Traurige Realität: Notfallsanitäter sind bei der Ausübung ihres Berufs steigenden Gefährdungen ausgesetzt – eine davon sind terroristische Anschläge. Aufgrund eines mangelnden Bewusstseins für derartige Situationen fehlen vielfach Konzepte, die bereits in der Ausbildung an dieses Thema heranführen.
Nach einer dreijährigen Ausbildung üben Notfallsanitäter auf dem Rettungswagen eine anspruchsvolle Tätigkeit aus und sind täglich mit unvorhergesehenen Situationen konfrontiert. Mitunter ist nicht nur das Leben der Patienten gefährdet, sondern auch das der Besatzung, die sich plötzlich in einer Hochrisikosituation befindet und dennoch professionell handeln muss. Das Konzept der “taktischen Woche” (‘tW’) der Johanniter-Akademie Mitteldeutschland verfolgt das Ziel, Notfallsanitäter bereits in der Ausbildung an die Themen Eigengefährdung durch Terroranschläge, polizeilich geführte Einsatzlagen sowie chemische, biologische und radionukleare Gefahrenlagen (CBRN) heranzuführen. Im Realfall kommt das 3-K-Prinzip zum Tragen: “In der Krise Köpfe kennen”. Es besagt, dass für die erfolgreiche Bewältigung krisenhafter Ereignisse ein gutes Zusammenspiel verschiedener Akteure notwendig ist, was ein grundlegendes Verständnis der jeweiligen Arbeitsweise des “anderen” voraussetzt und im Idealfall ein gemeinsames Handeln eingeübt wird. Bei einigen Hilfsorganisationen wurden inzwischen bereits Fortbildungsangebote für Rettungsdienst-Personal und Notärzte konzipiert, welche sich bisher an ausgebildetes Personal richten. Das Format der ‘tW’ verfolgt den Ansatz einer Sensibilisierung für den Umgang mit diesen Gefahrenlagen bereits während der Ausbildung. Die angehenden Notfallsanitäter sollen besser auf ein sich wandelndes Arbeitsumfeld mit erhöhtem Gefährdungspotenzial vorbereitet und ihre Handlungskompetenz verbessert werden. Zudem können sie in diesem Rahmen die Arbeitsweise kooperierender Akteure der Behörden und Organisationen mit Sicherheitsaufgaben (BOS; z. B. Polizei, Feuerwehr, Rettungsdienst) kennenlernen.
Reale Terrorlagen sind grundsätzlich polizeilich geführte Lagen und erfordern ein Teamwork mehrerer Akteure. Folglich ist ein Training der schnittstellenübergreifenden Zusammenarbeit in einem Format wie der ‘tW’ förderlich, um – wie bereits beschrieben – die “Köpfe für die Krise” sowie deren Arbeitsweise kennenzulernen, denn eine reale Lagebewältigung erfordert die Orchestrierung übergeordneter Führungsinstanzen sowie der Einsatzführung vor Ort. Zwar ist dieses Zusammenspiel ein Bestandteil des Ausbildungscurriculums angehender Notfallsanitäter, mit 28 Unterrichtseinheiten jedoch ein kleines und bisher sehr theoretisches Lernfeld.
Hauptfokus der ‘tW’ ist die Förderung, Erweiterung bzw. Festigung der Handlungskompetenz der Auszubildenden, verankert im Notfallsanitätergesetz sowie der dazugehörigen Ausbildungs- und Prüfungsverordnung NotSan-APrV. § 4 NotSanG geht konkret auf das Ausbildungsziel und die zu erlangenden fachlichen, sozialen, personellen und methodischen Kompetenzdimensionen ein. Sie sollen angehende Notfallsanitäter u. a. zur notfallmedizinischen Versorgung von Patienten, einer eigenverantwortlichen Transportdurchführung sowie einer teamorientierten Mitwirkung befähigen. Die Ausbildung erfolgt in aller Regel nach bekannten Schemata wie “X-ABCDE” oder “4S”. Jeweils vorrangig ist gemäß NotSan-APrV zudem der Eigenschutz. Im Kontext polizeilicher Lagen bewährte sich die Einteilung von Gefahrenzonen, die je nach Erkenntnislage von der Polizei festgelegt werden und sich dynamisch verändern können. Die unsichere rote Zone umfasst dabei den direkten Wirkbereich des Täters, gelb beschreibt den teilsicheren Bereich sowie den Übergabebereich von Patienten an nichtpolizeiliche Akteure. In der grünen Zone können sie anschließend sicher agieren.
