Interview mit Innenminister Reul: Sicherheit in all ihren Facetten

Unsere Polizisten müssen wissen, dass ich hinter ihnen stehe

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Als die nordrhein-westfälische Landesregierung von Hannelore Kraft in den letzten Zügen lag, gab es u.a. weit verbreitete Kritik an ihrem Sicherheitskonzept und Innenminister Jäger. Nach Laschets Wahlsieg übernahm Herbert Reul das Amt, und hinter den Kulissen war von vielen Experten ein allgemeines Aufatmen zu hören. Seitdem macht der 68-jährige nach der Meinung vieler dieser Experten und in den Augen der Mehrheit der Bevölkerung an Rhein und Ruhr einen guten Job.

Reul war bereit, mit CP über seine Arbeit zu reden und sprach dabei auch über heikle Themen wie Clankriminalität, Kindesmissbrauch und Rechtsextremismus bei der Polizei.

CRISIS PREVENTION: Ganz herzlichen Dank, Herr Minister, dass Sie sich die Zeit nehmen, dieses Gespräch mit Crisis Prevention zu führen. Vielleicht beginnen Sie mit ein paar Worten zu Ihrer Person?

HERBERT REUL: Früher war ich Lehrer. Als ich Innenminister wurde, sagten deshalb manche, der kann das nicht. Ich bin mir aber nicht so sicher, ob wirklich nur Juristen für dieses Amt geeignet sind. Ich bin ja schon einer von den Älteren, hatte vorher schon viel Politikerfahrung. Das kann Vor- und Nachteil sein. In den ersten Jahren im Landtag und auch an anderen Stellen habe ich zunächst Bildungs- und Schulpolitik gemacht und bin dann nach Brüssel gegangen, um mich dort mit Energie, Industrie- und Forschungspolitik zu beschäftigen. Generalsekretär der CDU Nordrhein-Westfalen war ich auch mal, habe also eine Partei saniert, Finanzen geregelt und Wahlkämpfe durchgeführt, so viel zu meiner politischen Vita. Im Privatleben spielt meine Familie — meine Frau und unsere drei erwachsenen Töchter — eine wichtige Rolle. Wir wohnen im Rheinland.

CP: Können Sie ganz kurz die Kernbereiche Ihres Ministeriums nennen: Für was genau sind Sie zentral verantwortlich?

HR: Unsere Kernkompetenz ist Sicherheit – in all ihren Facetten. Neben Polizei sind wir zum Beispiel auch für den Verfassungsschutz, die Feuerwehren und den Katastrophenschutz zuständig.

CP: Wie steht es denn generell um die Sicherheit in NRW, wie ist das Land aufgestellt?

HR: Ich denke, dass wir in den letzten Jahren die Sicherheitslage für die nordrheinwestfälischen Bürgerinnen und Bürger spürbar verbessert haben. Das haben wir sogar schriftlich. Laut der aktuellen Polizeilichen Kriminalstatistik (PKS) ist das Land so sicher wie seit dreißig Jahren nicht. Nun bin ich schon lange Politiker und deswegen Realist und weiß, dass es sich dabei immer um Momentaufnahmen handelt. Die Menschen hier mögen sich zwar heute sicherer fühlen, aber erstens noch lange nicht sicher genug, und zweitens wird es nie hundertprozentige Sicherheit geben. Das muss man aber auch ehrlich sagen. Politik neigt ja dazu, den Anschein zu erwecken, sie könne alles. Das führt dann dazu, dass die Leute bald merken, dass das nicht stimmt. Dann folgt die Enttäuschung, viele wenden sich ab, und am Ende kann das zum Verlust des Vertrauens in den Staat und zur Radikalisierung führen. Also lieber realistisch bleiben und die Dinge Stück für Stück verbessen.

CP: Was wären zum Beispiel die Stellen, wo Verbesserung noch notwendig sind?

HR: Erstens bleiben die großen Gefahren des islamistischen Terrorismus bestehen. Manch einer denkt, da könnte man Entwarnung geben, weil länger nichts passiert ist. Aber das kann sich jeden Tag ändern. Dazu kommen zwei weitere Themen, die mich in den letzten Monaten und im letzten Jahr intensiv beschäftigt haben: Rechtsextremismus und Kindesmissbrauch.

Beim Kindesmissbrauch hatte ich schlicht keine Vorstellung von den Dimensionen. Dieses Thema ist in unserer Gesellschaft jahrzehntelang unterschätzt worden. Später hat sich ein Abgrund vor mir aufgetan. Als ich Ende 2018 das erste Mal einschlägige Filme in unserem Landeskriminalamt vorgeführt bekommen habe, wurde mir klar, dass wir uns dringend mit diesen Dramen beschäftigen müssen. Dann kam der schreckliche Fall Lügde. Das war fürchterlich, aber es war auch der Auslöser, die Legitimation, nun mit aller Kraft dagegen zu kämpfen. So wurden immer mehr Fälle in NRW aufgedeckt, was nicht daran liegt, dass unser Land damit ein besonderes Problem hat. Sondern, dass dieses Thema nicht so stark im Fokus steht. Ein weiteres großes Thema ist das Auf­flammen des Rechtsextremismus. Wer die deutsche Geschichte kennt, weiß, dass das Gefährlichste daran die Ansteckungsgefahr ist, dass sich Mischszenen entwickeln. Das kann zur Verunsicherung von vielen führen, ähnlich wie wir es jetzt bei Corona erleben.

