Die Fußball-Europameisterschaft 2024 hat die Stadien gefüllt und Hunderttausende Fans in die Innenstädte und zu großen Public Viewings gelockt. Wo die Zuschauerbesonders gut geschützt waren und wie wir zukünftig unsere öffentlichen Plätze mit Hilfe bewährter Strukturen noch resilienter machen könnten, ist Thema dieser Kompaktschau.
Sicherheitsrisiken bei GroßveranstaltungenWenn fast täglich mehr als 300.000 Menschen dicht gedrängt und klar nach Herkunftsländern geordnet an vordefinierten Orten zusammenkommen, um ausgelassen zu feiern, dann ist das leider nicht immer nur eine Riesenparty, sondern oft auch eine einmalig verlockende Gelegenheit, für Extremisten aller Art, „weiche Ziele“ zu treffen. Terrororganisationen aus der ganzen Welt begrüßen solche Gelegenheiten ausdrücklich, können sie doch hier in bewährter Nizza- und Breitscheidplatz-Manier ohne nennenswerten Aufwand und Entdeckungsrisiko Fahrzeuge in einzelnen oder mehreren Angriffswellen durch dichte Menschenmengen pflügen lassen. Dies würde nicht nur zu hohen Opferzahlen führen, sondern den Extremisten auch eine unbe- zahlbare Medienpräsenz verschaffen.
Aber nicht nur die Innenstädte und Public Viewing Areale sind für Extremisten hochattraktive Anschlagsziele, sondern insbe- sondere auch die Zuschauermassen im direkten Umfeld vor den Fußballstadien.
Die Bedrohung durch Überfahrtaten
Der Grund für die seit Jahren überproportional ansteigende Zahl an Überfahrtaten ist so trivial wie pragmatisch: „Nutzfahrzeuge sind die effizienteste Terrorwaffe“. Denn der Einsatz von Fahrzeugen als Terrorwaffen ist gegenüber allen anderen, tödlichen Anschlagswaffen deutlich im Vorteil und bedient sich dabei einer bekannten Guerillataktik: dem sogenannten „Präventionsparadox“.
Die Maxime für dieses terroristische Handeln lautet schlicht und einfach: „Asymmetrische Risiko – Ressourcen – Nutzen Ratio“ zum Vorteil der Terroristen.Kurz, der Einsatz von Fahrzeugen als Waffen ist billig (Ressourcen), einfach (Ressourcen) und effektiv (Nutzen). Überfahrtaten benö- tigen weder aufwendige Anschlagsplanung (Entdeckungsrisiko) noch hohe Ausführungskompetenz (Ressourcen), um medienwirksam eine große Zahl von Menschen schwer zu verletzen oder gar zu töten (Nutzen).
Dem gegenüber werden wirklich wirksame Schutzmaßnahmen durch das Präventionsparadox zugunsten der Extremisten behin- dert. Denn nachweislich wirksame Schutzmaßnahmen sind nun einmal nicht trivial zu planen und umzusetzen. Im Gegenteil, sie erfordern ein Höchstmaß an rarer Anwendungskompetenz (Ressourcen), den Einsatz durchdachter organisatorischer Mittel und leistungsfähiger Zufahrtsschutzbarrieren (Kosten). Darüber hinaus muss der offizielle „Nutzen“ jeder Schutzbemühung angesichts knapper Präventionsbudgets und einer weit verbreiteten Katastrophen-Demenz erst in aufwendiger Über- zeugungsarbeit (Kosten, Ressourcen) argumentiert und durchgesetzt werden.
Positive Entwicklungen im Zufahrtsschutz
Umso erfreulicher ist, dass die gute Nachricht dennoch lautet: Die meisten der untersuchten Städte, Stadien und PublicViewing-Veranstaltungen haben sich im Hinblick auf den Zufahrtsschutz während der EM 2024 positiv entwickelt! Ein Grund dafür könnte die unermüdliche Aufklärungsarbeit sein, die nach den Terroranschlägen von Nizza, Berlin und Barcelona begonnen hat und die nun deutliche Früchte trägt – wenn auch noch mit sehr viel Luft nach oben.
Zum großen Glück für die Menschen in den Schutzzonen werden unterdessen die bisher sehr beliebten, aber lebensgefährlichen Betonklötze endlich mehr und mehr durch ISO-geprüfte Zufahrtsschutzbarrieren verdrängt. Doch leider kann auch heute, acht Jahre nach den Anschlägen von Nizza und dem Breitscheidplatz, von hoher Anwendungskompetenz und adäquat leistungsfähigen Sperren und noch immer keine Rede sein.