Die ‘tW’ möchte dabei im Rettungsdienst mögliche auftretende Ereignisse in Form eines Massenanfalls von Verletzten (MANV) mit Lagen terroristischer Ausprägung verbinden, welche i.d.R. oftmals ebenso MANV-Lagen sind, jedoch unterschiedliche Verletzungsbilder und Situationen mit sich bringen. Gleiches gilt für CBRN-Lagen, einem weiteren Schwerpunkt der ‘tW’. Zudem stellt eine ausreichende Handlungskompetenz unter Beachtung des Eigen- und Fremdschutzes auch abseits terroristischer Aspekte eine Herausforderung mit erhöhtem Schulungsbedarf dar.
Konkret durchliefen Auszubildende des dritten Lehrjahres unter dem Fokus “Amok und Terror” eine Vorbereitungswoche mit hauptsächlich theoretischen Inhalten u. a. aus den Bereichen
- Polizeiliche Lagen: Taktik- und Eigenschutzpotenziale im rettungsdienstlichen Kontext, Zusammenarbeit mit der polizeilichen Gefahrenabwehr
- CBRN-Lagen: Kontamination und Verschleppung, Eigenschutz sowie Gefahrenpotenziale unterschiedlicher Stoffe und Stoffgruppen
- MANV-Lagen: Vorgehen als ersteintreffendes Rettungsmittel, Raumordnung, Transportorganisation und (Vor-)Sichtung sowie Durchführung mehrerer dynamischer Patientensimulationen
Es erfolgte die Schulung der Fachkompetenz, darüber hinaus wurde die Förderung der weiteren Kompetenzdimensionen in kleineren Übungssequenzen eingebaut und das Erlernte im Sinne des Theorie-Praxis Transfers in mehreren kombinierten Übungen zum Thema MANV angewandt. Hierbei kam das Schulungskonzept der “dynamischen Patientensimulation” zum Einsatz. Dem schloss sich eine Praxiswoche an, welche dem Bedarf an vermehrter Realitätsnähe und lebensechten Übungen Rechnung tragen soll. Diese fand mit etwa 90 Auszubildenden auf einem weitläufigen Gelände nahe Leipzig statt und umfasste ein dreitägiges Stationstraining sowie zwei Übungsszenarien. Das Stationstraining beinhaltete beispielsweise die Evakuierung aus unterschiedlichen Gefahrenzonen, Deckung am Fahrzeug, Evasionstraining, Tragetechniken, taktische Verwundetenversorgung, Explosionsstoffe, Active Shooter Parcours, patientengerechte Rettung sowie Übungen zur Verhütung von Eigenkontamination und Kontaminationsverschleppung. Zwei Stationen betreute die Polizei und bot den Auszubildenden tiefere Einblicke in die polizeiliche Gefahrenabwehr und Möglichkeiten für bessere Zusammenarbeit bei polizeilich geführten Lagen. Zwei realitätsnahe Großübungen als Abschluss erfolgten in Kooperation mit der Polizei und der örtlichen Freiwilligen Feuerwehr. Hinzu kamen ein Einsatzleitwagen des Katastrophenschutzes samt Führungsgruppe, ein externer Organisatorischer Leiter Rettungsdienst sowie ein Leitender Notarzt. Die Szenarien wurden im Vorfeld durch einen Planungsstab konzipiert, mit der Möglichkeit für dynamische Anpassung je nach Verlauf. Sie bestanden aus einer CBRN- und einer Terrorlage, die konkrete Ausgestaltung war den Teilnehmern vorab nicht bekannt. Beide Lagen waren polizeilich geführt ausgerichtet. Als Laiendarsteller konnten Auszubildende des ersten Lehrjahres eingesetzt werden. Alle Teilnehmer wurden zu Beginn ausführlich unterwiesen und belehrt. Für reale Notfälle waren ausreichend qualifizierte Personen und Material vor Ort.
Erstmals wurde die Veranstaltung wissenschaftlich begleitet und evaluiert. Dazu wurde eine teilnehmende Beobachtung durch einzelne Personen aus dem Planungsteam sowie durch unabhängige Beobachter durchgeführt. Die individuellen Ergebnisse der Beobachtungen wurden zusammengeführt und dem Planungsteam übergeben und besprochen. Hinzu kam eine Evaluation mittels Online-Fragebogen, welcher den Teilnehmern und Laiendarstellern zusätzlich die Möglichkeit einer umfassenden Rückmeldung gab.
