Schutz öffentlicher Räume vor Überfahrtaten

Detlev Schürmann, Christian Weicht

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Mit dem Artikel „Bundesinnenministerium fördert DIN-Standard für mobile Fahrzeugsperren“ in Ausgabe 3/2021 berichteten wir erstmals im Fachmagazin „Crisis Prevention“ zu diesem Thema. Auf den Rückblick bis ins Jahr 2015 folgte eine Beschreibung des Projekts „Entwicklung integrierter stadtbildverträglicher Sicherheitskonzepte mit dem Schwerpunkt regelkonformer Zufahrtsschutz“. In diesem Kontext förderte das Bundesministerium des Innern für Bau und Heimat (BMI) die Erarbeitung zweier Standards: DIN SPEC 91414. Teil 1 „Anforderungen, Prüfmethoden und Leistungskriterien für mobile Fahrzeugsicherheitsbarrieren“ sowie DIN SPEC 91414-2 „Anforderungen an die Planung für den Zufahrtsschutz zur Verwendung von geprüften Fahrzeugsicherheitsbarrieren“. Während Teil 1 bereits im Frühjahr 2021 veröffentlicht, wurde, ist Teil 2 aktuell in der Erarbeitung. Eine Veröffentlichung ist für den Spätsommer 2022 geplant.

Mit Wegfall der meisten Pandemiebeschränkungen und dem Einsetzen des Frühlings mit zunehmenden Temperaturen drängt es die Menschen wieder ins Freie; in die Normalität. Der unbeschwerte Aufenthalt im öffentlichen Raum und der Besuch von Veranstaltungen waren zwei Jahre nicht möglich. Doch mit den zunehmenden Aktivitäten und Angeboten wächst auch wieder die potenzielle Gefahr von Aggressionen bis hin zu Attentaten und Überfahrtaten.

So endete am 20. März 2022 eine Karnevalsveranstaltung in der südbelgischen Ortschaft Strepy-Bracquegnies in einer (vermutlich unfallbedingten) Katastrophe. Am frühen Sonntagmorgen war ein Auto in eine Gruppe Karnevalisten gerast. Dabei wurden mindestens sechs Menschen getötet und 37 weitere verletzt.

Um Überfahrtaten zukünftig weitgehend zu verhindern bzw. in ihrem Schadensausmaß möglichst geringhalten, müssen die bisher begangenen Tatgeschehen genauer betrachten werden. Die Erkenntnisse dieser Auswertung bieten die Grundlage, gefährdete Orte und Veranstaltungen zu identifizieren und entsprechende Präventionsmaßnahmen zu entwickeln.

https://www.wn.de/muenster/eine-stadt-ringt-um-fassung-1340771?pid=true (Abruf:...
https://www.wn.de/muenster/eine-stadt-ringt-um-fassung-1340771?pid=true (Abruf: 10-04-2018)

Phänomenologie von Überfahrtaten

Erscheinungsformen – Tatbegehungsweisen – Tatmittel

Die häufigste vorkommende Form der Kollision eines Fahrzeugs mit zu Fuß Gehenden wird in den Unfallstatistiken als „Abkommen von der Fahrbahn mit verletzten oder getöteten zu Fuß Gehenden“ erfasst. Grund für ein solches Unfallgeschehen ist sehr häufig eine nicht angepasste Geschwindigkeit (Autorennen), Desorientierung, ein sonstiger medizinischer Notfall oder Sub­stanzmittelmissbrauch. Grundsätzlich handelt es sich meistens um fahrlässig verursachte Szenarien. Teilnehmer illegaler Autorennen wurden allerdings bereits als Mörder verurteilt, da sie den Tod anderer Menschen „billigend in Kauf nahmen, also mit bedingtem Tötungsvorsatz handelten“.

Amokfahrt

Eine Überfahrtat in Form einer sog. Amokfahrt, ist „ein beabsichtigter Angriff mithilfe eines Fahrzeuges als Tatwaffe, bei dem die Tötung oder Verletzung mehrerer zufällig oder gezielt ausgewählter Personen beabsichtigt oder vollendet wird.“ Amokfahrten entstanden mehrfach spontan und/oder aus einem kurz zuvor stattgefundenen Ereignis heraus. Die Gründe können dabei vielfältig sein; erfolgen aber oft aus niedrigen Beweggründen, z. B. aus Rache gegenüber einem Türsteher, der den Einlass verwehrte. Meist versucht die tatausführende Person nach der Tat zu fliehen. Interventionskräfte haben eine abschreckende Wirkung.

