Die Themen Sicherheit und Gefahrenabwehr standen und stehen bei Industrieparks und Betreibern von Fabrikanlagen, Forschungs- und Produktionsstätten sowie kritischen Infrastrukturen weit oben auf der Agenda. Seit geraumer Zeit haben sich die Gefahrenpotentiale und die Bedrohungslage negativ verändert. Sicherheitsmaßnahmen werden überprüft und an neue Risiken angepasst. Obendrein ist das Sicherheitsbewusstsein von Öffentlichkeit, Politik und Wirtschaft gestiegen.
So sehen auch viele Unternehmen einen Handlungsbedarf zur Modernisierung der eigenen IT-Infrastruktur und Sicherheitseinrichtungen. Integrierte Leitstellen gelten dabei als innovativer Baustein. Sie bilden die zentrale Plattform des Sicherheits- und Notfallmanagements. Dank vernetzter Informationen lassen sich so bei Vorfällen aller Art situationsgerechte Entscheidungen rasch und zum Teil prozessgesteuert treffen und alle Maßnahmen lückenlos koordinieren.
Das Aufgabenspektrum einer Industrie-Leitstelle ist klar umrissen: der umfassende Schutz der wertvollen Infrastruktur und Investitionsgüter, die konstante Überwachung aller kritischen Objekte und Areale sowie das situationsgerechte Einleiten und Koordinieren aller erforderlichen Maßnahmen zur Gefahrenabwehr und Nothilfe. Die Disponenten in der Industrie-Leitstelle tragen mit ihrem operativen und administrativen Wirken zur Sicherheit aller Betriebsangehörigen und der Bevölkerung in den umliegenden Gebieten bei.
Ob ein Brand in einer Raffinerie, eine Leckage in einer chemischen Produktionsanlage oder ein Einbruchversuch in der Entwicklungsabteilung: Stets übermitteln die Disponenten in der Leitstelle entscheidende Informationen an die Kollegen der Werkfeuerwehr und des Werkschutzes. Spezielle Software unterstützt die Leitstellen-Mitarbeiter, um Alarmierung, Benachrichtigung, Einsatzleitung und -überwachung zuverlässig vornehmen zu können – sowohl bei den stark unterschiedlichen Abläufen im Tagesbetriebs und als auch im Notfallmanagement.
Ein ganzheitliches, integriertes Einsatzleit- und Gefahrenmanagementsystem gilt als Herzstück einer zeitgemäßen Leitstelle in der Industrie. Bei Bedarf wird dieses ergänzt um ein Lagezentrum zur Bewältigung von Großlagen.
Erstaunliche Diskrepanzen
Ein Vergleich der Strukturen und technologischen Ausstattungen bei Leitstellen von Polizei, Feuerwehr, Rettungswesen und in Industrieunternehmen fördert Verblüffendes zu Tage: Organisation und auch Technik sind sehr uneinheitlich ausgestaltet.
„Es gibt beinahe so viele Lösungen, wie es Leitstellen in Deutschland gibt“, erklärt Achim Hackstein, Mitglied des Gründungsvorstandes im Fachverband Leitstellen e. V. – und dies erstaunt umso mehr in Anbetracht vorliegender Normen und Verordnungen.
So regelt die vor rund fünf Jahren in Kraft getretene europäischen Norm DIN EN 50518 die örtlichen, baulichen, technischen Anforderungen, die Abläufe und den Betrieb von sogenannten Alarmempfangsstellen, sprich Leitstellen und Sicherheitszentralen. Die strengen Anforderungen der DIN EN 50518 übertreffen bei Weitem die Vorgaben, die zuvor in Deutschland für VdS-anerkannte Notruf- und Service-Leitstellen galten.