Hauptherausforderung ist die professionelle Planung und Umsetzung von Maßnahmen
Warum, so stellt sich die Frage, wurde vielerorts eigentlich noch immer Zufahrtsschutz fälschlicher Weise als eine Art Veranstaltungstechnik angepriesen? Etwa mit dem Ziel, den meist öffent- lichen Auftraggebern die wirkungsvollen Regularien des Bauwesens vorzuenthalten?
Warum tummeln sich immer mehr unqualifizierte „Heilsbringer“ auf dem Markt, die trotz Unkenntnis von Bau, Physik, Zufahrts- schutz und Technik, mit vollmundigen Versprechungen und beeindruckenden Hochglanzbroschüren Geld verdienen wollen? Hier entsteht eine höchst gefährliche Gemengelage, welche die Auftraggeber dann mit besonderer Vehemenz trifft, wenn sich bald die Gerichte mit Mängelrügen oder, schlimmstenfalls sogar, mit Todesopfern zu befassen haben.
Zufahrtsschutz ist zwar keine Raketenwissenschaft, aber eben auch kein triviales Unterfangen. International wird schon längst vorgelebt, dass Zufahrtschutz kein Produktsortiment ist, sondern ein Fachgebiet innerhalb des Bauwesens. Kurz, ohne einschlägige Erfahrung im Ingenieur- und Spezialtiefbau, gepaart mit einer fundierten internationalen Zufahrtsschutz-Vorbildung und globalen Netzwerken, ist der Schutz vor weltweit agierenden Terrorgruppen absolut nicht zu leisten.
Vorgenanntes führte wahrscheinlich auch dazu, dass bei der EM2024 der Einsatz sogenannter mobiler Zufahrtsschutz-Barrieren besonders negativ auffiel. Die Sperren wurden hier oft so unprofessionell eingesetzt, dass sie im Falle eines Angriffs ihre Schutzwirkung gar nicht hätten entfalten können. Denn Zufahrtsschutzbarrieren müssen nicht nur ordentlich zertifiziert werden, sondern vor allem auch für den vorgesehenen Anwendungsfall geeignet sein. Hier sollten also nicht nur die Aufbauer dieser Barrieren noch etwas mehr ihrer Prüf- und Hinweispflicht nachkommen, sondern vielmehr auch die Planer dieser Schutzmaßnahmen ihre eigene Qualifikation in Bezug auf Physik, technische Mechanik und den Stand der Technik sehr kritisch hinterfragen.
Qualifikation und Erfahrung sind unerlässlich
Qualität entsteht aus Qualifikation! Was in anderen Bereichen des Alltags völlig selbstverständlich ist, scheint sich im Zufahrtsschutz noch nicht überall durchgesetzt zu haben. Oder gehen Sie in dringenden Gesundheitsfragen in den Werksverkauf der Pharmaindustrie statt zu qualifizierten Ärzten und Apothekern? Es führt kein Weg daran vorbei: Wer verantwortungsbewusst Zufahrtsschutzmaßnahmen planen und umsetzen will, muss über eine ordentliche technische Ausbildung im Fachgebiet Zufahrtsschutz verfügen, fundierte Kenntnisse im Bauwesen und technischer Mechanik besitzen, und sich ständig auf dem internationalen Stand der Technik halten. Die immer wieder zu hörende Schutzbehauptung der weiter oben erwähnten Heilsbringer, man habe das schon ein paar Mal gemacht, sagt leider überhaupt nichts über deren Qualifikation noch über die Wirksamkeit dieser „paar Mal“ aus.
Bequem, aber leider auch völlig unzulässig ist hier die gefährliche Unsitte, dass befangene Lieferanten die Zufahrtsschutzplanung vornehmlich ihrer eigenen Produkte mitliefern, ohne dass diese von neutralen und entsprechend qualifizierten Stellen geprüft wird.
Deutlich professioneller als beim Einsatz der oben beschriebenen mobilen Barrieren stellt sich die Situation im Bereich des ortsfest verbauten Zufahrtsschutzes dar. Hier sind zunehmend neutrale Planer aus dem Ingenieurbau gemeinsam mit qualifizierten Zufahrtsschutz-Fachplanern tätig, welche die Zufahrtsschutzmaßnahmen norm- und richtlinienkonform planten, ausschrieben und ausführen ließen. Verbesserungspotentiale zeigen sich hier weniger in der Leistungsfähigkeit der Schutzmaßnahmen, als vielmehr im Bereich der Betriebs- und Bedienkonzepte und deren elektronischer Automatisierung. Mängel der Automatisierung führen dann zwar zu einer suboptimalen Bedienung und Funktionalität, kosten aber im Anschlagsfall keine Menschenleben.