Amoktat

Wird dagegen eine geplante Überfahrtat als Amoktat begangen, richtet sich die Gewalt gegen möglichst viele Opfer und endet oft erst mit dem Tod des Täters. Während der Tatausführung wird die Wahrscheinlichkeit, beim Tatablauf durch die Beschädigungen des Tatfahrzeugs oder durch das Eingreifen von Interventionskräften vom Täter weitgehend verdrängt bzw. ignoriert, da eine hohe Opferzahl angestrebt wird. Als Abschluss der Amoktat versucht der Täter häufig, von den Interventionskräften getötet zu werden oder den Suizid mittels einer Waffe durchzuführen. Amoktäter, die Überfahrtaten aus nichtterroristischen Gründen begehen, setzten mitgeführte Waffen mehrfach gegen sich selbst und Interventionskräften ein.

Terroristischer Angriff

Ein terroristischer Angriff unterscheidet sich zur Amoktat hauptsächlich durch das verfolgte Ziel. Dabei geht es darum, die hohe Öffentlichkeitswirkung zur Unterstützung eines politischen Ziels zu nutzen. Daher kommt bei derartigen Taten der Auswahl von Tatort und Veranstaltung aus Tätersicht eine entscheidende Bedeutung zu. Auch eine möglichst hohe Anzahl von Opfern spielt eine ausschlaggebende Rolle. Der Überfahrtat geht daher eine präzise Tatvorbereitung voraus, die sich speziell auf die Auswahl des Tatortes und der Veranstaltung bezieht. Zusätzlich wird häufig eine Phase nach der Überfahrtat geplant, die weitere Opfer vorsieht. Untrainierten Terroristen gelingt es im Stress der Tat nicht, die geplante Anschlusstat voll auszuführen. Auch vermeiden sie den Kontakt zu Interventionskräften. Dagegen gehen paramilitärisch ausgebildete Terroristen auch in der Nachtatphase gezielt gegen Interventionskräfte vor.

Tatvarianten

Bis auf den Anschlag am Breitscheidplatz erfolgten Überfahrtaten in der Form, dass langsam in den Schutzbereich eingefahren und erst im Schutzbereich beschleunigt wurde. Alle Überfahrtaten verfolgen das Ziel, dass der Anschlag als Überraschungsangriff für die Opfer plötzlich und unerwartet erfolgt, so dass eine Flucht nicht mehr möglich ist.

Auswahl von Tatfahrzeugen

Die Auswertung der Tatgeschehen haben einen engen Bezug zur Kriminalitätstheorie „Rational Choice“ und zeigen, dass eine tatausführende Person häufig den für sie erkennbar geringsten Aufwand wählt (Erlangung des Tatmittels, hier: Tatfahrzeug), um ihr Ziel zu erreichen (öffentlichkeitswirksam eine möglichst hohe Opferzahl zu verursachen). Dieses zeigt sich bei der Auswahl eines Tatfahrzeuges. So stehen kleinere Fahrzeuge, wie beispielsweise von Lieferdiensten (gelegentlich sogar mit laufendem Motor), eher zu Verfügung. Größere Fahrzeuge, wie zum Beispiel Sattelzugmaschinen mit Auflieger, können dagegen nur mit erheblichem Aufwand in der Tatvorbereitungsphase beschafft werden. Je länger die Tatvorbereitung dauert, je höher ist das Entdeckungsrisiko.

Zusammenfassung:

Erscheinungsformen, Tatbegehungsweisen und Tatmittel sind bereits drei Kategorien, aus denen sich Erkenntnisse zur Er­­arbeitung für Präventionsmaßnahmen gewinnen lassen. Im Rahmen der Auswertung sollten zudem die äußeren Umstände, die Auslöser/Anlass für Überfahrtaten waren, die Tatörtlichkeiten sowie deren Umfeld mit einbezogen werden.

Bei den Anlässen wird schnell deutlich, dass Menschenansammlungen, ob bei Veranstaltungen im Freien, Einkaufs-/Freizeit­aktivitäten in Fußgängerzonen oder bei Volksfesten vorrangig Ziele von Überfahrtaten waren. Aber auch Umzüge oder Personenansammlungen an Haltestellen des öffentlichen Personenverkehrs wurden von den Tätern ausgewählt.

