Der Fachverband Leitstellen e. V. hat eine Arbeitsgruppe unter dem Titel „Maschinelles Lernen und künstliche Intelligenz in BOS-Leitstellen“ gebildet. Ziel der AG ist die Identifikation von möglichen Einsatzfeldern dieser Technologien in den BOS-Leitstellen, sowie die Diskussion der im Kontext der gesamten Entwicklung der künstlichen Intelligenz ebenfalls gesamtgesellschaftlich relevanten Fragestellungen in Bezug auf Gesetzgebung, Ethik und Moral sowie Sicherheit der Daten und Anwendungen.
Dazu wurde Ende Mai 2020 ein Positionspapier auf der Webseite des Fachverbands veröffentlicht, das einen ersten Überblick über die derzeitigen Entwicklungen in Praxis und Forschung gibt und die Anforderungen der Leitstellen aus praktischer Sicht darstellt. Es werden verschiedene Methodenbereiche, wie das maschinelle Lernen oder Operations Research (mathematische Optimierung), sowie deren mögliche Einsatzszenarien als Ansätze innerhalb der künstlichen Intelligenz vorgestellt. [1]
Forschung im Bereich der Künstlichen Intelligenz
Künstliche Intelligenz (engl. Artificial Intelligence oder kurz AI) erlebt seit einigen Jahren einen großen Aufschwung in Forschung und Praxis. Als Gründe für den Aufschwung („Rise of AI“) werden häufig drei Dinge angeführt [2]:
- Es sind immer mehr Daten verfügbar, die für den Einsatz von KI eine wesentliche Grundlage darstellen.
- Dank der technischen Entwicklungen sind in Forschung und Praxis Computersysteme mit ausreichend Rechenkapazitäten verfüg- und bezahlbar, um die großen Datenmengen zu verarbeiten.
- Aufgrund von Automatisierung und Skalierbarkeit, zum Beispiel von Prozessen, haben Unternehmen Interesse am Einsatz von KI in ihren Unternehmen.
Etwas uneinig ist sich die Forschung, was genau unter KI verstanden wird. In der Praxis passiert es häufig, dass bereits einfachste Software als KI bezeichnet wird. Oftmals wird künstliche Intelligenz synonym mit Verfahren des maschinellen Lernens verwendet. Tatsächlich sind ML-Verfahren aber nur eine mögliche Methode bei der Umsetzung von künstlicher Intelligenz und keinesfalls gleichzusetzen. ML-basierte Systeme analysieren oft lediglich die vorhandenen Daten und ermitteln zum Beispiel Vorhersagen für zukünftige Entwicklungen. Fortgeschrittene Implementierungen geben Vorschläge, zum Beispiel für Planungsprobleme wie die Zuweisung von Fahrzeugen zu Aufträgen. Auch bei diesen Systemen entscheidet der Mensch, bereitet in vielen Fällen die Daten vor, wählt die Verfahren aus und trainiert diese mit den Daten. Passiert dies für eine ausgewählte Aufgabe automatisch, so spricht man von einer „schwachen KI“. Im Vergleich dazu wäre eine „starke KI“ genauso intelligent wie ein Mensch, könnte also alle, auch übergreifende Entscheidungen abwägen, treffen und aus den Ergebnissen lernen. [3]
Nachteil vieler Modelle des maschinellen Lernens ist der Bedarf nach einer großen Menge qualitativ hochwertiger Eingabedaten. Wenn es zum Beispiel um die Vorhersage von Notfällen geht, betrifft dies zum einen die Einsatzzahlen pro Jahr, zum anderen auch die Anzahl an Jahren mit gleicher Datenstruktur und –Datenqualität. Diese Herangehensweise stellt eine große Herausforderung an die Leitstellen bzw. an die Entwicklung von in der Praxis verwendbaren Modellen dar. Aufgrund der geographischen, soziodemographischen und insbesondere rechtlichen Strukturen und hieraus resultierenden Unterschiede können Daten von mehreren Leitstellen nicht einfach zusammengefügt und zum Trainieren von ML-Modellen verwendet werden. Der Austausch von Daten ist auch aus rechtlicher Sicht nicht immer einfach oder überhaupt möglich. Aktuelle Forschung beschäftigt sich daher mit der Übertragbarkeit von trainierten ML-Modellen. Die Frage aus dieser Sicht lautet: „Ist es möglich, ML-Modelle mit den Daten einer Leitstelle zu trainieren, für die viele und qualitativ hochwertige Daten existieren, und die trainierten Modelle in anderen Leitstellen zu verwenden?