Doch auch das Bundesministerium des Innern (BMI) hat bereits ab 2008 einen Leitfaden unter dem Titel „Schutz Kritischer Infrastrukturen – Risiko- und Krisenmanagement“ herausgegeben. Darin erhalten Behörden und Unternehmen Hilfestellungen zum Aufbau und zur Weiterentwicklung des eigenen Risiko- und Krisenmanagements. Bis alle betroffenen Leitstellen den Anforderungen der Norm genügen und die Ratschläge des BMI-Leitfadens in Bezug zu den eigenen Verhältnisse gesetzt wurden, verstreicht sicherlich noch einige Zeit. Die Gefahrenpotentiale bleiben dennoch akut.
Parallelwelten
Der 2014 gegründete Fachverband Leitstellen e. V. kritisiert nicht nur die Unterschiedlichkeiten in den Leitstellen Deutschlands, sondern verweist auch auf die uneinheitliche, nicht durchgehend geregelte Ausbildung von Disponenten. „Es gibt zahlreiche sehr gute Lösungen und ebenfalls gute Ausbildungswege, aber in beidem sehen wir deutlich Luft nach oben“, so Hackstein. Der Fachverband setzt sich daher für einen intensiven Austausch zwischen den Leitstellen, für einen einheitlichen Ausbildungsweg sowie für eine klare Formulierung des Berufsbildes des Disponenten ein.
Es fällt ebenso auf, dass zwischen den Einsatzleitzentralen von Polizei, Feuerwehr und Rettung und den Leitstellen bei Industrieunternehmen nahezu kein fachlicher Austausch erfolgt. Führt man sich vor Augen, dass mancherorts selbst zwischen Polizeiorganisationen und Feuerwehr/Rettung noch eine gewisse Voreingenommenheit besteht, so erklärt sich die Existenz der „Parallelwelt Industrieleitstellen“ zumindest im Ansatz. Ein Verständnis für diese Sachlage ist hingegen nur schwer aufzubringen. Entsprechend betont der Verbandsvorsitzende Achim Hackstein, dass bislang noch kein Industrie-Leitstellenvertreter in die Verbandsarbeit mit eingestiegen sei. Das Interesse des Verbandes an einem Austausch ist aber definitiv gegeben.
Im Angesicht der Gefahren
Technische Störungen, menschliches Fehlverhalten und katastrophale, durch klimatische Verschiebungen verstärkte Wetterereignisse – in geringerem Maße auch gewalttätige Angriffe und Terroranschläge: So liest sich die Liste potentieller Bedrohungen für Industrieparks, Fabrik- bzw. Produktionsanlagen und kritische Infrastrukturen.
Die seit einigen Jahren erhöhte Gefahrenlage und ein gewachsenes Sicherheitsbewusstsein bei Industrieunternehmen hat dazu geführt, „dass die Anforderungen der Industrieunternehmen an ihre Sicherheitsprozesse gestiegen sind“, so Leitstellenexperten Dr. Jens Hartmann vom Lösungsanbieter Hexagon Safety & Infrastructure (vormals bekannt als Intergraph SG&I). „Deutlicher Trend ist es, die verschiedenen Gewerke der komplexen Überwachungslandschaft zu vernetzen und in einer integrierten Industrie-Leitstellenlösung zusammenzuführen.“
Integrierte Leitstelle als ideale Lösung
Der Alltag vieler Leitstellenmitarbeiter sieht bis heute so aus: Mit Hilfe verschiedener Einzelrechner und nicht verknüpfter IT-Systeme sind die komplexen Brand-, Gas- und Einbruchmeldeanlage, Zutrittskontrollsysteme sowie die Videoüberwachung dauerhaft im Blick zu behalten. Darüber hinaus müssen Notrufe angenommen werden. Und im Ernstfall sind die Einsatzkräfte von Werkschutz und Werkfeuerwehr über weitere Einzelsysteme zu alarmieren und koordinieren, gegebenenfalls sind die verantwortlichen Stellen im Unternehmen und bei den Aufsichtsbehörden individuell zu informieren.
Von dieser Arbeitsweise nehmen immer mehr Industriebetriebe Abstand.
Heute ist es Stand der Technik, die Gewerke der Werkfeuerwehr und des Werkschutzes in einer integrierten Leitstelle zusammenzufassen.
