European Robotics Hackathon (EnRicH) – Roboter üben für den Ernstfall

Frank E. Schneider, Dennis Wildermuth

Fraunhofer FKIE/Fabian Vogl

Das Szenario ist erschreckend: ein Unfall im Atomkraftwerk, Explosionen nahe dem Reaktor. Wie sieht es in dem Gebäude jetzt aus? Droht Einsturzgefahr? Ist Strahlung ausgetreten? Menschen scheiden zur Aufklärung dieser zeitkritischen Fragen aus. Sie in die unbekannte Lage zu schicken, wäre viel zu gefährlich. Jetzt hängt alles an ihnen: Robotern! Doch sind diese bereits so weit, wirklich verlässlich unterstützen zu können? Beim nächsten „European Robotics Hackathon (EnRicH)“ haben Forschung, Universitäten, Industrie und Anwender die Gelegenheit, das zu testen.

Der Startbereich des Szenarios: Von hier aus mussten die Roboter ins Innere des...
Der Startbereich des Szenarios: Von hier aus mussten die Roboter ins Innere des Kernkraftwerks gesteuert werden. Aufgrund der aktiven Strahlungsquellen durfte niemand die Systeme begleiten.
Quelle: Fraunhofer FKIE/Fabian Vogl

Die Atomkatastrophe von Tschernobyl im April 1986, die erst im vergangenen Jahr dank einer TV-Serie bilderstark zurück ins öffentliche Gedächtnis gelangte, und der GAU in Fukushima 25 Jahre später, im März 2011, haben eines deutlich gemacht: Absolute Sicherheit gibt es bei Atomkraft nicht. Denn trotz jahrzehntelanger Erfahrung, ausgetüftelter Notfallpläne und stetig fortentwickelter Technologien kann es in jedem Atomkraftwerk jederzeit zu einem Unfall mit verheerenden möglichen Folgen für Menschen und Umwelt kommen.

Neben teils veralteten Anlagen, Naturkatastrophen und dem unberechenbaren Faktor Mensch hat sich die Lage durch das zunehmende Bedrohungsszenario terroristischer Angriffe noch verschärft. Dabei ist die Liste von Störfällen in kerntechnischen Anlagen Europas bereits heute lang – fast 40 seit dem Jahr 2000.

Doch nicht nur der Super-GAU, sondern bereits die geordnete Stilllegung alter kerntechnischer Anlagen oder der Abbau von Zwischenlagern rufen Roboter zur Unterstützung auf den Plan. „Die Einsatzszenarien für robotische Systeme im Bereich CBRNE sind sehr real, trotzdem wird bislang erstaunlich wenig konkret in diese Richtung geforscht“, erläutert Dr. Frank Schneider, stellvertretender Leiter der Abteilung „Kognitive Mobile Systeme“ am Fraunhofer FKIE, die Situation. Um die Möglichkeit zu bieten, den aktuellen Stand von Forschung und Technik in realen Einsatzszenarien auf die Probe zu stellen, hat er im Jahr 2017 gemeinsam mit dem Amt für Rüstung und Wehrtechnik (ARWT) des österreichischen Heeres den „European Robotics Hackathon (EnRicH)“ initiiert.

Reale Einsatzszenarien aus vergangenen Katastrophen

Der Wettbewerb findet seitdem alle zwei Jahre in dem nahe bei Wien gelegenen Kernkraftwerk Zwentendorf statt. Das AKW bildet hierfür einen geschichtsträchtigen Rahmen, denn es ist ein Symbol für die Ablehnung der Atomenergie, nachdem eine Volksbefragung im Jahr 1978 kurz vor Inbetriebnahme seine Einschaltung stoppte. Gleichzeitig ist es fast baugleich mit dem Katastrophenmeiler im japanischen Fukushima, in dem sich 33 Jahre später der zweitschlimmste Nuklear-GAU nach Tschernobyl ereignen sollte. Das niemals in Betrieb gegangene Kernkraftwerk bietet damit den idealen Austragungsort für die realitätsnahen Aufgabenstellungen, die unter anderem auf realen Einsatzszenarien vergangener Atomunfälle beruhen. 

„EnRicH ist zudem der einzige Wettbewerb in Europa, bei dem mit echter Strahlung geübt wird“, hebt ARWT-Leiter General Michael Janisch eine weitere, durch sein Amt ermöglichte Besonderheit des Hackathons hervor. „Hier zeigt sich, was die europäische Robotik im Fall der Fälle leisten kann.“

Ganz im Sinne und Verständnis eines Hackathon sieht sich die Veranstaltung weniger als Wettbewerb, sondern vielmehr als gemeinsame Übung, die der internationalen Robotik-Elite und den Nuklear-Experten Gelegenheit bietet, sich zu vernetzen, über neueste Entwicklungen und Fortschritte auszutauschen und unterschiedliche Lösungsansätze bei der Bewältigung der fordernden, realitätsnahen Aufgaben zu vergleichen.