“ Dabei ist wichtig zu verinnerlichen, dass tatsächlich nur die trainierten Modelle ohne Eingabedaten übertragen werden. Auf die Eingabedaten sind dann (in der Regel) keine Rückschlüsse mehr möglich. Eine derartige Verfahrensweise würde nicht nur dem Datenschutz gerecht werden, sondern auch den Aufwand drastisch reduzieren, da Modelle nur ein oder wenige Male trainiert werden müssten, statt einzeln und von Neuem für jede Leitstelle in Deutschland. Ein aus unserer Sicht weiterer wichtiger und vielversprechender Forschungsbereich für Leitstellen, Feuerwehr und Rettungsdienst in Deutschland ist der Bereich des Operations Research (OR) bzw. der mathematischen Optimierung. [4] Mit Hilfe des OR lassen sich unter anderem logistische Fragestellung wie die Standortplanung von Wachen und Fahrzeugen oder die Planung von Krankentransporten und Streifenbezirken/-routen beantworten. [5,6] In der Regel wird bei diesem Ansatz zuerst ein mathematisches Modell aufgestellt, das mit Hilfe von Software-Tools, sogenannten mathematischen Solvern, implementiert und gelöst werden kann. Ein Modell besteht dabei aus einer oder mehreren Zielfunktionen, die abbilden, mit welchem Ziel die Optimierung gelöst werden soll. Ziele können zum Beispiel die Reduktion der Kosten für Standorte von Wachen oder den Einsatz von KTWs sein. Kann eine Lösung für ein Modell bestimmt werden, so ist dies die optimale, jeweils bestmögliche Lösung für das dem Modell zugrundeliegenden Problem. Bei der Modellierung von Praxisproblemen kommt es allerdings häufig vor, dass die Modelle zu komplex sind, um optimal gelöst werden zu können. Dann werden Näherungsverfahren, so genannte Heuristiken, verwendet, um in kurzer Zeit möglichst gute Lösungen zu bestimmen. Daneben sind Untersuchungen zur Akzeptanz und Transparenz von KI-Verfahren mit folgenden primären Fragestellungen ein weiterer wichtiger Forschungszweig:
- Wie können Verfahren so erstellt werden, dass ihr Ablauf und ihre Ergebnisse von Anwendern nachvollzogen werden können?
- Wie können die Ergebnisse aufbereitet und erklärt werden, damit Anwendern den Ergebnissen vertrauen?
- Welche zusätzlichen Möglichkeiten bestehen, um die Akzeptanz von KI-Verfahren in der Praxis zu erhöhen?
Forschungsgruppen wie das Fachgebiet für Wirtschaftsinformatik | Software & Digital Business der Technischen Universität Darmstadt, geleitet von Prof. Dr. Peter Buxmann, führen in verschiedenen Domänen Forschungsprojekte und Studien zu diesen Fragestellungen durch und sammeln dabei wichtige Erkenntnisse, die unter anderem für Leitstellen und den Rettungsdienst relevant sind. [6]
Es ist nicht zu erwarten, dass in absehbarer Zeit eine „starke KI“ entwickelt werden wird, die in der Praxis eingesetzt werden kann, vor allem nicht im öffentlichen Bereich. Die Forschung ist aktuell noch weit davon entfernt. Daher werden wir uns im Folgenden nicht mehr mit künstlicher Intelligenz im Allgemeinen, sondern mit den Verfahren des maschinellen Lernens und des Operations Research als zwei wichtigen Säulen für zukünftige Entwicklungen beschäftigen, die aktuell schon in der Praxis der Gefahrenabwehr weltweit eingesetzt werden.
Einsatzmöglichkeiten von KI zur Erhöhung der Sicherheit
Neben der Arbeitserleichterung ist die Erhöhung der Sicherheit eines der wichtigsten Ziele für den Einsatz von KI in der Leitstelle. Dabei umfasst der Begriff „Sicherheit“ viele verschiedene Aspekte, zum Beispiel die Sicherheit der Patienten bzw. der Bevölkerung oder die des Leitstellenpersonals. Aus technischer Sicht ist beispielsweise eine Ausfallsicherheit der (Telefon-)Systeme wünschenswert. ML-Methoden können hier zur Vorhersage von Ausfällen und möglicherweise notwendigen Wartungen verwendet werden. „Predictive Maintenance“ ist ein aktives Forschungsfeld und wird in der Industrie bereits erfolgreich in der Praxis eingesetzt. Zur Absicherung der Disponenten kann KI zum Beispiel bei der Vorannahme oder der Zuweisung von Notrufen, sowie bei der Abfrage und der Dispositionsentscheidung unterstützen. Dabei ist auch die proaktive Anpassung des Dispositionsvorschlags aufgrund neuer Erkenntnisse zur Verfügbarkeit und geographischer Lage von Einsatzmitteln denkbar. Auch die Vorhersage von Notfällen (zeitlich und örtlich) durch ML-Methoden unter Nutzung von externen Parametern (z. B. Wetter) [8] kann den Disponenten bei Dispositionsentscheidungen und der zeitweiligen örtlichen Verschiebung von Einsatzmitteln unterstützen. Die KI-unterstütze Erkennung von Krankheitsbildern kann zudem die Sicherheit der Patientenversorgung erhöhen. Dies gilt auch für ML-Methoden, die aufgrund der Einsatzdaten Häufungen akuter Erkrankungen (z. B. Infektionen) erkennen und bei Bedarf automatisierte oder teilautomatisierte Warnungen an die Bevölkerung herausgeben.[9]
Welchen (Optimierungs-)Bedarf haben die Leitstellen tatsächlich?