„Dabei werden automatisierte Prozesse definiert und in Gang gesetzt“, erläutert Dr. Hartmann. „So wird ein hohes Maß an Qualität, Geschwindigkeit und damit Sicherheit für alle Beteiligten gewährleistet. Und die Disponenten erfahren in ihrer verantwortungsvollen Arbeit massive Unterstützung.“ Nicht selten wird auch ein modern ausgestattetes Lagezentrum in enger Vernetzung mit der Leitstelle aufgebaut, um für Großschadensereignisse optimal gerüstet zu sein.
Beispiel Spezialchemie
Als Inbegriff einer derartigen zeitgemäßen Lösung gilt das Leitstellen-Verbund- und Informations-System beim Spezialchemie-Konzern Evonik. Dort hatte Hexagon Safety & Infrastructure als einer der führenden Anbieter für Einsatzleittechnologie je eine integrierte Leitstelle an den Evonik-Standorten in Darmstadt/Weiterstadt und Worms implementiert. Dies geschah in enger Kooperation mit namhaften Anbietern aus der Sparte Gefahrenmanagement (Advancis Software & Services) und dem Bereich Sprachkommunikation (Frequentis).
Drei Werke, zwei Standorte, rund 3.000 Mitarbeiter – all das steht durch die 2015 in Betrieb genommenen vernetzten Einsatzleitsysteme unter konstanter Überwachung. Wird beispielsweise in Darmstadt/Weiterstadt ein Alarm ausgelöst, erhält die Leitstelle in Worms zeitgleich dieselbe Meldung und unterstützt im Ernstfall. Die physikalischen Sicherheitssysteme wie Brand- und Gaswarnmelder, Zutrittskontroll- und Wächtersysteme, die Anlagen der Gebäudetechnik, Kameras, Kommunikationssysteme sowie Alarmierungs- und Benachrichtigungssysteme sind auf der einheitlichen Einsatzleit-Plattform zusammengeführt.
Ziel war es, das Tagesgeschäft der Evonik-Werkfeuerwehr zu optimieren und eine erhöhte Sicherheit im Ernstfall zu gewährleisten. Beide Ziele wurden laut Einschätzung des Unternehmens erreicht.
Die hohe Verantwortung, die zuvor allein auf den Schultern der Leitstellen-Mitarbeiter lag, wird nun durch die moderne IT-Technologie mitgetragen.
Michael Kracke, Leiter Brand- und Werkschutz am Standort Worms: „Entscheidungen, die zuvor stärker personenabhängig waren, laufen nun in automatisierten Prozessen schneller und verlässlicher ab, denn der Stressfaktor für die Disponenten hat sich deutlich verringert.“ Und Dr. Armin Neher, Standortleiter von Evonik in Darmstadt/Weiterstadt, ergänzt: „Die Vernetzung der beiden Standorte bedeutet für uns, alle sicherheitsrelevanten Informationen jederzeit an jeder Stelle vorliegen zu haben. Das entlastet die Mitarbeiter und erhöht die Sicherheit nach innen und außen. Auch wirtschaftlich ist die neue Leitstellentechnologie unsere erste Wahl – wir hätten deutlich Personal aufstocken müssen, um mit dem gestiegenen Sicherheitsbedürfnis mithalten zu können.“
Neben den Leitstellen mit dem integrierten Einsatzleit- und Gefahrenmanagement wurde auch ein neues Lagezentrum in Darmstadt/Weiterstadt in Betrieb genommen. Im Falle eines Großereignisses tritt hier der Werks-Krisenstab zusammen und organisiert dank der optimalen Informationslage rasche und fundierte Entscheidungen. Ebenfalls einbezogen – falls erforderlich – ist die Konzernzentrale von Evonik in Essen, die über Kommunikationsmedien im Lagezentrum zugeschaltet werden kann.
Crisis Prevention 3/2016
Dr. Matthias Alisch
c/o Intergraph SG&I Deutschland GmbH
Head of Marketing, EMEA
Hexagon Safety & Infrastructure
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