17.01.2022 •

Entscheidungsunterstützung im Katastrophenschutz

Künstliche Intelligenz analysiert und fusioniert Erdbeobachtungs-
und Internetdaten

Marc Wieland, Bernd Resch, Konstanze Lechner

Bild: DLR - ZKI

Die Bewältigung von Katastrophenereignissen wie Hochwasser ist sehr komplex: Einsatzkräfte müssen zu den betroffenen Gebieten gelangen. Mögliche An- und Abfahrtswege für Einheiten müssen deswegen identifiziert sein. Personen vor Ort und die Öffentlichkeit sollen zeitnah über die Situation unterrichtet werden.

Abb. 1: Automatisierung der Auswertung von Fernerkundungs- und Internetdaten im...
Abb. 1: Automatisierung der Auswertung von Fernerkundungs- und Internetdaten im AIFER Projekt.
Quelle: DLR – ZKI

Big-Data und Künstliche Intelligenz im Katastrophenschutz

Augenzeugenberichte, Meldungen von Einsatzkräften und technische Sensoren sind gängige Quellen der Lageinformations­erstellung. Umfassende Lageinformation ist in jedem Fall die Grundlage für eine effektive und effiziente Bewältigung komplexer Katastrophenereignisse und damit von großer Bedeutung für den Schutz der Bevölkerung. Aus diesem Grund muss deren Verfügbarkeit und Qualität kontinuierlich, insbesondere unter Einsatz neuer Quellen, Methoden und Systeme, verbessert werden.

In jüngster Zeit beobachten wir eine Zunahme an (frei) verfügbaren Datenquellen und damit einhergehend eine bisher weitestgehend ungenutzte Datenflut, die für die Lageinformationserstellung sinnvoll eingesetzt werden könnte. Insbesondere eine wachsende Anzahl an Erdbeobachtungsdaten aus der Fernerkundung (FE) (Satelliten-, Flugzeug- oder Drohnendaten) und aus Geo-sozialen Medien können zu einer Verbesserung der räumlichen und zeitlichen Auflösung, geographischen Abdeckung und des thematischen Informationsgehalts der Lageerfassung und -einschätzung beitragen. Unabhängig von der betrachteten Naturgefahr müssen relevante Informationen für Endanwender schnellstmöglich zur Verfügung stehen (innerhalb weniger Stunden), kontinuierlich aktualisiert werden (sobald neuere oder genauere Informationen verfügbar sind), intuitiv lesbar sein (relevante Hot Spots sind direkt erkennbar) und dynamisch in bestehende Systeme integrierbar sein (Schnittstellenstandards). 

Außerdem sollten die Produkte finanzierbar und jederzeit (24/7) abfragbar sein, sowie nach der Krisensituation zur Einsatzevaluation genutzt werden können. Diesbezüglich erlaubt es die weltweite Verfügbarkeit und Sensorvielfalt von FE-Daten auch bei hoch variablen Bedingungen flexibel und performant zu agieren. Gleich verhält es sich mit Internetdaten, die nach bisherigen Erfahrungen nahezu flächendeckend vorhanden sind. Neue ­Herausforderungen an den Katastrophenschutz ergeben sich diesbezüglich vor allem hinsichtlich der Auswertung der zunehmend heterogenen und großen Datenmengen in naher Echtzeit und der Fusion von abgeleiteten Informationsprodukten für intuitive, transparente und fokussierte Entscheidungsunterstützung.

Parallel zu den Entwicklungen auf der Datenseite finden in der Datenauswertung vermehrt Ansätze der (schwachen) Künstlichen Intelligenz (KI) Anwendung. Sowohl im Bereich der für FE-Daten relevanten Bildanalyse als auch in der meist textbasierten Auswertung von Geo-sozialen Medien werden regelbasierte Ansätze und „klassische“ maschinelle Lernverfahren zunehmend von performanteren Neuronalen Netzwerken abgelöst. Die Netze können im Ganzen von den Rohdaten bis zur Ausgabe trainiert werden, lassen sich effizient auf große Datensätze skalieren und sind leicht übertragbar. 