Polizeiliche und nicht-polizeiliche Leitstellen (BOS-Leitstellen) sind Einrichtungen mit umfangreicher, teils hochverfügbarer oder gar fehlertoleranter technischer Ausstattung. Sie nutzen die verschiedensten Datenbanken und stehen mit jedem Auskunfts- und Hilfeersuchen sowie jedem Einsatz vor der Aufgabe, bestmögliche Lösungswege für alle aufkommenden Probleme finden zu müssen. Dazu werden auch anhand der Vergangenheitsdaten soweit möglich Prozessverbesserungen vorgenommen. Diese Optimierung der Prozesse geschieht in den meisten Fällen schrittweise, abhängig davon, wie oft die Vergangenheitsauswertungen pro Zeitabschnitt wiederholt werden. Es wird in den allermeisten Fällen kein Vorgehen entwickelt, welches sofortige Reaktionen auf sich verändernde Bedingungen möglich macht. Durch die Betrachtungsweise ausschließlich auf der Ebene einer Leitstelle, werden die für ML oder OR notwendigen Datenmengen nicht generiert oder es werden Daten, wie sie zum Beispiel in strukturierten und standardisierten Abfragesystemen oder in der Langzeitdokumentation der Sprachaufzeichnung entstehen, gar nicht erst ausgewertet. Bei dem tatsächlichen Optimierungsbedarf und dem Bedarf an technischer Unterstützung basierend auf Methoden der mathematischen Optimierung und des maschinellen Lernens kann zwischen kurzfristigen, mittelfristigen und langfristigen Maßnahmen unterschieden werden. Diese Zeiträume sind zum einen bedingt durch die gegebenenfalls benötigten Entwicklungs- und Implementierungszeiten eines Systems, zum anderen durch eventuell notwendige Anpassungen der rechtlichen und organisatorischen Rahmenbedingungen.
Kurzfristig (Zeitraum < 2 Jahre)
In dem kurzen Zeithorizont für die kommenden zwei Jahre können Bedarfe der Leitstellen gedeckt werden, für welche bereits Lösungen bereitstehen oder kurzfristig fertig entwickelt werden können. Entscheidend ist, dass die Leitstellen die zur Verfügung stehenden Werkzeuge und deren Vorteile gegenüber herkömmlichen Methoden kennen, ihren Einsatz fordern und der Zugang zu ihnen unkompliziert möglich ist. Insbesondere stehen heute bereits Verfahren, zum Teil erste Systeme, für nachfolgend dargestellte Anwendungsfälle zur Verfügung und/oder können in maximal zwei Jahren zu einem funktionsfähigen System erweitert werden.
- Überwachen und Auswerten von Social-Media-Kanälen
- Berechnung der notwendigen Einsatzmittelvorhaltung für Rettungsdienst und Krankentransport
- Berechnung und Optimierung von Fahrtrouten im Krankentransport
- Unterstützung bei der Alarmierung von Einsatzkräften und –mitteln
- Schutz der IT-Infrastruktur mit selbstlernenden Systemen
- Dynamische Personalbedarfs- und Dienstplanung
Mittelfristig (Zeitraum 2 - 5 Jahre)
Schon deutlich schwieriger wird es, die Einführung von Technologien zeitlich einzuordnen, für die es heute noch keine bzw. noch keine vollständigen Lösungen gibt. Die folgende Einteilung soll hier versuchsweise anhand der Dringlichkeit der Bedarfe der Leitstellen vorgenommen werden.