Das erste Szenario spielte in einer Sammelunterkunft, in der ein Anschlag mit CBRN–Materialien vorbereitet wurde, wobei eine Explosion mehrere kontaminierte Verletzte forderte und in einem weiteren Gebäudeteil eine Vielzahl von Personen durch einen weiteren Täter unterschiedlich verletzt wurden. Entsprechend waren die ersten Kräfte zur Intervention im Übungsszenario von der Polizei, welche zunächst ein sicheres Arbeitsumfeld für die nichtpolizeiliche Gefahrenabwehr herstellen mussten.
Im zweiten Szenario explodierte ein Sprengsatz in einem PKW nahe einer Straßenbahn, während ein weiterer bewaffneter Täter innerhalb der Bahn agierte. Auch hier forderte die Lage zahlreiche Verwundete, die es zu versorgen galt.
Bereits bei der Interaktion von Notfallsanitäter-Azubis unterschiedlicher Hilfsorganisationen von Schulstandorten aus Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen, der Feuerwehr sowie des Katastrophenschutzes zeigten sich in der Praxiswoche grundlegende Unterschiede. So werden etwa mangels gesetzlicher Grundlage in den drei genannten Bundesländern unterschiedliche Westen zur Kennzeichnung der Führungskräfte genutzt. Ebenso kommen zwei differente Algorithmen zur Vorsichtung zum Einsatz: mSTaRT und PRIOR.
Während des ersten Szenarios (CBRN-Lage) ließ sich als eine der größten Herausforderungen die Einteilung der polizeitaktischen Zonen für Rettungsdienst und Feuerwehr beobachten. Nachdem der Täter handlungsunfähig gemacht wurde und die Lage somit als vermutlich geklärt gelten würde, blieb die rote Gefahrenzone aufgrund der gefundenen CBRN-Materialien nun aus feuerwehrtechnischen Gründen aufrechterhalten. Somit kam es zu einer Neudefinition der Gefahrenzonen und Rettungskräfte durften die Einsatzstelle weiterhin nicht direkt betreten. Zur Verringerung der Kontaminationsverschleppung errichtete die Feuerwehr eine Not-Dekon-Strecke am Übergang von gelber zu grüner Zone. Ferner ging im ersten Szenario die Information einer CBRN-Lage in der Kommunikationskette unter, was zu einer Kontamination der Besatzung des ersten Rettungswagens führte. Bis zuletzt waren die Führungskräfte von Polizei, Feuerwehr und Rettungsdienst nicht auf einem identischen Kenntnisstand, was zu einer deutlichen erschwerten Lagebewältigung führte.
Im Anschluss an das erste Szenario fand eine kurze Feedbackrunde statt. Das Planungsteam und die Beobachter tauschten sich untereinander aus und gaben den Teilnehmern eine Rückmeldung.
Nach den beobachteten Herausforderungen im ersten Szenario ließ sich im zweiten eine deutliche Steigerung erkennen. So verbesserte sich beispielsweise die Kommunikation untereinander, Sichtung und Raumordnung ebenfalls, wenngleich auch hier an anderen Stellen Verbesserungspotenzial identifiziert werden konnte.
Bei der Auswertung des Fragebogens bewertete ein Großteil der Teilnehmer die ‘tW’ als sehr hilfreich für den beruflichen Alltag, sowohl die Inhalte der verschiedenen Stationen sowie der Abschlussübung. Zudem empfanden sie die theoretische Vorbereitung als Einstimmung für die Praxis dienlich und im Umfang bedarfsgerecht. Insbesondere die Teilnahme der Polizei und die einmaligen Einblicke, die die Auszubildenden in ihrer Arbeit und Interaktion mit ihr erhielten, hoben die Teilnehmer als besonders positiv und sinnvoll hervor. Im Zuge des Schwerpunkts der Veranstaltung bewerteten sie Inhalte wie das Evasionstraining, den Active Shooter Parcours sowie die CBRN-Übungen als überaus gut. Herausforderungen ergaben sich demgegenüber bei der Ausgestaltung der Szenarien in den Abschlussübungen, für die die Evaluation zahlreiche Anhaltspunkte für Verbesserungen hervorbrachte. So wünschten sich die Laiendarsteller eine adäquate Vorbereitung auf das Szenario hinsichtlich des Schminkens der Verletzungsbilder sowie einer konkreten Anleitung zum Verhalten im Szenario. Hinzu kam die Erkenntnis, dass Laiendarsteller des ersten Lehrjahres zur Simulation der gewünschten Verletzungsbilder und Symptome zu unerfahren waren. Darüber hinaus war die Koordination der Einsatzführung vereinzelt anpassungsbedürftig und erforderte den Eingriff der Organisatoren, da zahlreiche Einsatzkräfte nicht ins Szenario abgerufen wurden und im Bereitstellungsraum über lange Zeit hinweg auf ihren Einsatz warteten. Dies führte unter den Teilnehmern verständlicherweise zu Enttäuschung und dem Gefühl, nicht an der Übung teilgenommen zu haben. Auch wünschten sich die Auszubildenden zur Einstimmung zunächst ein “kleineres” Szenario, beispielsweise einen klassischen MANV, um zunächst besser an die Situation herangeführt zu werden.
