Psychosoziale Herausforderungen in der digitalen Lageerkundung von Virtual Operations Support Teams (VOST)
Francesca Müller, Marvin Kubitza, Samuel Tomczyk, Tim Lukas, Lars Tutt, Frank Fiedrich
Die Popularität sozialer Netzwerke und Online-Communities bietet der Öffentlichkeit zahlreiche Möglichkeiten, sich an der Katastrophenhilfe zu beteiligen. Indem eigene Erfahrungen und Sichtweisen öffentlich geteilt werden, können verschiedene Bevölkerungsgruppen an der Katastrophenhilfe partizipieren. Diese Daten und Informationen können für Entscheidungstragende in Krisen- und Katastrophensituationen (KuK) als ergänzende Quellen besonders wertvoll sein, um Entscheidungen adäquat treffen zu können. Hierfür bilden Virtual Operations Support Teams (VOST) eine bedeutsame Schnittstelle zwischen Entscheidungstragenden und den virtuell sichtbaren Teilen der Bevölkerung, in dem sie in KuK öffentlich verfügbare Quellen proaktiv erforschen und die Informationen gebündelt und aufbereitet an die relevanten Stellen vermitteln. Durch die Notwendigkeit, eine große Menge oftmals ungefilterter Daten zu sichten und nach relevanten Informationen zu suchen, sind VOST-Mitglieder – zusätzlich zum Druck einer schnellen Lageentwicklung und einer hohen Arbeitsbelastung – vielen spezifischen Arbeitsbedingungen und teilweise extremen Inhalten ausgesetzt.
Im Dezember 2023 konnten wir uns im Rahmen des Forschungsprojektes #sosmap mit sechs verschiedenen deutschen VOST zu deren organisatorischen und methodischen Vorgehensweisen aus verschiedenen Blickwinkeln austauschen. Hierbei konnten verschiedene Methoden der Datengewinnung, unter anderem eine Poster-Befragung und World-Cafés, umgesetzt werden. Dabei haben alle Teilnehmende die psychosozialen Herausforderungen von VOST-Mitgliedern in ihrer Tätigkeit als mittel bis sehr hoch eingestuft.
Dies verdeutlicht die Notwendigkeit, die psychosoziale Herausforderungen und die Möglichkeiten des psychischen Eigenschutzes von VOST-Mitgliedern eingehender zu betrachten.
Vorstellung und Aufgaben von VOST
VOST-Teams bestehen aus Mitgliedern verschiedener Hierarchieebenen, was die Zusammenarbeit mit Behörden und Organisationen mit Sicherheitsaufgaben (BOS) erleichtert. Die Struktur ermöglicht eine effektive Integration in Notfall- und Krisenreaktionssysteme. VOST-Mitglieder sammeln und analysieren digitale Daten, während Gruppenleiter koordinieren und Verbinder als Schnittstelle zu relevanten Akteuren dienen. Die meisten Mitglieder arbeiten ehrenamtlich und remote, außer den Verbindern vor Ort.
Hauptaufgaben sind die Erkundung digitaler Quellen, das Filtern relevanter Informationen, Echtzeitanalyse und Verifikation. Seit 2017 haben sich in Deutschland mehrere regionale VOST-Einheiten etabliert. Sie liefern wichtige Informationen für die Lageerkundung und Situationsbewertung. Unterschiede in den Verwaltungsebenen und zugrundeliegenden Ereignissen führen zu variierenden Aufgabenschwerpunkten, Gruppengrößen, Verwaltungsstrukturen und Herausforderungen der VOST-Einheiten. Diese Unterschiede sind Gegenstand weiterer Forschung. Die folgende Abbildung visualisiert die Hierarchieebenen, auf denen VOST-Einheiten angesiedelt sind.
VOST-Symposien in Wuppertal
VOST-Symposien dienen dem Austausch und der Vernetzung verschiedener VOST-Einheiten. Das erste Symposium fand am 8. Februar 2020 an der Bergischen Universität Wuppertal statt, um die Einheiten miteinander bekannt zu machen und den Austausch über Arbeitsweisen und Einsatzerfahrungen zu fördern. Das zweite Symposium wurde am 16. und 17. Dezember 2023 ebenfalls an der Bergischen Universität Wuppertal im Rahmen des Projekts „#sosmap“ (sosmap.info) organisiert. Das Fachgebiet Bevölkerungsschutz, Katastrophenhilfe und Objektsicherheit unter der Leitung von Univ.-Prof. Dr.-Ing. Frank Fiedrich organisierte das Event. Das Projekt „Sokapi-R“ (www.sokapi-r.uni-wuppertal.de) trug Erkenntnisse zum kleinräumigen Sozialkapital und zur wechselseitigen Unterstützungsbereitschaft in Nachbarschaften bei.