- Verbesserung der Informationssuche und Bereitstellung der Information
- Verknüpfung von Dispositionsvorgängen mit externen Anforderungen
- Erkennen und Sortieren von Notfällen
- Dynamische Lagedarstellung und -verarbeitung
Langfristig (Zeitraum > 5 Jahre)
Es scheint bei der Geschwindigkeit, mit der neue Technologien derzeit in der Arbeitswelt einziehen, kaum möglich, den Betrachtungszeitraum größer als fünf Jahre anzulegen. Orientiert an den Bedürfnissen der Leitstellen können vier Anforderungen/Themenfelder für diesen großen Planungszeitraum grob formuliert werden.
- Unterstützung in Kernprozessen: Notrufabfrage, Alarmierung, Einsatzbegleitung
- Lastverteilung zur Aufrechterhaltung der Leistungsfähigkeit der Mitarbeiter
- Dynamische, kontextbezogene Nutzer-Oberfläche
- Einbindung weiterer Datenquellen
Zusammenfassung und Fazit
oder in den nächsten zwei bis fünf Jahren umgesetzt werden können, zeigt das Potential, welches die Verfahren des maschinellen Lernens und des Operations Research für den Einsatz in deutschen Leitstellen bietet. Um dieses Potential zu nutzen, müssen jetzt die Anforderungen, Erwartungen und Rahmenbedingungen geklärt werden. Entscheidend für die Leistungsfähigkeit und den Nutzen der ML- und OR-Verfahren ist die Verfügbarkeit und Qualität der Eingabedaten. Vereinfacht gesagt wird erwartet, dass je größer, strukturierter und standardisierter die Datenmenge ist, desto schneller (und kommerziell günstiger) und vor allem genauer wird das darauf aufbauende System sein. Nutzer von KI-Systemen müssen sich über mögliche Grenzen der Systeme und der zur Vereinfachung getroffenen Annahmen im Klaren sein. Die in der Gefahrenabwehr Agierenden werden häufig in ihrem Berufsalltag mit seltenen, teils noch nie dagewesenen Herausforderungen konfrontiert. Eine daraus resultierende Motivation und Bereitschaft, wird essenziell sein, um den Einzug von KI-basierten Systemen in den Leitstellen nicht nur mitzugestalten, sondern proaktiv voranzutreiben. Die Arbeitsgruppe hat sich darauf geeinigt, nächste Schritte in einer Mischung aus „bottom-up-“ und „top-down-Ansatz“ zu definieren. Mit wissenschaftlicher Unterstützung sind eine Online-Umfrage und Interviews mit Experten geplant, um Einstellungen zu künstlicher Intelligenz sowie Erwartungen, Wünsche, Anforderungen und Bedenken an die Umsetzung von konkreten Maßnahmen zu sammeln und zu untersuchen. Die Ergebnisse sollen neben einer wissenschaftlichen Verwertung dazu genutzt
werden, konkrete Pilotprojekte abzuleiten.
Referenzen
[1] http://fvlst.de/index.php/info/send/2-verbandsunterlagen/164-positionspapier-maschinelles-lernen-und-kuenstliche-intelligenz-in-bos-leitstellen
[2] N. Kühl, M. Goutier, R. Hirt, G. Satzger (2019): Machine Learning in Artificial Intelligence: Towards a Common Understanding. Proceedings der 52. HICSS Konferenz, Hawaii, USA.
[3] P. Buxmann, H. Schmidt (2018): Künstliche Intelligenz: Mit Algorithmen zum wirtschaftlichen Erfolg. Springer-Verlag.
[4] M. Reuter-Oppermann (2019): Rettungsdienstlogistik für die Leitstelle: Mathematische Optimierung in der Praxis. BOS-LEITSTELLE AKTUELL (9).
[5] M. Reuter-Oppermann (2017): On the Optimisation of EMS Logistics. Dissertation, Karlsruher Institut für Technologie, Karlsruhe.
[6] M. Reuter-Oppermann, P. van den Berg, J. Vile (2017): Logistics for Emergency Medical Service systems; Health Systems, 6(3), 187-208.
[7] N. Mesbah, C. Tauchert, C.M. Olt, P. Buxmann (2019): Promoting Trust in AI-based Expert Systems. Proceedings der AMCIS 2019 Konferenz, Cancun, Mexico.
[8] M. Reuter-Oppermann, C. Wolff (2020): Towards a Unified Understanding of Data-Driven Support for Emergency Medical Service Logistics. Proceedings der 53. HICSS Konferenz, Hawaii, USA.
[9] M. Reuter-Oppermann, C. Wollf, L. Pubmplun (2021): Next Frontiers in Emergency Medical Services in Germany: Identifying Gaps between Academia and Practice. Proceedings der 54. HICSS Konferenz, