Innerhalb der letzten 10 Jahre sind alarmierende Transformationen von Gewalt in den Gesellschaften Europas identifizierbar geworden. In Deutschland gehört dazu insbesondere auch das von unterschiedlichen Gruppen ausgehende Gewaltpotenzial gegen PolizeibeamtInnen – aber auch gegen Einsatzkräfte der Rettungsdienste und der Feuerwehr sowie MitarbeiterInnen der Justiz und verschiedener Behörden. Schulungsprogramme der von den vielfältigen Formen von gewaltsamen Angriffen betroffenen Personenkreise zum professionellen Umgang mit den damit verbundenen Gefahren sind das Thema dieses Artikels. Die Bewältigung extremer Stresssituationen, die damit in einem engen Zusammenhang stehende Befähigung zur Deeskalation der Gewalthandlungen und der Schutz der eigenen Gesundheit sind Schlüsselaspekte erfolgversprechender Schulungsprogramme. Im Fokus stehen zunächst Trainingsprogramme für PolizeibeamtInnen. Sie bilden die Basis für anschließende Modifikationen der Ausbildungsprogramme für Zielgruppen in anderen Behörden und Organisationen mit Sicherheitsaufgaben.
Einleitung – Aktuelle Lage
Im beruflichen Alltag der Polizeiarbeit und insbesondere in Polizeieinsätzen, in denen es auf das strategische Handeln aller beteiligten PolizeibeamtInnen ankommt, bergen durch Stress hervorgerufene unüberlegte Verhaltensreaktionen unkalkulierbare Gefahren für die Einsatzkräfte und die in die Lage involvierten BürgerInnen. Der professionelle Umgang mit extremen Stresssituationen ist daher ein Schlüsselaspekt der erfolgreichen Arbeit von Führungs- und Einsatzkräften der Polizei und hat eine hohe sicherheitspolitische Relevanz. Darüber hinaus hat das Thema eine erhebliche gesundheitsökonomische Bedeutung, da stressbedingte Belastungsreaktionen nicht selten zur Berufsunfähigkeit von Einsatzkräften der Polizei führen können. Die Dringlichkeit der Entwicklung, Evaluation und Etablierung innovativer multimodaler Trainingsprogramme für PolizeibeamtInnen und darüber hinaus für MitarbeiterInnen weiterer Behörden und Organisationen mit Sicherheitsaufgaben zur Optimierung der professionellen Bewältigung der neuartigen Formen gewaltsamer Angriffe liegt vor diesem Hintergrund auf der Hand.
Lageberichte des Bundeskriminalamts
Das Bundeskriminalamt (BKA) veröffentlicht jährlich Lagebilder mit verschiedenen Kriminalitätsstatistiken für Deutschland. Dazu gehört auch das Lagebild des BKA „Gewalt gegen Polizeivollzugsbeamtinnen und Polizeivollzugsbeamte“. 2021 zeigt dieses Lagebild einen alarmierenden Anstieg von Gewalthandlungen gegen Einsatzkräfte seit 2012. Die Abbildung auf Seite 12 illustriert den Längsschnittverlauf von 2012-2021.
Polizeiliche Maßnahmen
Um Einsatzkräfte auf die vielfältigen gewaltsamen Angriffe professionell vorzubereiten, sind Maßnahmen auf mehreren Ebenen erforderlich. Einige wurden bereits auch von der Polizei umgesetzt. Dazu gehören die Verbesserung der Schutzausstattung der Einsatzkräfte und die Optimierung einer vielfältigen Ausrüstung mit Einsatzmitteln zur Durchsetzung der staatlichen Gewalt als Grundlagen für eine professionelle und verhältnismäßige Bewältigung der durch Gewalttaten geprägten Einsatzsituationen. Parallel wird das Erfordernis betont, die gesellschaftspolitische Auseinandersetzung mit der zunehmenden Gewaltbereitschaft in der Bevölkerung gegenüber Einsatzkräften der Polizei zu intensivieren.
Auf der Ebene der Polizeiausbildung und-fortbildung stehen konkret das Training in Kampfsportarten, der Umgang mit neuesten Waffensystemen sowie die Weiterentwicklung von Einsatztaktiken an der ersten Stelle der Notwendigkeiten, um der Gewaltbereitschaft gegen Einsatzkräfte der Polizei effizient und deeskalierend entgegenzuwirken. Im Hinblick auf die erfolgreiche Umsetzung von Einsatztaktiken sind nicht nur das Beherrschen von Kampfsportarten und vielfältigen Waffen erforderlich. Vielmehr kommen hier auch kognitionswissenschaftliche Aspekte ins Spiel. Dazu gehören insbesondere ein effizientes Management extremer Stresssituationen, die kognitive und emotionale Perspektivübernahme sowohl von Angreifern als auch von Kollegen und das flexible Anpassen von Einsatzplänen durch sekundenschnelle situationsbedingte Modifikationen. Um die kognitive Leistungsfähigkeit von Führungs- und Einsatzkräften unter extremer Stressbelastung auf einem hohen Niveau zu erhalten, ist deren Befähigung zu einem professionellen und effizienten Stressmanagement unabdingbar.
