Jahrestag 7. Oktober: Die Sicherheitslage in Deutschland ein Jahr nach den Anschlägen der HAMAS bleibt herausfordernd
Die Terroranschläge der HAMAS gegen Israel am 7. Oktober 2023 und die darauffolgende Eskalation der Lage in Nahost haben nach wie vor Auswirkungen auf die Sicherheitslage in Deutschland.
Unterschiedliche extremistische Akteure nehmen die Lage im Nahen Osten zum Anlass, zu Hass und Gewalt gegen Jüdinnen und Juden oder den Staat Israel aufzurufen und/oder sein Existenzrecht zu verneinen.
Antisemitismus und Israelfeindlichkeit fungieren dabei zwischen den extremistischen Akteuren als verbindendes Element. Im Islamismus, palästinensischen Extremismus, türkischen Rechtsextremismus, deutschen und türkischen Linksextremismus lässt das gemeinsame Feindbild Israel alte Verbindungen zu Tage treten und bringt neue hervor. Sowohl der IS als auch Al-Qaida verbreiten weiterhin Aufrufe zu Anschlägen in Israel, Europa und „dem Westen“.
Der Präsident des BfV Thomas Haldenwang erklärt hierzu:
„Neue beunruhigende Entwicklungen im Nahen Osten führen unmittelbar zu Reaktionen in Deutschland. Jede Eskalation bedeutet eine Lageverschärfung auch in unserem Land.
Der Jahrestag könnte ein Trigger-Ereignis für weite Teile des Protestspektrums sein. Die aktuelle Lage birgt auch für bislang gemäßigte Akteure große Potenziale für Emotionalisierung, Polarisierung und Radikalisierung.
Ich mahne seit geraumer Zeit vor dem langen Atem des jihadistischen Islamismus, der sich immer weiter ausbreitet. Islamisten haben es verstanden, die aktuelle Nahostkrise zu nutzen, um ihre Propaganda zu revitalisieren und ihre Anhängerschaft zu mobilisieren.
Auch der IS nutzt mit seiner Propaganda die Situation in Gaza, um zu emotionalisieren und vor allem junge Muslime im Westen zu Terroranschlägen zu bewegen. Diese Saat ist aufgegangen und führte unmittelbar zu Anschlagsplanungen oder gar zu Anschlägen, wie zuletzt in Solingen, durch jihadistisch radikalisierte Einzeltäter.
Mit Sorge erfüllt mich, dass vermehrt minderjährige Personen Anschläge im Namen des IS auf deutschem Boden durchführen wollen oder sich zumindest online intensiv mit Attentatsszenarien auseinandersetzen und IS-Propaganda konsumieren.
Der Nahostkonflikt hat auch zu einem Erstarken und Erwachen des Antisemitismus geführt. Israel- und judenfeindliche Narrative bilden die Basis für das antiisraelische und antijüdische Gift, das sich insbesondere durch die sozialen Netzwerke ungehindert einen Weg in die Köpfe vieler Menschen bahnt. Antisemitismus ist ein breiter Pfad in nahezu alle Formen des Extremismus und damit ein wirkmächtiger Gefahrenquell für unsere Demokratie. Die Zahl antisemitischer Straftaten ist nach dem 7. Oktober auf ein Allzeithoch angestiegen.
Das Gefahrenpotenzial möglicher Terroranschläge gegen jüdische und israelische Personen und Einrichtungen sowie gegen „den Westen“ insgesamt hat sich im letzten halben Jahr deutlich erhöht.
Wir müssen den Krisenprofiteuren, die Konflikte herbeiführen, anheizen und propagieren, entschlossen entgegentreten. Die Sicherheitsbehörden haben sich auf die veränderte Lage eingestellt, mit zahlreichen Exekutivmaßnahmen reagiert und dazu beigetragen, dass Organisationen verboten werden konnten. Denn für Deutschland steht das Existenzrecht Israels außer Frage. Allein robuste Sicherheit bietet Schutz vor Terrorismus und Antisemitismus.“
Islamismus und Islamistischer Terrorismus
In Deutschland führt jede neue Eskalation zu deutlichen antiisraelischen und kritischen Reaktionen in der islamistischen Szene. Dabei wird die angebliche Kluft zwischen den Muslimen einerseits und dem durch Israel und die USA „instrumentalisierten deutschen Staat“ andererseits besonders deutlich hervorgehoben.