Best Practice: Stuttgarter Neckarstadion
Besonders positiv und nicht nur europameisterlich, sondern sogar fast schon als weltmeisterlich darf man die Zufahrtschutzmaßnahmen der Landeshauptstadt Stuttgart bewerten, die das Stuttgarter EM-Stadion nicht nur auf höchstem Niveau gegen Überfahrtaten schützen ließ, sondern dies auch sehr wirtschaftlich und auf äußerst innovative Art und Weise erreicht hat.
Mit einer zertifizierten Widerstandsfähigkeit von 7.400kJ bieten die modernsten Zufahrtsschutzbarrieren des Stuttgarter Neckarstadions einen über 4-Mal höheren Anprallwiderstand als anderenorts (0 – 1.800kJ). Die nachgewiesene Resistenz der Barrieren ist derart belastbar, dass sogar 30 t. schwere LKW wenig ausrichten könnten, selbst dann nicht, wenn sie ungebremst mit einer Geschwindigkeit von 80km/h in die Zufahrtsschutzbarrieren einschlagen würden. Das innovative Projekt- und Planungsteam der Schwaben erreichten dieses beeindruckend hohe Schutzlevel auf bemerkenswert clevere Weise, indem sie nicht nur die neueste Barrierengeneration nutzten, sondern dies auch noch im Einklang mit Nachhaltigkeit, unauffälliger Ästhetik, ÖPNV-, Radfahrer- und Fußgängerfreundlichkeit taten und zusätzlich dabei die Themenkreise CPTED und Vandalismusresistenz beachteten.
Begrünbare Hochleistungsbarrieren finden sich am Neckarstadion ebenso wie einbruchsichere Schaltschränke und kostengünstige Schubbalken. Außerdem wurde durch das interdisziplinär besetzte Projektteam die Planung des Schutzperimeters rund um das Stadion so vorausschauend angelegt, dass dort auch nach der EM die Besucher der Bundeligaspiele optimal geschützt sind und auch weitere Mega-Veranstaltungen sowohl im Stadion selbst als auch auf dem weitläufigen Vorfeld des Stadions in vorbildlich gesicherten Schutzzonen stattfinden können.
Fazit mit Zuversicht
Die EM2024 war nicht nur sportlich ein Megaevent, sondern auch ein Stresstest für so manche Schutzarchitektur. Dementsprechend zeigten sich bedauerliche Schwächen, aber auch sehr lobenswerte Stärken. Im Hinblick auf den immer wichtiger werdenden Schutz weicher Ziele vor Überfahrtaten wurde deutlich, dass Zufahrtsschutz eine anspruchsvolle, physikalisch-technische Disziplin des Bauwesens ist und daher am besten von erfahrenen Zufahrts- schutz-Fachplanern und Bauingenieuren gemäß der bewährten Bauprozesse abgewickelt werden sollte. Das Beispiel des Stutt- garter Neckarstadions und viele weitere Beispiele aus dem In- und Ausland belegen das. Unabhängig davon, ob es sich um temporäre Schutzmaßnahmen oder um fest verbaute Maßnahmen handelt, Schutz und Qualität entstehen nicht in bunten Hochglanzprospekten, sondern durch die dem Bauwesen innenwohnenden Grundlagen, Regelungen und Prozesse.
So gerüstet und mit interdisziplinären, neutralen Projektteams können wir die Herausforderungen von Zufahrtsschutzprojekten so clever miteinander zu verknüpfen, dass daraus weitreichende Synergien entstehen, an die man bisher kaum gedacht hat.
Nach den schrecklichen Überfahrtaten von Nizza und Berlin gründete Schneider die „Initiative Breitscheidplatz“ zunächst als gemeinnütziges Expertenforum mit dem Ziel, Entscheidungsträgern in Deutschland schnell internationales Know-how unbürokratisch und gratis zur Verfügung zu stellen.
Crisis Prevention 3/2024
Christian SchneiderExperte für Zufahrtsschutz am UNOCT(United Nations Office of Counter-Terrorsim), Gastdozent für Zufahrtsschutz an der Verwaltungsakademie Stuttgart sowie International ausgebildeter und anerkannter HVM-Sachverständiger.Er betreut Zufahrtsschutzprojekte von Ministerien, Kommunen, Behörden und KRITIS.
E-Mail: c.schneider@inibsp.de