Seit 2006 findet das vom Bundesinnenministerium anerkannte und unterstützte Internationale Polizei Bundesseminar für Polizei, Justiz und Bundeswehr als dienstliche Fortbildungsveranstaltung für TrainerInnen in Uelzen statt. Das von der Polizei AG des Deutschen Ju-Jutsu Verbands e.V. (DJJV) organisierte Bundesseminar integriert die vielfältigen Ebenen der Aus- und Fortbildung für Polizei, Justiz und Bundeswehr, die für eine professionelle Entgegnung der neuen Formen der Gewalt gegen Einsatzkräfte erforderlich sind. Nach zwei Jahren pandemiebedingter Pause konnte vom 19.-21.08.2022 das Polizei Bundesseminar bei der Bundesbereitschaftspolizei in Uelzen unter der Schirmherrschaft von Herrn Uwe Sieber, Präsident der Direktion Bundesbereitschaftspolizei, und unter der sportlichen Leitung von Herrn Jörg Schmidt, Referent für Polizei und Behörden beim DJJV, stattfinden.
Inhalte der Trainingseinheiten und Schulungen waren u. a. Verteidigung in der Nahdistanz, Maßnahmen bei Angriffen mit Klingen- und Stumpfwaffen, Einsätze bei schlechten Sichtverhältnissen in einer Bunkeranlage, Häuserkampf-Szenarien in der Virtuellen Realität, taktische und praktische Notfallhilfe, Stressmanagement und Resilienz, Selbst- und Kameradenhilfe, Taktik der Fahrzeugkontrolle sowie das Erkennen und der Umgang mit Sprengfallen. Das Bundesseminar ist mit seinem multidimensionalen Ansatz eine einzigartige Fortbildungsveranstaltung für Polizei, Justiz und Bundeswehr - und es ist eine professionelle Antwort auf die zunehmende Gewaltbereitschaft gegen Einsatzkräfte in der Bevölkerung.
Stress und Kognition
Neben den praktischen Trainingseinheiten wurde bei dem Polizei Bundesseminar auch die Relevanz eines professionellen Stressmanagements thematisiert und intensiv diskutiert. Es ist bekannt, dass Stress kognitive Leistungen beeinflusst. Im Falle von kurzen akuten Stressoren, die von dem betroffenen Individuum bewältigt werden, kann Stress durchaus kognitive Leistungen verbessern (z.B. Glienke und Piefke, 2016). Im Falle extremer Stressoren, die nicht bewältigt werden können, oder beim Auftreten von chronischem Stress, kommt es schnell zu erheblichen Einbußen kognitiver Leistungen (z.B. Glienke et al., 2017). Umgekehrt ist auch bekannt, dass kognitive Prozesse den Einfluss von Stress auf das Verhalten moderieren und negative Effekte extremer Stressoren minimieren oder ganz vermeiden können (z.B. Gilbertson et al., 2006). Dieser Zusammenhang bildet die Grundlage für die Trainierbarkeit eines erfolgreichen Stressmanagements. Die Unterscheidung zwischen dem Stressor, seiner Bewertung (Einschätzung der Situation durch das Individuum im Hinblick auf Gefahr und Handlungsmöglichkeiten) und der Stressreaktion (tatsächliche Handlungen sowie physiologische und mentale emotionale Stressreaktionen des Individuums) ist von zentraler Wichtigkeit. Zwischen dem Auftreten des Stressors und der Stressreaktion liegen individuelle primäre und sekundäre Bewertungsprozesse. Bei der primären Bewertung geht es um die spontane Einschätzung des Individuums, ob ein Stressor eine Bedrohung oder eine Herausforderung darstellt und ob durch ihn bereits ein Schaden entstanden ist. Bei der sekundären Bewertung geht es um die Einschätzung eigener Möglichkeiten zur Bewältigung des Stressors. Ist das Ergebnis der sekundären Bewertung, dass das Individuum sich nicht in der Lage zur Bewältigung des Stressors sieht, können Panikreaktionen und Verhaltensweisen auftreten, die zur Eskalation der Situation führen. Dies ist im privaten und beruflichen Alltag jedes Menschen eher kontraproduktiv. Im Polizeieinsatz, in dem es auf das überlegte Handeln aller beteiligten Einsatzkräfte ankommt, bergen solche Verhaltensreaktionen jedoch unkalkulierbare Gefahren für die Einsatzkräfte selbst und die in die Lage involvierten Zivilisten.
