Das veränderte Umfeld fordert KRITIS-Akteure heraus
Ereignisse wie die Zerstörung einer Pipeline, die Durchtrennung wichtiger Datenkabel eines Infrastrukturbetreibers und unzählige Cyberangriffe illustrieren eine neue hybride Lage, mit der sich alle Akteure der kritischen Infrastruktur (KRITIS) wie Energieunternehmen auseinandersetzen müssen. Auch wenn die Urheberschaft in vielen Fällen nicht zweifelsfrei bekannt ist, ist eine neue Bedrohungslage angesichts faktischer Ereignisse, die zuvor sowohl in ihrer Härte wie auch in ihrer Häufigkeit unterschätzt wurden, evident.
In der Konsequenz bedeutet dies für KRITIS-Betreiber, bestehende Sicherheitsmaßnahmen immer wieder dem neuen Lagebild neu anzupassen. Sie müssen durch Szenario-Management und auch die frühzeitige Etablierung von Krisenstäben „vor mögliche Lagen kommen“. Denn die Wahrscheinlichkeit vieler Szenarien ist gestiegen und bisher als unmöglich bewertete Szenarien sind nicht mehr sicher auszuschließen.
Grundsätzlich können Szenarien unterschiedlicher Natur eintreten und eine passgenaue Prävention für jedes einzelne erdenkbare Szenario ist praktisch nicht darstellbar. Eine vereinfachende Fragestellung hilft daher: Die Vorbereitung auf welches Szenario könnte viele Aspekte auch anderer Szenarien mit abdecken? Es darf angenommen werden, dass ein Stromausfall durch Kaskadeneffekte viele weitere Szenarien auslöst und eine Prävention dagegen allgemein wirksam ist.
Die Dimensionen von Ereignissen
Ein Szenario wie ein Stromausfall kann sich in unterschiedlicher Dimension und Härte ereignen: Ist er nur von kurzer Dauer oder erstreckt er sich über mehrere Tage? Welche Jahreszeit, welcher Wochentag und welche Tageszeit sind betroffen? Breitet er sich lokal bis überregional oder in einem Extremszenario über mehrere Länder aus? Ist er kontrollierbar und prognostizierbar?
Für die Bewältigung eines Schadenslage ist auch entscheidend, ob sie statisch oder dynamisch ist. Bei längerer Dauer und einem größeren Gebiet ist die Lage eine Zeit- und Flächenlage und verlangt von privaten wie staatlichen Akteuren einen erheblichen Ressourceneinsatz.
Als Kaskadeneffekt eines Stromausfalls fällt die öffentliche Kraftstoffversorgung an den Tankstellen aus, da die Pumpen nicht mehr arbeiten. Denn nur die wenigsten Tankstellen haben Ersatzstromerzeuger, die im Ereignisfall vor allem von Behörden der Gefahrenabwehr genutzt werden. Gasheizungen fallen aufgrund der elektrischen Steuerung aus.
In der Kommunikation schaltet sich neben dem Festnetz innert kurzer Zeit der Mobilfunk mangels leistungsfähiger Ersatzstromversorgung seiner Sendemasten ab. Notrufe sind erst überlastet und können später nicht erreicht werden. Für den Brandschutz ist wichtig: Brände werden später gemeldet und sind – da sie sich länger thermisch entwickeln konnten – aufwendiger als in der Entstehungsphase zu bekämpfen. Ähnliches gilt für die polizeiliche Gefahrenabwehr.
Bei längerer Dauer können mangels Leitungsdrucks die öffentliche Trink- und Abwasserversorgung betroffen sein.
Bedeutung von Leitstellen
Besonders KRITIS-Unternehmen unterschiedlicher Branchen, die auf Leitstellen und Dispatching-Zentralen zur Koordination ihrer Aktivitäten sowohl mit internen als auch externen Akteuren elementar angewiesen sind, müssen mögliche Szenarien früh genug identifizieren, daraus Gefahren ableiten und Gegenmaßnahmen implementieren. Hierbei hilft es, Cluster zu bilden, die einzeln abgearbeitet werden.
Für den Betrieb eines kritischen Gebäudes bedeutet dies: Für das Personal sind ex ante Schichtpläne zu erstellen, für deren Aktivierung allen Beteiligten kommunizierte Auslöser definiert werden. Das kann für Mitarbeiter der zweiten und dritten Schicht bedeuten, bei Eintritt des Ereignisses zuerst zu Hause zu bleiben. Und nicht zu vergessen: Wie hoch wird die Ausfallquote der Mitarbeiter schätzungsweise sein?