Essenziell für Training, Validierung und Test solcher KI-Verfahren ist die Entwicklung von Referenzdatensätzen. Neben frei verfügbaren Benchmark-Datensätzen bieten sich auch Archivdaten vergangener Krisenkartierungen dafür an. Für eine Anwendung solcher Verfahren im Katastrophenschutz ergeben sich jedoch noch einige bisher kaum beachtete Herausforderungen aus der Anpassung von Netzwerken und Lernprozessen an Spezifika von FE- und Internetdaten sowie aus der Integration der Methoden in die operationellen Abläufe von Krisenkartierungen. Hierbei sind Themen der Standardisierung, Transparenz und Zeiteffizienz zu berücksichtigen.

Abb. 2: Vorher-Nachher Vergleich von Luftbildern des Hochwassers in Bad...
Abb. 2: Vorher-Nachher Vergleich von Luftbildern des Hochwassers
in Bad Neuenahr – Ahrweiler.
Quelle: DLR - ZKI

Das AIFER Projekt

Mit dem übergeordneten Ziel, bestehende Methoden der Krisenkartierung in ein Big-Data-Zeitalter zu überführen, wurde im Februar 2021 das AIFER Projekt (Artificial Intelligence for Emergency Response) ins Leben gerufen. AIFER ist ein bilaterales Forschungsprojekt bestehend aus einem interdisziplinär aufgestellten deutsch-österreichischen Konsortium. Die Projektleitung liegt beim Deutschen Zentrum für Luft- und Raumfahrt (DLR) und der Universität Salzburg – Fachbereich Geoinformatik. Österreichische Konsortialpartner sind die Johanniter, das Österreichische Rote Kreuz – Landesverband Salzburg, die Spatial Services GmbH sowie das Institut für Empirische Sozialforschung. 

Deutsche Konsortialpartner sind die Disy Informationssysteme GmbH, die Universität Kassel - Fachgebiet öffentliches Recht, IT-Recht und Umweltrecht, das Bayerische Rote Kreuz sowie das Technische Hilfswerk. Auf deutscher Seite wird das Projekt durch das Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) im Rahmen des Programms „Forschung für die zivile Sicherheit“ gefördert. Auf österreichischer Seite erfolgt die Förderung durch das Bundesministerium für Landwirtschaft, Regionen und Tourismus (BMLRT) im Rahmen des „Förderungsprogramms für Sicherheitsforschung (KIRAS)“.

Ausgangspunkt für das Projekt sind FE-Verfahren, die sich in den letzten Jahren als effektives Werkzeug zur Detektion von Ausmaß und Schäden von Katastrophen bewährt haben. Vergangene Einsätze haben jedoch zwei entscheidende Einschränkungen operationeller Ansätze zur Krisenkartierung aufgezeigt:

  1. Satellitengestützte Krisenkarten werden weitestgehend ­manuell erstellt, was einige Stunden bis Tage dauern kann
  2. Nicht alle einsatzrelevanten Informationen können rein aus FE-Daten zuverlässig abgeleitet werden. Hier sind neben den üblich verfügbaren Behördendaten und Einsatzberichten u.a. zusätzliche Vorort-Informationen von Geo-sozialen Medien unabdingbar.

Das AIFER Projekt zielt dementsprechend darauf ab, bestehende operationelle Verfahren der Krisenkartierung aus FE-Daten, wie sie am Zentrum für satellitengestützte Krisen­information (ZKI) des DLR bereits seit vielen Jahren zum Einsatz kommen, zu automatisieren und mit nutzergenerierten Internetdaten und weiteren Informationen dynamisch zu fusionieren. Unter Einbezug aller verfügbarer Datenquellen soll so in kürzerer Zeit zu genauerer, umfassenderer und aktuellerer Lageinformation beigetragen werden als dies derzeit in der Praxis möglich ist. KI-Verfahren kommen hier insbesondere bei der Automatisierung der FE- und Internetdatenauswertung zum Einsatz (Abbildung 1).

