Leitstelle: Nach der Hitze kommt der Starkregen

Wie Künstliche Intelligenz die Ressourcenplanung und das Training bei Extremwettersituationen praktisch unterstützen kann

Joachim von Beesten

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Hamburg, München, Cottbus, Tostedt, Steinthaleben – die Liste von Starkregenereignissen im ‚Sommer‘ 2024 ließe sich noch weiter fortsetzen. Auch wenn tagelange Hitzerekorde im laufenden Jahr noch großflächig ausbleiben, nehmen Extremwetterereignisse in Häufigkeit und Stärke zu. Damit steigen auch die Herausforderungen an die Leitstellen, rechtzeitig und zielgerichtet zu reagieren, um Hilfsfristen und Versorgungsqualität hochzuhalten.

Schematische Darstellung der Sensor Fusion um das KI-Modell zu trainieren
Schematische Darstellung der Sensor Fusion um das KI-Modell zu trainieren
Quelle: IABG

Im Projekt AIRCIS widmen sich Einsatzkräfte, Forscher und Anbie- ter gemeinsam der Fragestellung, wie Künstliche Intelligenz die Rettungskette bei Extremwettersituationen unterstützen kann. Als Ergebnis des Projektes soll eine Entscheidungsunterstützung in Form einer Visualisierung für den Lagedienstführer in der Leitstelle stehen, die Wetterdaten unterschiedlicher Modelle, mit Einsatzdaten der letzten Jahre sowie regionalspezifische Parameter (CENSUS, Kanalnetze, etc.) so miteinander verschneidet, dass eine belastbare Prognose für die Einsatzentwicklung der nächs- ten Stunden entsteht.

Theoretisch möglich – praktisch nutzlos

Neue Systeme führen nur dann zu einer hohen Akzeptanz, wenn sie entlang des Bedarfes der Nutzer entwickelt werden und reale Probleme lösen. Basierend auf einer Vorstudie im Jahr 2022 sowie mehreren Arbeitstreffen mit über einem Dutzend Leitstellen und -mitarbeitern wurden im Rahmen des Projektes detaillierte Anwendergeschichten (sog. User Storys) formuliert, die den Nutzen der Lösung für jeden beteiligten Akteur / Rolle klar formulieren: Als Lagedienstführer möchte ich, dass das AIRCIS System bei einer erkannten Knappheit an Ressourcen automatisch Vorschläge zur effizienten Verteilung macht, damit die verfügbaren Ressourcen bestmöglich genutzt werden und der bestmögliche Einsatz gewährleistet ist.

Über dreißig dieser Anforderungen wurden detailliert ausgestal- tet, so dass diese in die Entwicklung des Systems mandatorisch einfließen. Dieses in der Softwareentwicklung nicht unbekannte Verfahren der agilen Softwareentwicklung bindet in zwei- bis dreiwöchigen Zyklen (Sprints), die Endanwender immer wieder mit ein. Die im Vorprojekt identifizierte Lücke an Trainings- und Planungstools für Extremwetter bedingte Lagen findet sich somit genauso in der Lösung wieder wie ein Prognosemodell zur Einsatzentwicklung, das aus unterschiedlichen Datenquellen gespeist wird. Die technologische Weiterentwicklung hinsichtlich Rechnergeschwindigkeit, zunehmende Erfahrungen mit dem Umgang von Werkzeugen und Modellen im Bereich der Künstlichen Intelligenz ermöglichen es erst, den im Projekt eingeschlagenen Pfad technisch umzusetzen.

Endlich im Mittelpunkt: Lagedienstführer

Im Rahmen des Projektes AIRCIS wird daher erstmals die Rolle des Lagedienstführer konsequent in den Mittelpunkt der Pro- duktentwicklung gesetzt. Traditionelle Rettungssysteme, die sich im Laufe der Zeit mit den wachsenden Anforderungen ihrer Nut- zer weiterentwickelt haben, stoßen heute aufgrund der zuneh- menden Komplexität der Einsatzszenarien an ihre Grenzen. Diese Komplexität stellt hohe Anforderungen an die Benutzeroberflächen, da die Lagedienstführer mit immer anspruchsvolleren Aufgaben konfrontiert sind.