Die Tatörtlichkeiten boten Raum und begünstigten damit die vorgenannten Menschenansammlungen. Sie waren in der Regel auch mit größeren Fahrzeugen zu erreichen. Dieses war entweder mit hoher Geschwindigkeit bei gut ausgebauten geradlinigen Anfahrtsstrecken möglich, oder nach dem Einfahren in den Veranstaltungs-/verkehrsberuhigten Bereich wurde die Geschwindigkeit erhöht. Beide Tatvarianten verfolgen das Ziel, dass der Anschlag als Überraschungsangriff für die Opfer so plötzlich und unerwartet erfolgt, dass eine Flucht nicht mehr möglich ist.

Ähnliche kriminologische Überlegungen waren auch Gegenstand bei der Erarbeitung der nachfolgend beschriebenen Handreichung „Schutz vor Überfahrtaten“.

Polizeiliche Kriminalprävention
Polizeiliche Kriminalprävention

Handreichung „Schutz vor Überfahrtaten“ – Leitfaden mit Checkliste für Kommunalverantwortliche

Auf Beschluss der Kommission Polizeiliche Kriminalprävention (KPK) wurde zur Umsetzung des Jahresthemas 2021 Sicherheit im öffentlichen Raum / Sichere Kommunen die bestehende KPK Projektgruppe (KPK-PG) Städtebau und Einbruchschutz unter Federführung Hamburgs mit den Mitgliedern Baden-Württemberg, Berlin, Hessen, Niedersachsen, Sachsen und der Zentralen Geschäftsstelle (ZGS) sowie der Stiftung Deutsches Forum für Kriminal­prävention (DFK) mit der Umsetzung des Themas beauftragt.

Als einen Teilaspekt des Themas Sicherheit im öffentlichen Raum / Sichere Kommunen identifizierte die Projektgruppe das Thema Zufahrtsschutz. Sie erarbeitete daher den Leitfaden „Schutz vor Überfahrtaten“ für Verantwortliche von Kommunen für die Erforderlichkeit von Schutzkonzepten, um sogenannte Überfahrtaten zu verhindern. Darüber hinaus entwickelte die Projektgruppe ein Gefährdungsbewertungsraster als Grundlage für die Bewertung der Erforderlichkeit eines Schutzkonzeptes, das in die Entscheidungshilfe integriert wurde. Ebenfalls integriert wurde die von Mitautor Weicht erarbeitete Checkliste Zufahrtsschutz. Die Entscheidungshilfe „Schutz vor Überfahrtaten“ Ein Leitfaden mit Checkliste für Kommunalverantwortliche“ erschien im September 2021.

Die Handreichung „Schutz vor Überfahrtaten“ richtet sich vornehmlich an Kommunalverantwortliche und soll als Leitfaden für die eigenverantwortliche Entwicklung von Strategien gegen sogenannte Überfahrtaten mittels mehrspuriger Fahrzeuge dienen. Sie erläutert die Rollen und Zuständigkeiten verantwortlicher Akteure, beschreibt in sechs konkreten Handlungsschritten die Erarbeitung eines Zufahrtsschutzkonzeptes und zeigt mit einem Gefährdungsbewertungsraster den Weg zur systematisierten Gefährdungsanalyse auf. Empfohlen wird, die Gesamtstrategie einschließlich der Auswahl der Produkte gemeinsam mit allen Prozessbeteiligten möglichst einvernehmlich abzustimmen. Die Polizei unterstützt diesen Planungs- und Umsetzungsprozess beratend mit ihrem Fachwissen.

An der Erarbeitung der Handreichung wirkten die Autoren Schürmann und Weicht mit. Unter dem nachfolgenden Link können sowohl die „Handreichung“ als auch die „Checkliste Zufahrtsschutz“ sowie das „Gefährdungsbewertungsraster“ herunterladen und ausgedruckt oder am Bildschirm ausgefüllt werden.

https://www.polizei-beratung.de/themen-und-tipps/staedtebau/schutz-vor-ueberfahrtaten/ 

Eine Übersicht finden Sie auf der Seite:
https://www.b-tu.de/kriminalpraevention 

Produktliste Fahrzeugsicherheitsbarrieren für Kommunen und die Polizei

Als weiterer Baustein wurde vom Mitautor Weicht eine Produktliste von mobilen und stationären Fahrzeugsicherheitsbarrieren zusammengestellt. Um eine neutrale Qualitätsgrundlage zu schaffen, werden in dieser Liste nur Produkte genannt, die eine Prüfung nach international anerkannten Testverfahren bestanden haben.