Die ‘tW’ als fester Bestandteil der Ausbildung von Notfallsanitätern bot die außergewöhnliche Möglichkeit, abseits des theoretischen Unterrichts Übungen im praktischen Umfeld mit Akteuren durchzuführen, mit denen im rettungsdienstlichen Alltag abseits solcher Lagen weniger Berührungspunkte bestehen.
Die Auszubildenden konnten schrittweise an die vielfältigen psychischen und physischen Herausforderungen herangeführt werden, um folgend in den Simulationen und sowie später in Realnotfällen ihr Fachwissen bestmöglich anzuwenden. Der stufenartige Aufbau aus theoretischen Grundlagen in der Vorbereitungswoche, dem Stationstraining unter kontrollierten Bedingungen sowie eine freie Anwendung in beiden Szenarien bildeten eine gute Grundlage für einen optimalen Theorie-Praxis-Transfer.
Die Einbindung weiterer Akteure von Polizei, Katastrophenschutz und Feuerwehr in die Veranstaltung ermöglichte das Beüben polizeilich geführter Einsatzlagen sowie intensive Interaktion. Da die polizeitechnische Zonung ebenfalls im Übungsszenario zum Tragen kam, entstand für die Auszubildenden eine Situation mit hoher inhaltlicher Komplexität.
Im Sinne der Notfallpsychologie wurde während der gesamten Unterrichtszeit Wert auf subjektive und objektive Prävention gelegt, weshalb die Veranstaltung zusätzlich zum Dozententeam von einer Psychologin begleitet wurde. Subjektiv im Sinne einer Vorbereitung der einzelnen Auszubildenden auf Notfälle dieser Art sowie einer Vermeidung bzw. Reduktion der Gefahr negativer Folgeerscheinungen aufgrund der Übungen sowie im späteren Berufsalltag. Hinzu kommt die objektive Prävention mit dem Ergreifen organisatorischer Maßnahmen, welche der Entwicklung (potenziell) traumatischer Ereignisse entgegentreten. Die Grundlagen zum Thema Kommunikation, Interaktion, Coping-Strategien und Notfallpsychologie erhielten die Auszubildenden im ersten und zweiten Ausbildungsjahr, dieses Wissen konnte nun in der ‘tW’ zur Selbstfürsorge sowie während der Behandlung von simulierten Patienten angewandt werden.
Die Ergebnisse der Evaluation dienen einerseits einer optimierten Ausgestaltung künftiger Veranstaltungen und dem Nachweis erreichter Fortschritte. Andererseits sind sie unabdingbar, um die Qualität vermittelter Inhalte zu hinterfragen, insbesondere bei einem zukunftsweisenden Konzept, welches die Ausbildung von Bevölkerungsschutzkräften der aktuellen Sicherheitslage anzupassen versucht. Folglich ist jede ‚tW‘ ein stetiger Lernprozess mit Stärken und Schwächen, die ohne das hohe Engagement von Teilnehmern, Einsatzkräften und Organisatoren nicht möglich wäre. Die Inhalte können sich zukunftsgerichtet verändern, doch sollen sie als neuer Standard einer hochwertigen Notfallsanitäter-Ausbildung in Mitteldeutschland dienen, sich wandelnden Bedingungen gerecht werden und diese realitätsnah untermauern.
Crisis Prevention 1/2024
Für die Autoren:
Heike Heytens
Markranstädter Str. 6
04420 Markranstädt
Internet: www.nonagoon-health.de