Das Projekt AIRCIS zielt darauf ab, Technologien zur Vorhersage von Ereignissen in eine benutzerfreundliche Software zu integrie- ren, die speziell auf die Bedürfnisse der Lagedienstführer in Leitstellen zugeschnitten ist. Dies ist ein bahnbrechender Ansatz, da diese Nutzergruppe bisher wenig Beachtung in der Design- und Softwarewelt gefunden hat. Um sicherzustellen, dass die entwickelten Lösungen den tatsächlichen Anforderungen der Lagedienstführer entsprechen, wurden diese systematisch erfasst und in detaillierte User Stories sowie Personas (Profile von Akteuren bzw. Anwendern) umgesetzt. Diese Herangehensweise stellt sicher, dass die entwickelten Lösungen praxisnah und nutzerzentriert sind. Die Designer und Entwickler haben sämtliche derzeit in Leitstellen aktive Systeme gründlich analysiert. 

Diese Analyse umfasste nicht nur die technische Funktionsweise, sondern auch die Benutzerfreundlichkeit und die spezifischen Bedürfnisse der Lagedienstführer. Die gewonnenen Erkenntnisse wurden dann mit den spezifischen Anforderungen der Lagedienstführer abgeglichen. Das Ergebnis dieser intensiven Analyse und des nutzerzentrierten Entwicklungsprozesses ist eine Oberfläche, die genau auf die Anforderungen der Lagedienstführer zugeschnitten ist.Diese neue Benutzeroberfläche stellt eine kleine Revolution dar, da sie eine völlig neue Designsprache spricht, die sich deutlich von bisherigen Systemen unterscheidet. Die Designsprache der derzeit im Projekt favorisierten Lösung zielt darauf ab, die Benutzerfreundlichkeit zu maximieren und gleichzeitig die Effizienz und Effektivität der Lagedienstführer zu steigern. Durch die klare, intuitive und übersichtliche Gestaltung der Benutzeroberfläche können Lagedienstführer schneller und präziser Entscheidungen treffen, was in kritischen Situationen von entscheidender Bedeutung ist. Ein weiterer wichtiger Aspekt des Projekts war der Wissensaus- tausch und die Integration von Erkenntnissen aus der Forschung zur Barrierefreiheit sowie Plattformen für Krankentransporte bzw. Patientenbeförderung. Diese Erkenntnisse flossen in die Entwick- lung der Benutzeroberfläche ein und tragen dazu bei, die Nutzung der Software für alle Anwender, einschließlich Menschen mit Behinderungen, zu optimieren. Dies fördert nicht nur die Inklusion, sondern erhöht auch die allgemeine Benutzerfreundlichkeit und Effizienz.

Die systematische Aufnahme der Anforderungen und die iterative Entwicklung in Form von Sprints ermöglichen es, die Endanwender immer wieder einzubeziehen und sicherzustellen, dass ihre Bedürfnisse und Anforderungen kontinuierlich berücksichtigt werden. Diese agile Vorgehensweise stellt sicher, dass die entwickelten Lösungen praxisnah und nutzerzentriert sind. Über dreißig Anforderungen wurden detailliert ausgestaltet und in die Entwicklung des Systems integriert.

Die Ergebnisse dieser intensiven Nutzerfokussierung sind essenziell für die Akzeptanz der neuen Software und Benutzeroberfläche durch die Lagedienstführer. Indem ihre spezifischen Bedürfnisse und Anforderungen in den Mittelpunkt der Entwicklung gestellt wurden, wird sichergestellt, dass die Software nicht nur hilfreich, sondern auch intuitiv und benutzerfreundlich ist. Dies führt zu einer höheren Akzeptanz und Nutzung der Software, was letztlich die Effizienz und Effektivität der Rettungsdienste in Extremsituationen deutlich steigern wird.