Viel Energie kostet uns auch das Thema Clankriminalität. Hier habe ich eigentlich etwas ganz Banales gemacht, indem ich einfach zugegeben habe, dass das Problem existiert. Das wurde über 30 Jahre lang bestritten. In der Folge war klar, dass wir dagegen angehen müssen. Ich habe aber auch deutlich gemacht, dass niemand glauben soll, in meinen fünf Jahren im Amt wäre das Problem zu lösen. Das wird länger dauern.

Lagebild zur Clankriminalität in NRW von 2019.
Lagebild zur Clankriminalität in NRW von 2019.
Quelle: 2020, IM NRW

CP: Wie ist Ihre Einschätzung der Clankriminalität hier und heute?

HR: Viele der Aktiven sind in den 80er Jahren zu uns gekommen. Aber damals hat sich niemand um diese Leute gekümmert. Das haben die dann selbst getan und z.B. kriminelle Strukturen aufgebaut mit dem Anspruch: Unser Familienrecht steht über eurem staatlichen Recht. Irgendwann gab es dann schon Straßen und Viertel, in denen Leute Angst hatten. Die Politik scheute sich dann einzugreifen, um nicht in den Verdacht zu geraten, bestimmte ethnische Gruppen oder Familien zu diskriminieren. Meine Überzeugung ist, dass man Fakten benennen muss und nicht den Kopf in den Sand stecken darf.

CP: Was geschieht konkret beim Kampf gegen Clankriminalität?

HR: Wir haben zum Beispiel als Erste ein Lagebild zur Clankriminalität in Deutschland veröffentlicht. Auf dieser Bestandsaufnahme basieren die drei Säulen unserer Arbeit. Zum einen führen wir heute viel häufiger Razzien durch – eine Politik der Nadelstiche, die ihre Wirkung nicht verfehlt. Aus dem Hintergrund hören wir dazu: Der Innenminister nervt uns, die ständigen Razzien bringen Unruhe. Und nicht nur wir, also die Polizei, macht das, sondern mit uns im Boot sind das Finanzamt, der Zoll, das Gesundheitsamt, das Ordnungsamt, und, und und. Alle Kräfte pochen auf Einhaltung der gesellschaftlichen Regeln. Überwiegend sind das keine schwerwiegenden Straftatbestände, die dabei aufgedeckt werden. Da werden z.B. nicht genehmigte Ausschänke in Kellern geschlossen, nicht angemeldete Beschäftigungsverhältnisse aufgelöst, manipulierte Spielautomaten stillgelegt, Steuerrückstände eingetrieben, Dinge gepfändet oder nachts Radarmessungen bei zu schnell fahrenden Autos an Hotspots vorgenommen. Wir machen es also bestimmten Leuten systematisch ungemütlich, und das zeigt durchaus Wirkung.

Die zweite Säule ist die langfristige Ermittlungsarbeit. Wir haben beim Landeskriminalamt eine Task Force installiert mit Angehörigen des Finanzministeriums, des Innenministeriums und des Justizministeriums. Unterschiedliche Disziplinen mit unterschiedlichen Kompetenzen und vor allen Dingen mit unterschiedlichen Sichtweisen lösen ein Problem schneller. Die Ergebnisse sind teilweise sensationell. Diese Experten muss ich in Ruhe arbeiten lassen, weil sie Zeit brauchen. Ziel ist es, letztendlich die Köpfe der Clans zu erwischen, an die Geldflüsse heranzukommen. Das dauert.

Die dritte Säule ist unser Aussteigerprogramm. Aussteigerprogramme existieren bereits für aussteigewillige Anhänger rechtsextremer und linksextremer Gruppen und seit kurzem auch für Angehörige krimineller Clans. Es ist eine schwierige Materie, die erst am Anfang steht. Aber es ist ein Anfang, junge Menschen aus kriminellen Strukturen zu lösen. Man muss das Problem von allen Seiten angehen. Ich glaube an einen ganzheitlichen Ansatz.

CP: Das wird sicher beim Thema Kindesmissbrauch nicht anders sein…

HR: Da gibt es durchaus Ähnlichkeiten, z.B., dass früher gezielt weggeguckt wurde aus der Angst heraus, Menschen zu denunzieren. Die Sensibilisierung breiter Kreise ist mittlerweile gelungen. Auch hier gilt: Probleme werden nur gelöst, wenn sie auch klar benannt werden.

