist man wieder da, wo man vorher war…

CP: Herr Mertens, Sie sind heute das, was man gern und oft ein wenig despektierlich einen Funktionär nennt. Sie kommen aber natürlich aus der Praxis. Erinnern Sie sich noch öfter an Ihren Polizeidienst?

Michael Mertens: Durchaus, der ist immer präsent. Ich habe in Frechen meinen Dienst begonnen. Alle Straßen und Ortsteile sind mir bis heute noch vertraut.

Das Landeskriminalamt (LKA) hat das erste Lagebild zur Clankriminalität in...
Das Landeskriminalamt (LKA) hat das erste Lagebild zur Clankriminalität in Nordrhein-Westfalen erstellt. Thomas Jungbluth, Abteilungsleiter „Organisierte Kriminalität“, überreichte es Innenminister Herbert Reul.
Quelle: Pressemitteilung der Polizei NRW

CP: Sie wirken durchaus geerdet, nicht so abgehoben wie mancher Politiker. Könnten Sie sich vorstellen, heute wieder in den Polizeidienst zurückzukehren?

Michael Mertens: Das ist eine schwere Frage. Ich bin ja seit fast zwanzig Jahren durch Freistellung nicht mehr im aktiven Dienst. Ich komme aus dem Wachdienst, war zum Schluss Dienstgruppenleiter in Kerpen und erinnere mich gut, was der Schichtdienst mit dem Körper macht. Ob ich das heute noch so wegstecken würde wie damals, weiß ich nicht, obwohl ich damals sehr gern Schichtdienst gemacht habe und das auch gut wegstecken konnte... Der größte Unterschied zu damals aber ist, dass die Menschen sich seitdem sehr verändert haben. Die Menschen ticken heute anders.

CP: Inwiefern haben sich die Menschen in den letzten Jahren verändert?

Michael Mertens: Als durch die Politik die finanziellen Einschnitte bei der Polizei erfolgten, die uns bis heute zu schaffen machen, war eine Begründung dafür: Deutschland wird älter, die Deutschen werden weniger, also brauchen wir auch weniger Polizei, weil es weniger Einsätze und weniger Kriminalität geben wird. Heute wissen wir: Wir haben nicht weniger Kriminalität bekommen. Wir sind auch nicht weniger Einwohner geworden. Aber die Einsatzanlässe sind heute ganz andere. Ein Beispiel: Früher haben Nachbarn einen Streit selbst geklärt. Heute wird oft die Polizei gerufen. Hinzu kommt eine negative Entwicklung, was Respekt vor Amtsträgern und Weisungsbefugten angeht. Das spüren heute viele Berufe – vom Busfahrer über den Kontrolleur in der Bahn und eben auch der Polizist. Selbst Rettungskräften werden angefeindet, wenn sie helfen wollen.

CP: Manche sagen, bei diesen Erscheinungen gibt es Querverbindungen zur sogenannten Clan-Kriminalität. Die ist mittlerweile in der Politik Priorität Nummer 1 in NRW. Findet hier jetzt ein Umschwung statt?

Michael Mertens: Das Thema ist ja nicht neu. Wenn man in NRW genau hinschaut, hat schon die Vorgängerregierung versucht, in Duisburg das eine oder andere auf die Beine zu stellen. Trotzdem: Was unter Rot-Grün teilweise problematisch war – das Thema Clans explizit anzusprechen, war mehr oder weniger unerwünscht – ist nach dem Regierungswechsel anders geworden. Heute gibt es in der Politik eine ganz klare Linie. z. B. die Null-Toleranz gegenüber Clans, die sich nicht an die Regeln halten. Jede Strategie hat ihre Zeit. Die zurückhaltende hat vielleicht damals gepasst. Aber heute ist die Strategie zu sagen: Wenn wir diesen Staat in unseren Grundwerten erhalten wollen, müssen wir etwas dafür tun und deutlich machen, dass sich niemand Gesetzen und Ordnungskräften widersetzen darf. Wir müssen ganz klar ein Zeichen setzen, wer hier in diesem Land das Sagen hat. Die Polizei hat dafür jetzt die notwendige politische Unterstützung. Und das kommt auch bei den Kolleginnen und Kollegen gut an.