Im Fall der FE-Datenauswertung handelt es sich vorrangig um Methoden der kognitiven Bilddatenanalyse aus den Bereichen Semantische Segmentierung (z.B. zur Erkennung von Hochwasserflächen), Objekterkennung (z.B. für die Gebäude- oder Autodetektion) und Änderungsanalyse (z.B. zur Identifikation von Schäden durch einen Vorher-Nachher Bildvergleich). Die Neuronalen Netzwerke werden entsprechend der Eigenschaften von FE-Daten entwickelt und mittels einer speziell für die Krisenkartierung aufgebauten Referenzdatenbank auf Basis von Archivdaten trainiert, validiert und getestet. Für die Analyse von Daten aus Geo-sozialen Medien werden KI-Verfahren zur semantischen Themenanalyse mit raum-zeitlichen Auswertungen kombiniert. 

So können räumliche und zeitliche „Hot Spots“ von erhöhter Aktivität in sozialen Medien identifiziert werden, die hochdifferenziert bestimmte Anwendungsfälle adressieren. Wo Menschen vermehrt über eine Katastrophe sprechen, ist erwiesenermaßen ein aussagekräftiges und verlässliches Indiz für deren Ausmaß. Des Weiteren werden spezielle Methoden und Werkzeuge auf Basis geostatistischer und maschineller Lernverfahren entwickelt, um FE-, Internet- und anderen Daten zu fusionieren und Informationsebenen mit unterschiedlichem semantischen Informationsgehalt in interaktive, entscheidungsunterstützende Informationsvisualisierungen und proaktive Benachrichtigungen zusammenzuführen.

Neben dem Potenzial der Nutzbarmachung von heterogenen Massendaten aus ­FE- und Internetquellen wirft deren Verwertung unter Einsatz von KI auch etliche bisher nicht bzw. nur mangelhaft geklärte rechtliche, soziologische und ethische Forschungs- und Anwendungsfragen auf. Diese betreffen insbesondere Aspekte des Datenschutzes, Einhaltung von Transparenzanforderungen (Stichwort „Black Box“), Erwartungen und Befürchtungen der beteiligten Akteure sowie die Ermittlung möglicher zukünftiger Stärken und Schwächen der Anwendung. In AIFER werden solche Fragestellungen explizit untersucht und proaktiv in die Projektentwicklung integriert, um die Akzeptanz der Forschungsergebnisse in der praktischen Anwendung zu stärken. Durch eine enge Integration von Endanwendern in die Projektentwicklungen wird ferner bewusst versucht, die Ausrichtung der Forschungs- und Entwicklungsarbeiten mit den Bedarfen des ­Katastrophenschutzes abzugleichen. So sollen Forschungsergebnisse und Methoden für die Praxis nützlich und nutzbar sein und über den wissenschaftlichen Erkenntnisprozess hinaus einen messbaren Mehrwert für Gesellschaft und Anwender generieren.

Mittels KI-Verfahren aus Radar-Satellitendaten abgeleitete Hochwasserflächen...
Abb. 3: Mittels KI-Verfahren aus Radar-Satellitendaten abgeleitete Hochwasserflächen in einem Kartenprodukt des Zentrums für satellitengestützte Kriseninformation (ZKI).
Quelle: DLR – ZKI

Hochwasser Deutschland 2021

Langanhaltender Starkregen hat am 14. und 15. Juli 2021 zu einer Flutkatastrophe in Nordrhein-Westfalen, Rheinland-Pfalz und Oberbayern geführt. Das ZKI des DLR wurde frühzeitig vom ­B­­ayerischen Roten Kreuz (BRK) alarmiert, so dass die Helfer in kürzester Zeit Satelliten- und Luftbilddaten erheben konnten und diese im Hinblick auf Krisen- und Lageinformationen auswerteten. Unmittelbar nach dem Hochwasser stellte das DLR die ersten Luftbilder der Schadensgebiete bereit, die am 15., 16. und 20. Juli 2021 mit DLR-Kamerasystemen von Forschungsflugzeugen und einem Hubschrauber aufgenommen wurden.