Dennoch ist die Veranstaltung wie ein Wettbewerb organisiert. Die Teilnehmerteams können sich zu unterschiedlichen Diszi­plinen melden und in diesen messen. Gefragt sind Aufgaben aus den Bereichen „Exploration“, der Erkundung und möglichst genauen Kartierung der Infrastruktur inklusive der Messung und Kartierung ausgetretener Strahlung, „Manipulation“, das bei der letzten Ausgabe abverlangte Szenario erforderte hier das Schließen von Ventilen mithilfe eines Greifarms, sowie das Auffinden und Retten von Verletzten in der Disziplin „Search & Rescue“.

Schwierige Aufgaben in 40 Metern Höhe und bis ins Reaktorinnere

Alle diese Kategorien können von den Teilnehmern jeweils im Rahmen eines zwar simulierten, aber dennoch möglichst realistischen Störfall-Szenarios bearbeitet werden. So spielte die erste EnRicH-Ausgabe 2017 auf einer Reaktorebene in 40 Metern Höhe. Die teilweise über eine Tonne wiegenden Roboter mussten zunächst mit einem Kran nach oben befördert werden, um dann in diesem schwierigen Umfeld und weit weg vom Bediener im Eingangsbereich dennoch möglichst zuverlässig zu agieren. 

Eine gewaltige Herausforderung. Um deren Bewältigung etwas zu erleichtern, hatten die Organisatoren das gesamte Areal mit einem Kommunikations- und Funknetz ausgestattet und eine flächendeckende Kameraüberwachung installiert. Auf beides konnten die Teilnehmer bei Bedarf zugreifen, denn eine direkte persönliche Überwachung der Roboter ließ die vorhandene Strahlung nicht zu.

Bei der zweiten EnRicH-Ausgabe im Jahr 2019 war der Schauplatz des Aufgabenparcours zwar das Erdgeschoss des AKW, allerdings inklusive des Reaktorbereichs und sogar bis in diesen hinein. Auch hier rang die typische Beschaffenheit eines Kernkraftwerks Teams und Robotern einiges an Können ab: durch fehlendes Licht, enge Gänge und Türen, steile Treppen und massive, jede Art von Funkverbindung extrem erschwerende Betonwände. 

Die Aufgaben im Bereich „Exploration“ bestanden unverändert im Erstellen eines möglichst präzisen dreidimensionalen Modells der Innenräume sowie in der Kartierung von Strahlungsquellen und Strahlungsintensität. In der Disziplin „Search & Rescue“ sollte ein verletzter Arbeiter, simuliert durch eine lebensgroße Puppe, gefunden und möglichst schnell in einen sicheren Bereich ohne Strahlung transportiert werden. Neu gestaltet waren die Aufgaben zur „Manipulation“: Die radioaktiven Quellen waren diesmal in einem künstlichen Rohrsystem versteckt. Die Roboter mussten die strahlenden Rohrabschnitte identifizieren und dazugehörige Ventile schließen.

Vielversprechende Ergebnisse, aber noch mehr Herausforderungen

Die insgesamt zehn internationalen Teams und ihre Roboter waren durch diese Aufgaben und die damit verbundenen Herausforderungen stark gefordert. Doch ganz im Geiste eines Hackathon nahmen es die Teilnehmer sportlich. Nach ersten Testdurchläufen noch ohne radioaktive Strahlenquellen wurde in der Pit Lane, der Boxengasse, in der die Teams und ihre Roboter untergebracht waren, fieberhaft diskutiert, programmiert und geschraubt, um Software und Technik für den richtigen Wettbewerb optimal vorzubereiten.

Der Aufgabenbereich „Search & Rescue“: Ein Roboter hat den vermissten...
Der Aufgabenbereich „Search & Rescue“: Ein Roboter hat den vermissten
Arbeiter, eine lebensgroße Puppe, gefunden und versucht nun, sie in einen
sicheren Bereich zu transportieren.
Quelle: Fraunhofer FKIE/Fabian Vogl

Die anschließenden „heißen“ Wettbewerbsdurchgänge zogen sich über insgesamt zwei Tage hin und wurden von einer unabhängigen Jury aus internationalen Experten begleitet. Dabei zeigten die Teams durchaus vielversprechende und innovative Ansätze und teils auch sehr gute Ergebnisse. Gleich mehrere Systeme lieferten eindrucksvolle 3D-Modelle der Reaktorebene, zweien gelang es, eine vollständige Karte der herrschenden Strahlungsverhältnisse zu erstellen. Die Jury vergab hier den ersten Preis an das Team Hector der TU Darmstadt. 

