Die deutsche Stromversorgung ist eine der sichersten der Welt.“ Auch eine mantraartige Wiederholung dieser Bewertung kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Versorgungssicherheit schon auf verlässlicheren Bedingungen basierte als heutzutage. Ob Cyberangriffe, Energiewende oder Extremwetter – die Liste der Risikofaktoren, die einen Blackout begünstigen, wenn nicht gar auslösen könnten, ist lang. Selbst wenn sich die Wahrscheinlichkeit kaum quantifizieren lässt, ist doch offensichtlich, dass der Grad der Gefährdung massiv zugenommen hat.
Angriffe aus dem Netz
Eine eindrucksvolle Visualisierung der Ernsthaftigkeit der Cybergefahr bietet die Internet-Seite sicherheitstacho.eu der Deutschen Telekom: Hier werden in Echtzeit auf einer Weltkarte die Cyberangriffe auf die Honeypot-Infrastruktur der Telekom samt deren regionaler Herkunft dargestellt – Tausende pro Minute, über 10 Millionen pro Tag!
Dass diese Problematik auch für die Stromversorgung höchst relevant ist, hat nicht nur das Bundesamt für Sicherheit in der Informationstechnik (BSI) wiederholt deutlich gemacht, zuletzt im Februar 2019 nach Auswertung der Angriffe des vergangenen Jahres.
Das belegen auch verschiedene Vorfälle in den letzten Jahren: 2010 machte der Computerwurm „Stuxnet“ von sich reden, der sich primär gegen Kraftwerke im Iran richtete. 2014 wurden großflächige Sabotageangriffe vor allem auf Gaskraftwerke, Pipelines und Windturbinen bekannt, insbesondere in Spanien. 2015 meinten US-Sicherheitsbehörden, in der Ukraine erstmals überhaupt einen tatsächlichen Hacker-Angriff auf die Stromversorgung mit daraus resultierendem Stromausfall nachvollzogen zu haben. 2017 rettete nur eine versehentliche Sicherheitsabschaltung ein Kraftwerk in Saudi-Arabien vor einer physischen Zerstörung durch eine von Hackern ausgelöste Explosion. – In allen Fällen waren entweder auch deutsche Anlagen infiziert, oder es wurde Software überwunden, die auch in deutschen Anlagen im Einsatz ist.
Im Juni 2019 wurde bekannt, dass die USA begonnen hätten, über seit 2012 bestehende Zugänge „digitale Eingriffe in das russische Stromnetz als Warnung an Präsident Wladimir Putin“ vorzunehmen. Russland seinerseits soll seit ebenfalls 2012 in US-Kraftwerke und -stromnetze eindringen und seit spätestens 2017 in der Lage sein, den USA den Strom abzudrehen. – Man könnte den Eindruck gewinnen, die atomare Abschreckung der 1980er Jahre habe heute eine neue Ausprägung gefunden.
Die Beispiele zeigen die Möglichkeiten, die Hacker haben, wenn sie diese denn nutzen wollen und machen die nicht mehr nur abstrakte, sondern längst sehr konkrete Bedrohung deutlich. Sicherheitsexperten weisen inzwischen darauf hin, dass die Gefährdung durch die bevorstehende Einführung sogenannter intelligenter Stromzähler („Smart Meter“), des Mobilfunkstandards 5G oder die zunehmende Verbreitung von IoT-Geräten noch weiter verschärft wird.
Atomkraft, Kohle, Gas
Unter dem Eindruck der Nuklearkatastrophe von Fukushima hat das Bundeskabinett 2011 den Ausstieg aus der Atomkraft als Baustein der Energiewende erheblich beschleunigt. Acht Atomkraftwerke verloren unmittelbar ihre Betriebserlaubnis, für die übrig gebliebenen neun Kraftwerke wurde die Laufzeit bis 2022 zeitlich gestaffelt. Aktuell sind noch sieben Atomkraftwerke in Betrieb, das nächste geht Ende 2019 vom Netz. Zuvor hatte die Atomkraft 2010 noch einen Anteil von 22 Prozent am Strommix.