Diese Verfahren sind

  • DIN SPEC 91414-1
  • Technische Richtlinie der Polizei „mobile Fahrzeugsperren“
  • ISO IWA 14-1
  • BS PAS 68
  • ASTM F2656/F2656Mzz

Diese Aufzählung schließt eine Empfehlung von Produkten nicht aus, die nach anderen, aber vergleichbaren festgesetzten Verfahren getestet wurden. Dabei wird vorausgesetzt, dass diese Produkte auch vergleichbare Schutzmöglichkeiten bieten. Mit dieser Produktliste sollen verantwortliche entscheidungstragende Personen unterstützt werden, eine effektive Produktauswahl von Zufahrtsschutzprodukten für identifizierte Gefahren zu treffen. Herausgeber ist die Polizeiliche Kriminalprävention der Länder und des Bundes. Die Liste ist nicht öffentlich zugänglich und nur den (Kriminal-) Polizeilichen Beratungsstellen und Kommunen auf Anfrage vorbehalten.

Sicherheitspaket „Zufahrtsschutz“ für Kommunen

Den Genehmigungsbehörden und Veranstaltern, die in der ­Verantwortung stehen, öffentliche Räume vor Angriffen mit Fahrzeugen schützen, kann zum Spätsommer 2022 ein Sicherheitspaket angeboten werden, das aus insgesamt vier Teilen besteht, die ineinandergreifen und sich ergänzen:

  • DIN SPEC 91414-1 Mobile Fahrzeugsicherheitsbarrieren für Sicherheitsanforderungen – Anforderungen, Prüfmethoden und Leistungskriterien
  • DIN SPEC 91414-2 Anforderungen an die Planung für den Zufahrtsschutz zur Verwendung von geprüften Fahrzeug­sicherheitsbarrieren
  • Handreichung „Schutz vor Überfahrtaten“ – Leitfaden mit Checkliste für Kommunalverantwortliche
  • Produktliste mobile und stationäre Fahrzeugsicherheits­barrieren

Für weitergehende Informationen wurden zwei zentrale Ansprechstellen eingerichtet:

Damit konnten zugleich in weiten Teilen die Arbeitsaufträge der im August 2018 auf Beschluss der Ständigen Konferenz der Innenminister und -senatoren der Länder (IMK) eingerichteten Bund-Länder-Arbeitsgruppe (BLAG) zum Schutz öffentlicher Räume vor Überfahrtaten abgearbeitet werden. Seinerzeit erging der Auftrag, unter Einbindung der Bauministerkonferenz, Verkehrsministerkonferenz und unter Einbeziehung der kommunalen Spitzenverbände, Leitlinien, Handlungsoptionen und Empfehlungen zum Erreichen hoher gemeinsamer Standards und einer effektiven Erhöhung der öffentlichen Sicherheit zu erarbeiten. In der konstituierenden Sitzung der BLAG im Oktober 2018 in Kiel hatte man als mögliches Arbeitsprogramm folgende Inhalte gesehen:

  • Erarbeitung eines Thesenpapiers zur weiteren Behandlung des Themas
  • Entwicklung einer Checkliste für die Kommunen
  • Einrichtung einer Informationsplattform im Internet
  • Prüfung der Möglichkeit der Veröffentlichung einer Liste von städtebaulich umgesetzten Lösungen in Zusammenarbeit mit dem Städtetag

Um das Sicherheitspaket bundesweit vorzustellen und bekannt zu machen, planen derzeit die BTU in Kooperation mit der Polizeilichen Kriminalprävention und dem Deutschen Städte- und Gemeindebund (DStGB) sowie dem Bundesverband für den Schutz Kritischer Infrastrukturen e. V. (BSKI) an Veranstaltungen und Kongressen teilzunehmen. Über die Termine werden Sie über https://­crisis-prevention.de/veranstaltungen/ sowie die Internetseiten der Kooperationspartner informiert.

Literatur bei Verfassern.


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