Über zwanzig Personen aus bundesweit sechs verschiedenen VOST-Einheiten nahmen an der Veranstaltung teil. Es fanden Gruppendiskussionen, Plakatbefragungen und Impulsvorträge statt, darunter Vorträge von Prof. Dr. Lars Tutt zum psychischen Eigenschutz von VOST-Mitgliedern und von Manuel Atug zum digitalen Eigenschutz. Die Themen umfassten Fragen nach Arbeitsweisen, zu Aspekten der Datengenerierung, -verwendung und -aufbereitung sowie zur Lagebild- und Datenbewertung im psychosozialen Kontext. Das Ergebnis dieser Zusammenarbeit war die Erstellung eines gemeinsamen Nenners der Arbeits- und Vorgehensweisen, der in ein VOST-Methodenhandbuch mündete. Dieses erste VOST-Methodenhandbuch ist frei verfügbar und kann auf der Webseite des Projekts (sosmap.info) heruntergeladen werden.
Psychosoziale Herausforderungen von VOST-Einheiten
Einsatzkräfte sind aufgrund ihrer Einsatztätigkeit und potenziell traumatisierenden Erfahrungen häufig psychosozialen Belastungen ausgesetzt. VOST-Mitglieder stellen eine besondere Art von Einsatzkräften dar, deren spezifische Arbeitsweise und Einsatzumgebung zu einer neuartigen Belastungssituation führt. Die Tätigkeit erfolgt oft allein vor der eigenen IT-Hardware, was verschiedene psychosoziale Belastungsfaktoren mit sich bringen kann. Es gibt keine Person, welche die gleichen Erfahrungen zum gleichen Zeitpunkt durchlebt, da eine Aufteilung des Monitorings nach Quellen oder Plattformen erfolgt. Die physische Distanz zum Einsatzgeschehen und das Fehlen von Kolleg:innen für den direkten Austausch verstärken die Diskrepanz zwischen der Einsatzlage und dem sicheren Ort der eigenen Tätigkeit. Während der Flutkatastrophe 2021 mussten Einsatzkräfte vor Ort schwierige Arbeitsbedingungen bewältigen und konnten Erfolge etwa durch freigepumpte Gebäude und die Dankbarkeit von Betroffenen erfahren. VOST-Mitglieder hingegen sahen die erschwerten Arbeitsbedingungen im Vergleich zu ihrer eigenen Tätigkeit im Trockenen und Warmen, was teilweise zu Schuldgefühlen und zum Eindruck einer verminderten Wertigkeit der eigenen Arbeit führte. Sie erfahren jedoch einen vergleichbaren Druck durch die Dynamik einer KuK, verbunden mit der Sorge, wesentliche Daten zu übersehen.
Digitale Quellen und soziale Medien zeichnen sich durch große Datenmengen, schnelle Datenerzeugung, unterschiedliche Wahrheitsgehalte und viele irrelevante Inhalte aus. VOST-Mitglieder sind einer Vielzahl von Daten ausgesetzt und erkunden diese mit einem Fokus auf negative, potenziell gefährliche Inhalte. Die Arbeit erfolgt unter technischen Abhängigkeiten und begrenzten Handlungsmöglichkeiten, was die psychosoziale Belastung verstärkt. Informationen, Bilder und Videos von erfahrenem Leid können einen Drang zur Hilfeleistung hervorrufen, dem VOST-Mitglieder aufgrund ihrer spezifischen Tätigkeit nur bedingt nachkommen können. So kann ein Eindruck von Ohnmacht und Schuld entstehen. Die ehrenamtliche Tätigkeit in den eigenen vier Wänden führt darüber hinaus zu einer fehlenden Abgrenzung zwischen privatem und tätigkeitsspezifischem Kontext.