Noch 2013 von der Bundesregierung als Brückentechnologie bis zur Umstellung auf Erneuerbare Energien verstanden, wurde im Sinne des Klimaschutzes inzwischen parallel ein Ausstieg aus der Kohleverstromung auf den Weg gebracht. Die eingesetzte sogenannte Kohlekommission hat sich darauf geeinigt, bis 2022 das erste Drittel der Erzeugungskapazitäten abzuschalten, alle anderen Kraftwerke bis spätestens 2038 (optional 2035). Die Bundesregierung will dem folgen. Vor der Beschleunigung des Atomausstiegs betrug der Anteil von Stein- und Braunkohle am Strommix 2010 noch 42 Prozent.
Inzwischen wird stattdessen Erdgas als Brückentechnologie betrachtet. Dessen Anteil am Strommix in Deutschland betrug 2010 13 Prozent und müsste künftig steigen, um die entfallenden Erzeugungskapazitäten kompensieren zu können. Doch bereits heute ist Deutschland der weltweit größte Importeur von Erdgas, über die Hälfte des importierten Gases stammt aus Russland. Der Bau der zusätzlichen Pipeline „South Stream“ über den Balkan ist an einer europäischen Blockade gescheitert, die bereits im Bau befindliche zusätzliche Ostsee-Pipeline „Nord Stream 2“ wird auf europäischer Ebene und von den USA bekämpft. Dadurch steht auch die Liefersicherheit des Energieträgers infrage, den Deutschland nach der Abkehr von Atomkraft und Kohle am meisten braucht.
Rechnet man Atomkraft, Kohle und Erdgas zusammen, betrug deren kumulierter Anteil am Strommix 2010 noch 77 Prozent. Diese Zahl macht deutlich, wie gewaltig die Umwälzungen sind, die mit der Energiewende einhergehen – und wie groß die Anforderungen an die Energiewende sind sowie wie groß der Druck ist, dass sie „funktioniert“.
Energiewende
Durch die Energiewende ist die Anzahl der energieerzeugenden Anlagen in Deutschland binnen zehn Jahren von rund 1 000 auf über 1,7 Millionen angestiegen. Dies erhöht nicht nur die Komplexität, sondern hat auch enorme Erzeugungsschwankungen im Bereich erneuerbarer Energien zur Folge – je nachdem, ob und wie stark beispielsweise die Sonne scheint oder der Wind weht. Während Braunkohle- oder Kernkraftwerke durchaus 7 000 oder 8 000 Stunden im Jahr zur Verfügung stehen, sind es bei Solaranlagen nur etwa 1 000 und bei Windkraftanlagen 2 000 Stunden im Jahr.
Immer dann, wenn die bevorzugten regenerativen Erzeuger nicht zur Verfügung stehen, werden nach heutigem Stand der Technik zusätzlich vorgehaltene konventionelle Kapazitäten gebraucht, um die physikalisch erforderliche Frequenz von 50 Hertz zu halten. Denn anders als Wind oder Sonne haben fossile Energieträger sozusagen einen Speicher in der Primärenergie – es kann beispielsweise jederzeit mehr oder weniger Kohle, Gas oder Öl verbrannt werden, um Strom zu erzeugen.
Perspektivisch besteht die Hoffnung, dass in Zukunft einmal großtechnische Speichertechnologien entwickelt werden könnten, die dieses Problem lösen. Bis dahin wird die Lösung im Bau neuer Leitungen zwischen Energieerzeugern und -verbrauchern gesehen, damit der Strom in dem Moment verbraucht werden kann, wenn er produziert wird. Insbesondere mehrere sogenannte Stromautobahnen sollen den Norden Deutschlands, wo die großen Windparks und Sonnenfarmen stehen, mit den Ballungsräumen und Industriezentren im Süden verbinden.