CP: Was sind Ihrer Meinung nach die Ursachen für die zunehmende Erscheinung, dass Einsatzkräfte bedroht werden?

Michael Mertens: Dahinter steht ein langer Prozess. Der beginnt in der kleinsten gesellschaftlichen Zelle, der Familie, wo gegenseitiger Respekt herrschen sollte. Ein respektvoller Umgang miteinander muss von den Eltern vorgelebt werden. Der Respekt muss sich fortsetzen in der Schule und allen nachfolgenden Bildungsinstitutionen, auch in der Politik und der Öffentlichkeit. Da gibt es heute vielfach Nachholbedarf. Und wir müssen versuchen, die unterschiedlichen Kulturen, die heute bei uns leben, auf eine gemeinsame Grundlage zu bringen. Wir sollten uns alle zusammen auf gemeinsame Regeln verständigen, uns daran halten und uns gegenseitig respektieren. Respekt ist die Wurzel für alles Gute. Fehlender Respekt ist die Wurzel für alles Übel in der Gesellschaft.

Heute wird von manchem die gegenwärtige Asyl-Praxis kritisiert. Aber egal, wie man dieses Thema diskutiert: Unsere Polizei ist rechtsstaatlich, hat rechtsstaatlich zu handeln. Das Asylrecht ist ein Grundrecht. Das können und werden wir niemals in Frage stellen. 

CP: Sie sind Landesvorsitzender der Gewerkschaft der Polizei in NRW und stellvertretender Bundesvorsitzender. Sind Sie ein mächtiger Mann?

Michael Mertens: Mir ist durchaus bewusst, dass ich 42 000 Mitglieder und deren Interessen vertrete. Das bedeutet auf der einen Seite Möglichkeiten der Einflussnahme und auf der anderen Seite aber auch eine große Verantwortung. Ob man das als Macht bezeichnet, sollen andere entscheiden. Für mich ist es in erster Linie eine Herausforderung.

CP: Sehen Sie es als Ihre Hauptaufgabe an, die Interessen Ihrer Kollegen zu vertreten? Und gibt es manchmal Interessenkonflikte?

Michael Mertens: Erstens sehe ich mich nicht als Interessenvertreter, sondern als Gewerkschafter, weil wir tariffähig sind. Das ist unsere große Stärke. Das hebt uns auch von dem ein oder anderen Mitbewerber am Markt ab. Gerade in den letzten Wochen ist ja das Thema faire Bezahlung mit den Tarifverhandlungen in Potsdam in den Fokus gerückt. In NRW ist es uns gelungen, dass die Landesregierung den Tarifanschluss ohne Abstriche auch auf die Beamtinnen und Beamten und die Pensionäre übernimmt. Dazu hat die GdP maßgeblich beigetragen, in enger Zusammenarbeit mit den anderen Gewerkschaften im DGB. Die Tarifpolitik ist schon eine große Aufgabe. Die tägliche Interessenvertretung, der Arbeitsschutz und die Arbeitsplatzgestaltung, sind andere große Aufgaben. Es wird z. B. immer viel über Ausrüstung bei der Polizei geredet. Auch da mischen wir uns ein. Das führt schon mal zu einem Konflikt mit dem Innenminister, weil wir uns als GdP in bestimmten Sachfragen anders positionieren als die Ministeriumsspitze. Aber das ist ganz normal, denn ich bin meinen Mitgliedern verpflichtet und nicht den Ministern. Das erwarten meine Kolleginnen und Kollegen im Übrigen auch von mir.

CP: Wie ist denn die aktuelle Stimmung der Polizei in Nordrhein-­Westfalen? Fühlen sich die Kollegen eher im Stich gelassen oder eher unterstützt von der Politik? Gibt es mehr Zufriedenheit oder eher Unzufriedenheit?