Abb. 2: Schematische Darstellung zum Vorgehen beim Prognosemodell
Abb. 2: Schematische Darstellung zum Vorgehen beim Prognosemodell
Quelle: IABG

Sensor-Fusion – standardisiert und zukunftssicher Daten in der Leitstelle nutzen

Um eine KI bestmöglich in einem solchen Szenario nutzen zu können bedarf es standardisierter, verlässlicher und zukunftssicher Daten. Hierbei spricht man von Sensor-Fusion. Im Allgemei- nen bedeutet dies, dass Ausgabedaten/Informationen mehrerer Sensoren oder Datenquellen verknüpft und zur Gewinnung von Informationen besserer Qualität herangezogen werden. Im kon- kreten Fall des AIRCIS Projektes wurde im Rahmen der Erstellung der UseCases das Augenmerk daraufgelegt, welche relevanten Daten/Informationen mit einfließen müssen. Dies sind u.a. historische Einsatzdaten aus dem Einsatzleitsystem, Telefondaten der Notrufanlage, Wetterdaten, CENSUS-Daten, Veranstaltungs- daten oder Daten des Abwassersystems. Diese sowohl historischen Daten als auch Livedaten müssen analysiert und bewertet werden und für die KI Modelle in ein standardisiertes und verwertbares Format gebracht werden. Im Rahmen dieser Vorgehensweise wurde dann auch festgestellt das einige wünschenswerte und sinnvolle Daten nicht verfügbar sind. So gibt es z.B. keine historischen Daten aus dem Abwassernetz, weil keine Sensoren vorhanden sind, die Wasserstände erfassen.

Bevor die Daten zum Trainieren der KI verwendet werden können, müssen Anomalien, Ereignisveränderungen und Trends erkannt und gefiltert werden. Diese Ausreißer sind Ereignisse, die nicht prognostizierbar sind. Dies sind beispielsweise ein großer Reisebusunfall ohne besondere Wetterereignisse oder gesetzliche Vorgaben, wie das temporäre Verbot von Feuerwerkskörpern an Silvester.

Anschließend erfolgt eine statistische Auswertung, um wichtige Einflussfaktoren identifizieren zu können. Diese Datenanalyse benötigt jedoch die Erfahrung der Leitstelle, wenn einfache statis- tische Techniken nicht ausreichen, um erste Erkenntnisse der Daten zu erlangen. Weiter können verschiedene Datenvisualisierungs- und explorative Datenanalysetechniken ebenfalls hilfreich sein.Erst nach Abschluss dieser Schritte wird die KI trainiert. Dabei wird das Modell erstellt, das in der Lage ist, Prognosen für zukünf- tige Zeiträume zu erstellen.

Die neuesten Daten des historischen Datensatzes werden der KI zum Training vorenthalten. Diese eignen sich dazu, um nach dem Training die Vorhersageergebnisse auf Genauigkeit überprüfen zu können. Alle anderen Daten werden in zeitliche Abschnitte unter- teilt und der KI für mehrere Trainingsschritte zur Verfügung gestellt. Der größte Datensatz wird für die initiale Lernphase verwendet. Anschließend wird das daraus resultierende Modell mit Hilfe der weiteren Daten verfeinert. Dieser iterative Vorgang ist essenziell, um eine Überanpassung an die Trainingsdaten zu vermeiden.

Prognosemodelle aus aktuellen Parametern

Bei der Erstellung der KI für das AIRCIS Projekt werden zwei Prognosemodelle angewandt: das Volumenmodell und das Verteilungsmodell. Das Volumenmodell prognostiziert die Anzahl der zu erwartende Einsätze pro Zeitfenster, während das Vertei- lungsmodell die Wahrscheinlichkeit des Aufkommens räumlich über die ganze Region prognostiziert.

In unserem Fall gehen wir von Zeitreihendaten aus, die in der Regel in gleichmäßigen Abständen zu verschiedenen Zeitpunkten beobachtet wurden. Ein wichtiges Merkmal einer Zeitreihe ist die Variation. Dabei wird zwischen saisonalen und zyklischen Variationen unterscheiden.

Saisonale Schwankungen werden in der Regel als jährliche Muster definiert, wie z. B. das Aufkommen von Autounfällen durch Glatteis, welches ausschließlich im Winter vorkommt, oder Badeunfälle, welche häufiger im Sommer auftreten. Die zyklische Variation ist eine Variation, die in anderen festen Zeiträumen auftritt, wie z. B. die tägliche Variation der Temperatur.

Die KI verwendetet zur Erstellung der Prognosen das ARIMA-Mo- dell (Auto Regressive Integrated Moving Average) sowie das LSTM-Modell (Long Short Term Memory). Diese beiden Modelle können den sequenziellen Charakter des Problems nutzen und sind in der Lage, saisonale und zyklische Schwankungen im Laufe der Zeit zu erkennen.