Wir stellen für diesen Bereich NRW neu auf. Es funktioniert wie eine Datenautobahn zwischen allen Polizeidienststellen und dem zentralen Landeskriminalamt. Wir schaffen sozusagen ein virtuelles Großraumbüro. Das heißt, alle Daten und Fakten zu diesem Thema gelangen zum LKA und werden dort analysiert. Ziel ist auch, die Menge an Daten zu reduzieren. Das gesichtete Material geht zurück an die Ermittler, die dann an den Projekten gemeinsam arbeiten. So geschieht es bereits in den Fällen aus Münster und Bergisch Gladbach. Der Einsatz solcher Verfahren ist übrigens nicht auf Pornografie und Kindesmissbrauch begrenzt. Ich könnte mir vorstellen, dass das der Schlüssel für die Polizeiarbeit der Zukunft ist.

CP: Aktuell gibt es Vorwürfe gegen die Polizei. Rassendiskriminierung und Rechtsextremismus werden ihr von Teilen der Öffentlichkeit vorgeworfen. Sie dagegen fordern mehr Unterstützung. Was genau meinen Sie damit?

HR: Zunächst einmal duldet die Polizei keine Rechtsextremisten innerhalb der Polizei. Wir haben da Null Toleranz, wer rassistisch, antisemitisch oder ausländerfeindlich denkt, hat in der Polizei nichts zu suchen und wird entfernt. Punkt. Unabhängig davon haben wir eine permanente Debatte, dass diese Gesellschaft nicht sicher genug ist. Manchmal führt das sogar dazu, dass Menschen sich von den Politikern, von den Parteien, vom Staat abwenden, weil sie glauben, der Staat erfüllt seine ureigenste Aufgabe nicht, nämlich Sicherheit zu organisieren.

Wenn das so ist, dann muss man doch fragen: Wie kriegen wir das besser hin? Dazu brauchen wir dringend mehr Personal, und zwar möglichst die Besten. Ich muss sie gut ausrüsten und muss sie mit Vertrauen ausstatten. Ich muss ihnen Rückendeckung geben. Es kann nicht sein, dass Menschen eine schwierige Aufgabe wahrnehmen und sich dafür von morgens bis abends kritisieren lassen müssen. Irgendwann schmeißt dann nämlich der eine oder andere hin und geht, oder er macht seine Arbeit schlecht. Umgekehrt aber macht jeder seine Aufgabe hundertmal besser, wenn er spürt, dass die Bürgerinnen und Bürger seine Arbeit honorieren und auf seiner Seite sind. Lob und Anerkennung motivieren — das ist eine banale menschliche Erkenntnis. Unsere Polizisten müssen wissen, dass ich hinter ihnen stehe. Aber sie müssen auch genauso wissen, dass das bei unentschuldbaren Fehlern nicht mehr gilt. Fehler werden dann klar benannt. Für Vernebelungen und Korpsgeist an der falschen Stelle habe ich kein Verständnis.

Gerade die, die für die Regeleinhaltung in der Gesellschaft zuständig sind, dürfen am allerwenigsten dagegen verstoßen.

CP: Es gab jetzt Diskussionen zu einer Studie über die Polizei, die von externen Wissenschaftlern durchgeführt werden soll zu interner Kriminalität und Rechtsextremismus. Denken Sie, das wäre in NRW auch sinnvoll?

HR: Sinnvoll ist sicher alles, was neue Erkenntnisse bringt. Ich frage mich nur, ob gerade jetzt, wo wir diese Debatte über Rechtsextremismus in der Polizei haben, es hilfreich ist eine längerfristige Studie durchzuführen, oder ob es mir mehr hilft wenn ich handle. Ich habe mich für Handeln entschieden. Ich glaube, es ist jetzt wichtiger, sich aktiv damit zu beschäftigen. Was nützen Studien, die erst in ein, zwei Jahren vorliegen? Es gibt bei 50.000 Polizisten in NRW wahrscheinlich auch Kollegen, die für extreme Gesinnungen anfällig sein können. Um gegenzusteuern, habe ich z.B. entschieden: Bevor Polizeianwärter ihre Ausbildung antreten werden in den Einstellungsgesprächen auch Haltungen gecheckt. Z.B. wird mit Rollenspielen die Stabilität der Anwärter in realistischen Szenarien überprüft. Zweitens umfasst die Ausbildung viele Elemente, die Haltungen beeinflussen, wie etwa Diskussionen zu ethischen Fragen.

Und drittens gibt es Einrichtungen, wo Polizisten Angebote bekommen, Handlungen auch in schwierigen kontroversen Situationen richtig einzuschätzen, „Grenzgang“ heißt dieses Projekt. In diesen Einrichtungen existieren Räume, wo Polizisten Grenzsituationen vorgeführt bekommen und anschließend darüber diskutieren.

Darüber hinaus habe ich vor ein paar Monaten entschieden, dass in jeder Polizeibehörde ein Extremismus-Beauftragter benannt werden muss. Als Anlaufstelle für Kollegen, die mitbekommen, dass sich jemand gegen unsere Grundüberzeugungen äußert oder gegen sie handelt. So soll es möglich sein, den Anfängen zu wehren, ohne dass daraus direkt ein Disziplinarvorgang wird. Ich hoffe auf Möglichkeiten der Alarmierung schon im Vorfeld einer Radikalisierung.

CP: Wir danken Ihnen für das Gespräch.

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