Mitarbeiter müssen sich auch bei öffentlichen Ausgangssperren gegenüber der Polizei ausweisen können und eine erweiterte Sicherheitskontrolle des Personals muss gewährleistet sein. Ernährungs-, Hygiene- und Schlafmöglichkeiten für das Personal müssen im Gebäude ad hoc bereitstehen. Hierzu können Wasservorräte, Notfallpläne für die Zubereitung von Trinkwasser oder ein Grundbestand lang haltbarer Lebensmittel gehören. Zur Erreichbarkeit des Arbeitsplatzes kann es in Extremszenarien sinnvoll sein, dass Mitarbeitern den Kraftstofftank ihrer privaten Fahrzeuge immer ausreichend füllen.
Ohne Notstromversorgung geht nichts
Für die Notromversorgung mittels eigenen Generators müssen KRITIS-Unternehmen frühzeitig prüfen, welche Kraftstoff-Lieferanten im Ereignisfall wie erreichbar und lieferfähig sind. Frühzeitig muss auch geprüft werden, ob die Unternehmen in öffentlichen Katastern der Katastrophenschutzbehörden bekannt sind. Das entbindet zwar nicht von der Eigenverantwortung, stellt jedoch eine zusätzliche Redundanz dar. Und: Sind Haustechniker bei Störung der Anlagen verfügbar und trainiert? Sind Ersatzteile vorhanden? Wie lange reicht der Diesel, wenn der Lieferant nicht liefert?
Alternative Kommunikationswege
Als redundanten Kommunikationsweg haben viele KRITIS-Unternehmen Satellitentelefone in Bereitschaft, aber: Wurde deren Einsatz ausreichend trainiert, ist technischer Support verfügbar und sind notwendige Rufnummern bekannt? Die Rufnummern sollten allerdings nur so vielen Personen wie nötig bekannt sein, um Überlastung und Missbrauch zu verhindern.
Als Redundanz für den Notruf sollten Mitarbeiter alternative Alarmierungswege kennen. In den Notfallkonzepten vieler Kommunen dienen beispielsweise Feuer- oder Rettungswachen als sogenannte Meldeköpfe für Bürger und Unternehmen. Unternehmen könnten für den Ereignisfall einen Mitarbeiter in der Rolle des Melders einplanen, der als Nachrichtenträger zu den Meldeköpfen fungiert – notfalls per Fahrrad.
Für die polizeiliche Gefahrenabwehr muss auch angesichts möglicher Sabotage geprüft werden: Sind kritischer Einrichtungen polizeilich oder durch den Werksschutz 24/7 verstärkt geschützt?
Checklisten für die Haustechnik
Für die Gebäude und deren Haustechnik sind Checklisten wichtig: Gibt es Schichtpläne für Mitarbeiter der Sicherheit und der Haustechnik? Sind medizinische Hilfe und Brandschutz gewährleistet? Ihre Anwesenheit muss in der Bevorratung berücksichtigt werden. Funktionieren die Klimaanlagen und die Heizung? Wie entwickelt sich in einem modernen, möglicherweise vollverglasten Bürogebäude die Raumtemperatur je nach Jahreszeit?
Notfallpläne müssen das bisher für unmöglich Gedachte für viele andere Geräte mitdenken: Für Repeater, Notbeleuchtung, Feuermelder- und Sprinkleranlagen, Kühlräume, den Gebäude- und Garagenzugang, die Erreichbarkeit der Notrufzentrale sowie Tür-, Aufzugs- und Sicherheitstechnik. Fährt der Aufzug im Ereignisfall noch bis zur nächsten Etage oder müssen Mitarbeiter befreit werden? Außerdem: Welche Arbeiten mit erhöhtem Verletzungsrisiko dürfen noch ausgeführt werden?
Für Mitarbeiter, die nicht dem Kern der kritischen Infrastruktur eines KRITIS-Unternehmens angehören, ist es am sichersten, zuhause zu bleiben. Aber auch das muss frühzeitig kommuniziert werden und redundante Meldewege oder Auslöser müssen bekannt sein.
Resilienz durch Vorbereitung stärken
Im aktuell sehr dynamischen Umfeld muss die Anpassung an das Lagebild kontinuierlich erfolgen. Vorbild kann der in der Führungsausbildung des Katastrophenschutzes gelehrte „Führungsvorgang“ sein, der kontinuierlich wiederholt wird: Der Lagefeststellung folgt die Planung mit Beurteilung und Entschluss – und danach der Befehl mit der Umsetzung!
Ist all dies ein Grund für Panik? Nein. Unser Umfeld hat sich geändert, doch mit frühzeitig geplanten Maßnahmen und bei guter Vernetzung kann die Resilienz gegen ein Schadensereignis signifikant gehärtet werden. Denn wie ist nicht nur im Katastrophenschutz bekannt:
„Haben ist besser als Brauchen“. Und: „In der Krise Köpfe kennen.“
Crisis Prevention 2/2024
Benedikt Haufs, Düsseldorf