Im Aufgabenbereich „Manipulation“ offenbarten diverse Teams Schwächen im Umgang mit der nötigen Sensorik und waren daher nicht in der Lage, die richtigen Rohre zu identifizieren. Lediglich das Team Telerob des gleichnamigen deutschen Roboterherstellers konnte erfolgreich alle fünf richtigen Ventile schließen. In der Kategorie „Search & Rescue“ blieb die entsprechende Auszeichnung im Hause. Das teilnehmende Team aus der Abteilung „Kognitive Mobile Systeme“ des Fraunhofer FKIE überzeugte mit dem kombinierten Einsatz mehrerer Roboter sowie einer besonders innovativen VR-basierten Steuerung des Manipulatorarms.

„EnRicH 2019 war aus unserer Sicht eine sehr erfolgreiche Veranstaltung mit bereits deutlich besseren Leistungen als noch bei der ersten Ausgabe 2017“, zieht Dr. Frank Schneider Bilanz. „Allerdings ist es bis hin zu Lösungen, die im Ernstfall wirklich zuverlässig und vielfältig Unterstützung bieten können, noch ein sehr weiter Weg, der weiterer umfangreicher Forschungsarbeit bedarf.“

So bereitet beispielsweise schon die Fortbewegung auf nicht ebener Fläche häufig Schwierigkeiten. Steile und enge Treppen, wie sie insbesondere in älteren Anlagen üblich sind, stellen für die meisten Systeme ein praktisch unüberwindliches Hindernis dar. Die in das Szenario integrierte Treppe wurde etwa, obwohl breit, flach und theoretisch von mehreren der teilnehmenden Systeme zu bewältigen, beinahe ausnahmslos über eine alternative Rampe umfahren. Auch die schwierigen Kommunikationsbedingungen, mit denen im realen Katastrophenfall sicher zu rechnen ist, machen den meisten Robotern massiv zu schaffen. Dennoch denken die Organisatoren im Sinne einer schnelleren Entwicklung hin zu echt einsetzbaren Systemen darüber nach, in Zukunft kein offenes Funknetzwerk mehr für die Teilnehmer zur Verfügung zu stellen. Es gibt daher noch viel zu tun.

Wünschenswert wäre nach Ansicht Schneiders zudem eine größere internationale Streuung des Teilnehmerfeldes gewesen, denn von zehn Teams stammten sieben aus Deutschland oder Österreich, darüber hinaus aus Italien, Polen und Ungarn. „Insbesondere wäre die Teilnahme weiterer professioneller Teams aus dem kerntechnischen Bereich sicher spannend und aufschlussreich gewesen.“

Der Aufgabenbereich „Manipulation“: Ein Roboter schließt das passende...
Der Aufgabenbereich „Manipulation“: Ein Roboter schließt das passende Ventil, nachdem er das Rohr mit der enthaltenen Strahlungsquelle identifiziert hat.
Quelle: Fraunhofer FKIE/Fabian Vogl

Nächste EnRicH für Oktober 2021 geplant – gleicher Ort, neue Aufgaben

In welche Ergebnisse die Erfahrungen der Teilnehmerteams umgesetzt werden, wird sich bei der hoffentlich kommenden dritten EnRicH-Ausgabe zeigen. Sofern es die Pandemie-Lage zulässt, soll der nächste Hackathon vom 4. bis 8. Oktober 2021 stattfinden, erneut im Kernkraftwerk Zwentendorf. Angesichts des großen, bereits akuten Unterstützungsbedarfs durch Roboter im nukle­aren Anwendungsfeld, den Katastrophengebiete wie Tschernobyl und Fukushima, oder auch die Stilllegung alter kerntechnischer Anlagen, deutlich machen, hat auch das Amt für Rüstung und Wehrtechnik (ARWT) des österreichischen Heeres bereits Unterstützung signalisiert. Aufgrund der aktuell coronabedingt schwierigen Verhältnisse und der unsicheren Aussicht auf das kommende Jahr konnte ARWT-Leiter Janisch aber noch keine endgültige Zusage geben.

Schneider: „Ohne die Unterstützung von General Janisch und seinem Amt könnte diese Veranstaltung nicht stattfinden. Derzeit gehen wir aber alle von einer planmäßigen Durchführung aus.“ 

Auch anforderungstechnisch wolle man dann neue Maßstäbe setzen. So ist angedacht, Teile der Innenräume – wie im Ernstfall durchaus zu erwarten – mit Rauch zu füllen. Erfahrungsgemäß stellt das viele der auf den Robotern verwendeten Umgebungssensoren vor große Herausforderungen. Zusätzlich soll der Einsatz von Drohnen und anderen unbemannten Fluggeräten (UAV) die bestehenden Aufgabenbereiche ergänzen.

Interessierte, ob Besucher oder mögliche Teilnehmer, können sich jederzeit unter https://enrich.european-robotics.eu/, der offiziellen Webseite der EnRicH, über den aktuellen Stand der Planung informieren.


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