Bei der Erstellung der Prognose werden der KI aktuelle Daten wie Wetter und Wettervorhersage sowie die Daten der letzten Tage bereitgestellt, damit die KI auch kurzfristige Trends und Wetterdaten berücksichtigen kann. Das in der Abbildung gezeigte Verfahren generiert die für die Leitstelle relevanten Prognoseda- ten. Die Erstellung der Prognose ist im Gegensatz zum Trainieren der KI nicht sehr rechenaufwändig und kann regelmäßig neu durchgeführt und aktualisiert werden. Die Prognosedaten finden dann Berücksichtigung im sogenannten Simulationsmodell.

Abb 3a Abb 3b

Simulationsmodell der Rettungskette

An der Brandenburgischen Technischen Universität Cottbus-Senftenberg (BTU) wird ein agentenbasiertes Modell (Agent-Based Modeling, ABM) entwickelt, um die Rettungskette ereignisorientiert zu simulieren (Discrete-Event-Simulation, DES). Bestandteile des Rettungsdienstes, wie etwa Einsatzfahrzeuge, Personal oder Patienten sind einzelne Agenten, welche in einer Umgebung nach einem definierten Schema, einem sogenannten Zustandsdiagramm, handeln, interagieren und kommunizieren. Ein solches Zustandsdiagramm ist exemplarisch für einen Rettungstransportwagen in Abb. 4 dargestellt. Dieses Werkzeug ermöglicht die Simulation von Rettungseinsätzen in einem vordefinierten Zeitraum und für verschiedene Szenarien, etwa temporär erhöhtes Einsatzaufkommen durch Extremwetterereignisse, gesperrte Straßenabschnitte, verschiedene Flottenstärken und Standortkonfigurationen der Einsatzfahrzeuge. Diese Standorte werden durch ein gemischtganzzahliges lineares Optimierungsmodell (Mixed-Integer Linear Program, MILP) errechnet, welches das zeitlich und örtlich variable Einsatzaufkommen auf Grundlage von OpenData (ZENSUS) und historischen Einsatzdaten integriert. Die Simulation erlaubt Auswertung und Monitoring verschiedener Kenngrößen und Verteilungen zur Anfahrtszeit, Hospitalisierungszeit, Gesamteinsatz- zeit und Einhaltung der Hilfsfrist quantifiziert werden, wie gut der Rettungsdienst in bestimmten Szenarien funktioniert. Das Simulationsmodell ist modular aufgebaut und wird im Projekt schrittweise um weitere Funktionalitäten (Anwendungsfälle, Rettungsmittel) erweitert.

Abb 4: Simulation eines RTW im Rettungsdienstbezirk Cottbus
Abb 4: Simulation eines RTW im Rettungsdienstbezirk Cottbus
Quelle: BTU

Somit liefert das Prognosemodell in der beschriebenen Art und Weise den ‚fusionierten‘ Input für das Simulationsmodel. Die relevanten Informationen und Entscheidungshilfen für den Lage- dienstführer werden anschließend in einer innovativen Art und Weise dargestellt.

Ich weiß, was Du nächsten Sommer tuen wirst

In den verbleibenden 15 Monaten der Projektlaufzeit wird es darum gehen, das Prognose- und das Simulationsmodell noch weiter zu optimieren. Das Interesse an den Fragestellungen, die im Projekt behandelt werden, ist in In- und Ausland groß, da die ähnlich gelagerten Herausforderungen weltweit zunehmen. Daher ist es angezeigt, dass nur eine weitere konsequente Einhaltung bzw. Einleitung von Standardisierung des Datenaustausches mit Leitstellensystemen vorangetrieben wird, um schnell und sicher auch in Zukunft weitere Datenquellen bzw. unterstützende Systeme anbinden zu können.Ziel und Vision des AIRCIS Projektes und der beteiligten Projektpartner ist es, am Ende der Laufzeit, ein Werkzeug für den Lage- dienstführer und in unauffälligen Maßen auch für den Disponen- ten zur Verfügung zu stellen, das es erlaubt, Wetterentwicklungen der nächsten Stunden und Tage umzusetzen in eine angepasste Schichtplanung bzw. in die rechtzeitige Verlagerung und Aktivierung von Ressourcen.


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