Maßnahmen im Umgang mit psychosozialen Herausforderungen von VOST-Einheiten
Um den psychosozialen Herausforderungen zu begegnen, haben sich in den beteiligten deutschen VOST bereits Maßnahmen für deren Verarbeitung etabliert. Eine zentrale Ressource der Bewältigung ist die durchgehende Verknüpfung der Teammitglieder über digitale Austauschplattformen wie Skype. Diese ermöglichen einen kontinuierlichen Austausch und bieten einen sozialen Resonanzraum. Als Schnittstelle zwischen den VOST-Mitgliedern und den relevanten Akteuren (z. B. im Krisenstab) geben Verbinder:innen Rückmeldungen über den Nutzen und den Wert der Einsätze für das Lagebild und das Krisenmanagement. Die Förderung von Teamarbeit und Flexibilität in der Aufgabenverteilung stellt sicher, dass die Arbeitslast gleichmäßig verteilt wird. Die notwendige Hardware wird durch übergeordnete Organisationen bereitgestellt, was die technische Abhängigkeit reduziert und die Effizienz der Teamarbeit erhöht. Darüber hinaus werden softwarebasiert weitere Maßnahmen ergriffen. Die Anwendung von Schutzmechanismen zur Förderung der Anonymität im Netz gewährleistet die persönliche Sicherheit der VOST-Mitglieder. Zur Verarbeitung großer Datenmengen werden Social Listening Tools genutzt, die das Monitoring erleichtern. Um die Herausforderungen der Informationsüberflutung zu bewältigen, werden im Rahmen von Schulungen das Bewusstsein für weitere Quellen und Akteure der Lageerkundung geschärft sowie das psychosoziale Hintergrundwissen und die notwendigen methodisch-fachlichen Kompetenzen vermittelt. Zudem bieten zentrale Fortbildungen und Supervision die Möglichkeit, die Fähigkeiten der Mitglieder kontinuierlich weiterzuentwickeln und sie bei der Bewältigung von Belastungen zu unterstützen. Dabei ist ein wichtiger Aspekt die Psychoedukation, die Wissen über Stressreaktionen und -bewältigungsmechanismen vermittelt, um die eigenen Reaktionen frühzeitig zu erkennen und die psychische Gesundheit zu schützen. Um Arbeitsüberlastung zu vermeiden, werden Schwerpunktaufgaben wie etwa das Monitoring von Telegram regelmäßig rotiert. Pausen- und Arbeitszeitregelungen, die von Gruppenleiter:innen kontrolliert werden, sorgen für eine geregelte Arbeitsstruktur und ausreichende Erholungsphasen. Eine ausreichende Teamstärke stellt sicher, dass die Arbeitslast auf viele Schultern verteilt wird und kein Mitglied überlastet wird.
Zusammenfassung und Ausblick
VOST-Mitglieder erleben Einsätze aufgrund ihrer digitalen Arbeitsweise, der Konfrontation mit potenziell belastendem Material und der begrenzten Handlungsmöglichkeiten anders als traditionelle Einsatzkräfte. Um die damit verbundenen Herausforderungen zu bewältigen und auch präventiv wirksam zu werden, sind besonders Maßnahmen der Psychoedukation von Mitgliedern und deren sozialem Umfeld sowie ein kontinuierlicher Austausch relevant. Tabelle 1 fasst Herausforderungen und potenzielle Bewältigungsmaßnahmen zusammen. Einige deutsche VOST setzen bereits Maßnahmen zum Umgang mit psychosozialen Herausforderungen um, jedoch fehlt bisher ein einheitlicher Standard.
Weitere Symposien und Workshops sollen den Austausch fördern, die Einheiten weiterentwickeln und die Aufbereitung psychosozialer Lagebilder analysieren. Im Rahmen des Projekts #sosmap sind weitere Untersuchungen zur Arbeitsweise deutscher VOST geplant. Zu klären sind vor allem die Übertragbarkeit von Konzepten der PSNV-E gemäß dem Konsensus-Prozess PSNV auf VOST-Einheiten sowie die jeweiligen Zuständigkeiten für Einsatzvorbereitung, -begleitung und -nachsorge. Neben der kontinuierlichen Weiterentwicklung der VOST-Arbeit sind dies Aspekte, die im Fokus zukünftiger Forschung und Entwicklung stehen.
Literatur bei Verfassern.
Crisis Prevention 3/ 2024
Frank Fiedrich, Francesca Müller, Marvin Kubitza, Tim Lukas
Fachgebiet Bevölkerungsschutz,
Katastrophenhilfe und Objektsicherheit
Bergische Universität Wuppertal
E-Mail: fiedrich@uni-wuppertal.de
Samuel Tomczyk
Universität Greifswald
E-Mail: samuel.tomczyk@uni-greifswald.de
Lars Tutt
Hochschule des Bundes für öffentliche Verwaltung
E-Mail: Lars.Tutt@hsbund.de