Michael Mertens: Eigentlich jeder, den ich kenne, ist zur Polizei gegangen, weil er einen Anspruch an den Beruf und an sich selbst hat. Wir sind für die Menschen da, wir wollen Straftaten verhindern und, wenn sie passiert sind, aufklären und das bestmöglich. Wer setzt sich denn für diesen Staat mit seinem eigenen Körper ein? Wer muss sich beschimpfen lassen, kriegt manchmal sogar etwas auf die Nase? Wer muss sich bespucken und beleidigen lassen, nur weil er für andere Menschen da ist und für diesen Staat einsteht? Da ist viel Herzblut und Idealismus bei meinen Kollegen. Aber es kam über die letzten Jahre auch viel Enttäuschung dazu, das Gefühl, von der Politik alleingelassen zu sein. Das hat mit dem Personalmangel zu tun, die Arbeitsverdichtung hat stark zugenommen. In den Ermittlungskommissionen fehlt oft die Möglichkeit, einen Vorgang wirklich bis zum letzten auszuermitteln. Unsere Arbeit ist nicht leichter geworden in den zurückliegenden Jahren. Auch im Wachtdienst ist heute viel zu wenig möglich. 

Ein Beispiel: Als ich noch in Frechen im Dienst war, standen uns zwei, meist sogar drei Streifenwagen zur Verfügung. Dazu kamen Zivilkräfte und Hundeführer. Kam es zu einem Einbruch, fuhren wir mit drei Wagen hin. Das gab uns die Möglichkeit, das Gebäude zu umstellen. Wir konnten uns gegenseitig schützen, in das Gebäude gehen und eine vernünftige Durchsuchung durchführen. Heute fährt von der derselben Wache im gleichen Fall ein Streifenwagen raus. Mit einem Streifenwagen haben meine Kollegen aber kaum Möglichkeiten, ihre Arbeit vernünftig zu machen und den Täter zu fassen.

Die Personalsituation hat sich gravierend verschlechtert. Auch im technischen Bereich haben wir einen massiven Rückstau. Wir leben inzwischen im digitalen Zeitalter, das ist aber bei der Polizei noch nicht angekommen. Wir nehmen heute immer noch jeden Vorgang – einen Verkehrsunfall, einen Einbruch oder auch manche Vernehmung – mit einem Bleistift oder Kugelschreiber und einem Schreibblock auf. Andere technische Möglichkeiten stehen den Polizisten nicht zur Verfügung. Es gibt für uns keine Möglichkeit, vor Ort etwas so zu erfassen, dass es direkt digital vorliegt. Dadurch wird wertvolle Arbeitszeit vergeudet. Wir ­hinken bei der Digitalisierung ganz weit hinterher.

CP: Und das macht viele Kollegen sicher eher unzufrieden. Gibt es denn Hoffnung auf Verbesserung in absehbarer Zeit bei den von Ihnen angesprochenen Unzulänglichkeiten?

Michael Mertens: Ja. Wir sind im Moment insgesamt auf dem richtigen Weg, was die Verbesserung der personellen und der technischen Ausstattung betrifft. Und auch was die grenzüberschreitende Zusammenarbeit der Polizei betrifft.

Ich hoffe auf eine weitere, positive Entwicklung nach der Europawahl. Für die Kriminalitätsbekämpfung ist ein einiges Europa sehr wichtig, auch für die Zukunft der Menschen auf unserem Kontinent. Wir reden dabei nicht primär von der Zukunft, die meine Generation betrifft, sondern die die Generationen nach uns betrifft. Wir stellen heute die Weichen für die jungen Menschen in Europa.

Bei dieser Wahl wird auch ein Stück weit die künftige Sicherheitsarchitektur für uns alle bestimmt. Deutschland allein hat keine Chance. Die Täter begehen im digitalen Zeitalter ganz andere Verbrechen. Ihnen steht alles zur Verfügung – Cyber-Crime eben. Die Täter kennen keine Grenzen mehr. Wir sind zwar auf dem richtigen Weg, diesen Rückstand nach und nach zu schließen, aber wir haben noch eine ganz, ganz lange Strecke vor uns.


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