Dies wird dadurch problematisch, dass die Stromtrassen nach aktueller Planung frühestens im Jahr 2025 fertiggestellt werden – dass die Politik jedoch daran festhält, dass die letzten deutschen Kernkraftwerke bis Ende 2022 vom Netz gehen. Das bedeutet für einen mehrjährigen Übergangszeitraum eine Periode nochmals gesteigerter Gefährdung. Ob der ehemalige Bundeswirtschaftsminister Wolfgang Clement, VW-Vorstandsvorsitzender Herbert Diess oder Linde-Aufsichtsratschef Wolfgang Reitzle: Mehrere namhafte Persönlichkeiten haben in den letzten Monaten kritisch auf diese Situation hingewiesen.
Gleichzeitig werden nicht nur kaum noch neue Windkraftanlagen errichtet, sondern ab 2020 läuft nach 20-jähriger Laufzeit auch die finanzielle Förderung tausender Windkraftanlagen aus, was deren Wirtschaftlichkeit gefährdet. Dass der mit der zunehmenden Elektromobilität verbundene Energiebedarf die Problematik noch verschärfen wird, ist ebenso offensichtlich. Welche Folgen ganz banale Baggerarbeiten haben können, bei denen Erdkabel beschädigt werden, hat erst im Februar 2019 der Stromausfall in Berlin-Köpenick gezeigt, der als längster und größter -Stromausfall der Berliner Nachkriegsgeschichte gilt. Und die starken -Schneefälle in Ost- und vor allem Süddeutschland in der ersten Januarhälfte 2019 haben deutlich gemacht, dass sich das Münsterländer Schneechaos von 2005, der größte Stromausfall der jüngeren deutschen Geschichte, immer noch wiederholen kann.
Zunehmende Gefährdung
Die physikalisch erforderliche Netzfrequenz muss innerhalb eines engen Toleranzbereiches von 49,9 bis 50,1 Hertz gehalten werden. In den letzten Jahren hat die Notwendigkeit, dass die Netzbetreiber von ihrer Regelstrategie abweichen und zur Aufrechterhaltung der Netzsicherheit und der Netzstabilität in das Stromnetz eingreifen, um die Stromproduktion je nach Verbrauch zu erhöhen oder abzusenken und die Sollfrequenz wiederherzustellen, massiv zugenommen.
Die Anzahl der Eingriffe und deren Kosten haben sich vervielfacht. Jahr für Jahr werden Milliarden von Euro ausgegeben, um Reservekraftwerke vorzuhalten und permanent in die Schwankungen der Stromversorgung einzugreifen. Ständig müssen ausländische Kraftwerke notfallmäßig Strom liefern. Trotzdem müssen industrielle Großverbraucher wie Aluminiumhütten, Walzwerke und Gießereien regelmäßig abgeschaltet werden, allein Aluminiumhütten im Jahresdurschnitt alle 4 - 5 Tage. Auf der anderen Seite muss Deutschland immer öfter Negativpreise dafür bezahlen, dass das Ausland deutschen Strom abnimmt, wenn es hierzulande zu einer Überproduktion kommt.
Und trotzdem gab es in diesem Jahr bereits mehrere bemerkenswerte Vorfälle: Am 10. Januar sackte die Netzfrequenz im Stromnetz auf 49,8 Hertz ab – das ist die untere Grenze eines sicheren Netzbetriebes. Exakt zwei Wochen später, am 24. Januar, stieg die Netzfrequenz auf 50,2 Hertz – das ist die obere Grenze eines sicheren Netzbetriebes. Selbst wenn die Netzbetreiber durch ihre geglückten Eingriffe in beiden Fällen einen Blackout verhindern konnten, zeigt sich die zunehmende Anfälligkeit des Systems.
Am 6., 12. und 25. Juni war das deutsche Netz deutlich unterspeist und konnte nur mit kurzfristigen Stromimporten aus dem Ausland stabil gehalten werden. In der Spitze fehlten sechs Gigawatt an Leistung, das entspricht ungefähr der Leistung von sechs großen Kernkraftwerken. Am 29. Juni dann mussten bis zu 37 856 € pro Megawattstunde bezahlt werden – in ruhigen Zeiten bekommt man die gleiche Strommenge teils schon ab 10 €.
Crisis Prevention 3/2019
Tobias Greilich
Journalist und Fachbuchautor
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