Multimodales Stresstraining
In diesem Artikel kann ein Konzept für ein multimodales Stresstraining für PolizeibeamtInnen nur kurz umrissen werden. Eine ausführliche Beschreibung des Konzepts findet sich in der 2022 erschienenen Neuauflage des Handbuchs Polizeimanagement in dem Kapitel von Piefke (2022). Das Konzept baut auf dem Ansatz von Kaluza (2018) auf und erweitert ihn um neuropsychologische Elemente. Der multimodale Ansatz umfasst
- instrumentelle, regenerative und kognitive Dimensionen des Stressmanagements
- neuropsychologische Trainingsinterventionen, durch die individuelle kognitive Stärken für die Stressbewältigung optimiert werden können.
Zum instrumentellen Stressmanagement gehören das Setzen von Prioritäten und von Grenzen sowie eine strukturierte Zeitplanung. Strategien des kognitiven Stressmanagements sind u.a. die Realitätstestung und Konkretisierung, die Orientierung auf eigene Stärken und Erfolge sowie auf positive Konsequenzen, die Entkatastrophisierung, Relativierung und die Distanzierung im Sinne einer realistischen Betrachtung. Das regenerative Stressmanagement beinhaltet das Abreagieren und Entspannen durch körperliche Aktivität und durch Freizeitaktivitäten. In neuropsychologischen Trainingsinterventionen werden kognitive Basisfunktionen wie das Planen, die Interferenzkontrolle, Aufmerksamkeitsleistungen, das Arbeitsgedächtnis und die soziale Kognition (z.B. Interpretation der Mimik und Körperhaltung von Angreifern, Übernahme der Perspektive anderer Personen) optimiert zur Unterstützung und Erweiterung des kognitiven Stressmanagements. Einen systematischen Überblick über das multimodale Trainingskonzept gibt die Abbildung auf Seite 13.
Dieser präventive Ansatz kann PolizistInnen zum einen das Handwerkszeug für den Aufbau einer stabilen Stressresilienz verfügbar machen. Zum anderen vermittelt er ihnen kognitive Handlungsstrategien für die optimale Umsetzung einer Einsatztaktik unter extremen Stressbedingungen. Das multimodale Stresstraining unterstützt und stabilisiert daher den professionellen Umgang mit extremen Stresssituationen in der Polizeiarbeit.
Schlussbemerkungen
Das Internationale Polizei Bundesseminar für Polizei, Justiz und Bundeswehr, das jährlich bei der Bundesbereitschaftspolizei in Uelzen stattfindet, macht mit seiner Integration aus praktischen Trainingseinheiten zum Nahkampf, Einsatz von Waffen, zur Festnahme und Eigensicherung, zu Kampfsporttechniken und kognitiven Strategien der Einsatztaktik und des Stressmanagements professionelle Werkezuge zur erfolgreichen Begegnung der zunehmenden Gewaltbereitschaft in der Bevölkerung gegen Einsatzkräfte der Polizei verfügbar. Die im Kontext der Polizeiarbeit entwickelten Trainingsprogramme können zumindest teilweise eine Basis bilden für anschließende Modifikationen der Ausbildungskonzepte für Einsatzkräfte und Mitarbeiter anderer Behörden und Organisationen mit Sicherheitsaufgaben, die seit einigen Jahren verstärkt Ziele gewaltsamer Angriffe aus verschiedenen Bevölkerungsgruppen sind. Hierzu gehören insbesondere Einsatzkräfte der Feuerwehr und des Rettungsdienstes sowie MitarbeiterInnen des Ordnungsamts und anderer Dezernate mit Aufgaben in sozialen Brennpunkten. Zumindest das Training kognitiver Strategien für den Umgang mit gewaltsamen Angriffen während des Einsatzes sowie das Erlernen eines professionellen Stressmanagements können für diese Zielgruppen angepasst werden. Dabei gilt es jedoch zu berücksichtigen, dass sie keine Polizeiausbildung besitzen und daher mit anderen Mitteln der Gewalt gegenübertreten müssen als Einsatzkräfte der Polizei.
Crisis Prevention 1/2023
Univ.-Prof. Dr. rer. nat. Martina Piefke
Inhaberin des Lehrstuhls für Neurobiologie und Genetik des Verhaltens Fakultät für Gesundheit, Department für Psychologie und Psychotherapie, Private Universität Witten/Herdecke
E-Mail: martina.piefke@uni-wh.de