Um nach dem Angriff der HAMAS weiterhin in der globalen öffentlichen Wahrnehmung zu verbleiben, riefen jihadistische Akteure wie der „Islamische Staat“ (IS) und „al Qaida“ im Kontext des Nahostkonflikts vermehrt zum „Handeln“ bzw. zum „Jihad“ auf und nutzten antisemitische Propaganda, um den Staat Israel und seine Partner als Hauptfeindbild darzustellen.Trotz ideologischer Gegensätzlichkeit des IS und seiner Ableger gegenüber der HAMAS, bilden die Leugnung des Existenzrechts Israels und der Antisemitismus einen gemeinsamen Bezugsrahmen.Sowohl der IS als auch AQ verbreiten weiterhin Aufrufe zu Anschlägen in Israel, Europa und „dem Westen“, sie inszenieren sich dabei als legitime Gruppierung im Kampf für Palästina. Auch in der deutschsprachigen jihadistischen Szene sind solche Aufrufe zu Gewalt zu verzeichnen.
Der Nahostkonflikt führte unmittelbar zu vereinzelten Anschlägen und Anschlagsplanungen durch jihadistisch radikalisierte Einzeltäter, die angaben, durch den Konflikt motiviert worden zu sein, wie in Solingen. Im Nachgang zum 7. Oktober 2023 konnte innerhalb der islamistischen Szene festgestellt werden, dass nicht-palästinensische, sunnitisch-islamistische Gruppierungen, die in der Vergangenheit keine politische Agenda mit dem Nahostkonflikt verbunden hatten, diesen nunmehr deutlich für sich instrumentalisieren. „Hizb Allah“ und HAMAS-nahe Akteure hielten sich indes in der Öffentlichkeit weitestgehend zurück.
Es kann jedoch nach den jüngsten Entwicklungen - auf Grund der enormen Bedeutung Nasrallahs, den massiven Opfern auf Seiten der „Hizb Allah“ durch die Pager-Angriffe sowie der grundsätzlich hohen zivilen Opferzahl im Libanon - nicht ausgeschlossen werden, dass es zu gewalttätigen Aktionen von Einzelpersonen oder Kleinstgruppen aus einem Demonstrationsgeschehen heraus oder separat gegen israelische und jüdische Ziele kommt.Neben antisemitisch motivierten Einzelaktionen besteht ebenfalls eine abstrakte Gefahr für jüdische und israelische Ziele durch operative Einsätze von Proxies des Iran oder der „Hizb Allah“ sowie durch die HAMAS, wie die Waffenfunde Ende 2023 gezeigt haben.
Außerhalb des jihadistischen Spektrums konnte auch bei weiteren nicht-palästinensischen Islamisten festgestellt werden, dass diese den Nahostkonflikt genutzt haben, um antisemitische und antiisraelische Denk- und Argumentationsmuster mit dem „Narrativ der Muslime als Opfer“ zu verbinden, so insbesondere die „Hizb ut-Tahrir“ (HuT)-nahen Gruppierungen „Muslim Interaktiv“ (MI), „Realität Islam“ (RI) und „Generation Islam“ (GI).
Diese grundsätzliche Strategie, religiöse und (gesellschafts-)politische Themen zu verbinden, um eine vermeintliche Unterdrückung der Muslime (in Deutschland) zu betonen und eine generelle Kritik an staatlichem Handeln zu postulieren, wird seit dem Beginn des Nahostkrieges nunmehr auch von anderen islamistischen Gruppierungen genutzt. So treten derzeit religiös-ideologische Unterschiede in den Hintergrund und verschiedene islamistische Gruppierungen instrumentalisieren geeignete politische Themen für die jeweils eigene Agenda und zur gesellschaftlichen Polarisierung.