Um wertvolle Zeit zu sparen und die Daten unmittelbar nach der Landung an die Nutzer auszuliefern, wurden die Luftbilder teils noch während des Fluges an Bord verarbeitet und in die richtige Kartenlage gebracht. Die Luftbildaufnahmen wurden an dutzende Behörden und Einsatzstäbe vor Ort weitergegeben. Zudem wurden diese sowie weitere Radar-Satellitendaten ad hoc ausgewertet und die abgeleiteten Lageinformationen bereitgestellt. Bei den Auswertungen kamen bereits einige der im Rahmen von AIFER noch in Entwicklung befindlichen KI-Verfahren und automatisierte Bildverarbeitungsprozesse zum Einsatz. So wurden beispielsweise Hochwasserflächen auf Basis von Radar-Satellitenaufnahmen großflächig (ca. Bundeslandabdeckung), mit hoher räumlicher Auflösung (ca. 20m Bodenauflösung), zeitlicher Wiederholrate (täglich) und innerhalb kürzester Zeit extrahiert und in hochaktuelle Kartenprodukte überführt.

Die KI-Verfahren konnten hier die Auswertungszeit von mehreren Stunden mit bisherigen Verfahren auf wenige Minuten reduzieren und ermöglichten so nicht nur eine schnellere Informationsbereitstellung, sondern auch eine höhere Auswertefrequenz und damit eine kontinuierliche Beobachtung der Lage. Darüber hinaus wurden Daten aus geo-sozialen Medien analysiert, womit die Erstellung eines Lagebildes in naher Echtzeit ermöglicht wurde – Bereitstellung erster Kartenprodukte innerhalb von wenigen Stunden, Updatezyklus bis zu stündlich. So konnte Einsatzkräften und Behörden laufend ein aktueller Einblick in die Lageentwicklung gewährt werden. Neben einer Zeitreihendarstellung beinhaltet die Lageinformation auch eine dynamische kartografische Darstellung, über die Bedarfsträger einen Überblick über die geografische Verteilung des Ausmaßes der Katastrophe bekommen konnten. Ein detaillierter Einblick wurde über die Darstellung von Social Media Texten, Bildern und Videos erlangt.

Ergebnisse der raum-zeitlichen Analyse von geo-sozialen Medien. Räumliche...
Abb. 4: Ergebnisse der raum-zeitlichen Analyse von geo-sozialen Medien. Räumliche Verteilung von Hotspots (oben) und zeitliche Entwicklung von relevanten Tweets mit Bezug zum Hochwasser.
Quelle: Universität Salzburg – ZGIS

Ausblick

Die derzeit in AIFER entwickelten Methoden zielen darauf ab Anwendergruppen des Zivil- und Katastrophenschutzes bei einer zielgerichteten Einsatzplanung zu unterstützen und damit zu einer schnelleren und effizienteren Bewältigung von Katastrophen beizutragen. Durch die Bündelung von Expertenwissen, Archiv- und nahe Echtzeitdaten in KI-Modellen sollen neue Maßstäbe in Bereichen der Krisenkartierung aus FE-Daten, der Auswertung von Internetdaten und der Informationsfusion gesetzt werden. In Zukunft sollen es die in AIFER entwickelten Methoden auch ermöglichen Informationen zu Exposition (z.B. betroffene Infrastruktur, Bevölkerung) und Auswirkungen (z.B. Gebäudeschäden) abzuleiten. Durch die Fusion der Ergebnisse aus verschiedenen Quellen sollen die Verlässlichkeit der Informationen verbessert werden, neue Informationsebenen generiert werden und diese in interaktiven Visualisierungen und proaktiven Benachrichtigungen zusammengeführt werden. 

Die angestrebte Prozessautomatisierung wird es ermöglichen, Abläufe im Katastrophenschutz zu skalieren und Informationen großer räumlicher und zeitlicher Auflösung systematisch zu generieren. Hierbei soll der Weg bereitet werden weg von einer statischen Betrachtung einzelner Zeitpunkte, hin zu einer dynamischen Beobachtung einer Lage unter Berücksichtigung der stets aktuellen Informationen. Eine interdisziplinäre Zusammenarbeit zwischen Wissenschaft, Wirtschaft und Anwendern mit dezidierter Bedarfserfassung, praxisnaher Erprobung und kritischer Reflexion rechtlicher, soziologischer und ethischer Aspekte ist hierbei besonders wichtig, um Ergebnisse für die Praxis nützlich und nutzbar zu machen und die Akzeptanz für neue KI-Methoden und Datenquellen zu ­er­höhen. 

Literatur bei den Verfassern


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