Antisemitismus im Islamismus
Antisemitismus besitzt in Deutschland ein besonders starkes Emotionalisierungs- und Mobilisierungspotenzial, welches sich vor allem islamistische Akteure zunutze machen.So fanden beispielsweise Demonstrationen von Organisationen aus dem ideologischen Umfeld der verbotenen HuT statt, auf denen das Existenzrecht Israels infrage gestellt wurde. Akteure HuT-naher Bewegungen nutzten die aktuelle Eskalation im Nahen Osten, um für die Errichtung eines islamischen Kalifats zu werben. Insbesondere die Demonstrationen von Generation Islam (3. November 2023 in Essen) und Muslim Interaktiv (27. April und 11. Mai 2024 in Hamburg) mit mehreren Tausend Teilnehmenden zeigen den Mobilisierungserfolg der Organisation.Der quantitative Anstieg antisemitischer Ereignisse zeigt, dass eine Eskalation des Nahostkonflikts auch in Deutschland zu einer erheblichen Emotionalisierung der muslimischen Bevölkerung bis hin zu gewaltsamen Angriffen führen kann.Bei einer weiteren Lageverschärfung ist eine Zunahme an Straftaten, möglicherweise auch gegen jüdische/israelische Einrichtungen, durch Einzelpersonen vor allem aus dem extremistischen palästinensischen Spektrum zu erwarten.
Auslandsbezogener Extremismus
Akteure aus dem auslandsbezogenen Extremismus nutzen die Nahostkrise, um in ihrem Fahrwasser Israelhass und Antisemitismus zu propagieren. Immer wieder kam es bei stark emotionalisierten Veranstaltungen zu derartigen Verlautbarungen.Im türkischen Rechtsextremismus gibt es eine breite Unterstützung für den „Freiheitskampf“ der Palästinenser, wobei der Terrorangriff der HAMAS teilweise offen begrüßt wird.
Judenhass und rassistische Minderwertigkeitszuschreibungen gegen Jüdinnen und Juden sind ein immanenter Bestandteil der türkisch-rechtsextremistischen „Ülkücü“-Ideologie.Während sich die Dachverbände der organisierten „Ülkücü“-Szene weitgehend mit öffentlichen Äußerungen zurückhalten, verbreiten nicht verbandlich organisierte türkische Rechtsextremisten Hass und Hetze im Internet und beteiligen sich teilweise auch an Protesten und Demonstrationen.Aus dem Bereich des türkischen Rechtsextremismus beteiligen sich hauptsächlich Akteure aus der unorganisierten „Ülkücü“-Szene am Protestgeschehen und der Agitation in den sozialen Medien.
Das Verbot des extremistischen propalästinensischen Netzwerks „Samidoun“ durch das Bundesministerium des Innern und für Heimat hat bis heute Wirkung gezeigt. Es ist öffentlich seitdem als solches nicht mehr in Erscheinung getreten, seine Fahnen sind bei Veranstaltungen verschwunden und die Social-Media-Kanäle sind in Deutschland gesperrt respektive nicht mehr abrufbar. Einzelne Protagonisten nehmen aber nach wie vor an Versammlungen teil, allerdings nicht mehr im Namen von „Samidoun“.
Propalästinensische Versammlungen und Straftaten
Nach dem 7. Oktober 2023 fanden eine Vielzahl an Demonstrationen mit Bezug zum Nahost-Konflikt in ganz Deutschland statt. Zudem konnte ein hohes Aufkommen an Antisemitismus, Israelhass, Propaganda und Mobilisierung in den sozialen Medien sowie diverse Straftaten festgestellt werden. Der Schwerpunkt der propalästinensischen bzw. israelfeindlichen Versammlungen und Straftaten liegt wie seit Beginn der Lage in Berlin. Zuletzt war bei Einzelpersonen eine zunehmende Gewaltbefürwortung und Gewaltbereitschaft feststellbar. Auch wenn Extremisten unter den Protestierenden die Minderheit bilden, nehmen sie bei der Mobilisierung, Organisation und Durchführung der Veranstaltungen oftmals eine wesentliche Rolle ein und prägen durch ihre Fahnen, Reden und Propaganda das Bild einiger Versammlungen, was maßgeblich zu Emotionalisierung und Radikalisierung beitragen kann.
Die Teilnehmenden propalästinensischer Veranstaltungen sind in der Regel stark emotionalisiert. Neben antisemitischen Äußerungen kommt es auch zu Auseinandersetzungen mit der Polizei sowie Straftaten.Zu den relevanten extremistischen Akteuren aus dem Bereich des auslandsbezogenen Extremismus gehören säkulare palästinensische Einzelpersonen sowie Personen aus dem Umfeld der „Volksfront für die Befreiung Palästinas“ (PFLP) und des am 2. November 2023 vom Bundesministerium des Innern und für Heimat verbotenen Netzwerks „Samidoun“. Zwischen propalästinensischen Extremisten sowie türkischen und deutschen Linksextremisten zeigen sich teils enge Vernetzungen.
Seit Mai 2024 haben bundesweit vermehrt propalästinensische und teilweise israelfeindliche Protestaktionen an deutschen Universitäten stattgefunden, die auch von extremistischen Akteuren beworben worden waren - insbesondere von säkularen propalästinensischen Extremisten sowie türkischen und deutschen Linksextremisten. Der überwiegende Teil der Teilnehmenden war nicht extremistisch. Eine bundesweite Steuerung oder überwiegende Durchsetzung der Proteste durch Extremisten konnte bislang nicht festgestellt werden. Vielmehr agieren sie auch hier als Scharfmacher und erreichen so Studierende und andere Personen über die eigene Anhängerschaft hinaus.
Auch der Jahrestag am 7. Oktober 2024 ist geeignet, weite Teile des Protestspektrums zu emotionalisieren und auf die Straße zu treiben, wobei der Schwerpunkt erneut in Berlin liegen dürfte.
Linksextremismus
Auch deutsche und türkische Linksextremisten agitieren propalästinensisch. Die Grundlage hierfür ist in den überwiegenden Fällen eine Ablehnung des Staates Israel auf Grundlage des antiimperialistischen Weltbilds der jeweiligen Akteure.Die linksextremistische Szene ist hinsichtlich des Nahost-Konflikts gespalten. Autonome Linksextremisten vertreten in der Mehrheit pro-israelische Ansichten, Linksextremisten aus der antiimperialistisch eingestellten und dogmatischen Szene agitieren propalästinensisch.
Relevante Akteure aus dem türkischen Linksextremismus sind die „Revolutionäre Volksbefreiungspartei-Front“ (DHKP-C) und ihre Umfeldorganisationen und „Young Struggle“ (YS), die Jugendorganisation der „Marxistischen Leninistischen Kommunistischen Partei“ (MLKP).
Rechtsextremismus
Recht bald instrumentalisierten Rechtsextremisten (darunter auch einige Vertreter des Verdachtsfalls AfD) die Eskalation in Nahost für die Propagierung von migrationsfeindlichen Positionen. In diesem Sinne warnte eine Vielzahl von ihnen vor einem Import des Konfliktes nach Deutschland durch schrankenlose Zuwanderung, vor allem von Migranten aus dem arabischen Raum.Aus dem rechtsextremistischen Spektrum, dem der „Reichsbürger“ und „Selbstverwalter“ und dem Delegitimierungsspektrum wurden dabei teilweise antisemitisch konnotierte Verschwörungstheorien verbreitet.
Seit geraumer Zeit nimmt der Nahostkonflikt in der rechtsextremistischen Agitation keine hervorgehobene Stellung mehr ein. Akteure der rechtsextremistischen Szene äußern sich überwiegend nur noch zu den mittelbar mit dem Konflikt in Verbindung stehenden Themen Asyl und Migration; diese basieren jedoch nur noch selten auf einem konkreten Zusammenhang mit den Ereignissen in Israel und Gaza.
Rechtsextremistisch motivierte Straf- und Gewalttaten mit antisemitischer Motivation bewegen sich bereits seit vielen Jahren auf einem hohen Niveau. Die Bedrohungs- bzw. Gefährdungslage in Bezug auf antisemitische motivierte Anschläge oder Gewalttaten von Rechtsextremisten ist grundsätzlich entsprechend hoch einzuschätzen.
Bundesamt für Verfassungsschutz
Merianstraße 100
50765 Köln
+49 (0) 228-99/792-3838
+49 (0) 30-18/792-3838
pressestelle@bfv.bund.de
www.verfassungsschutz.de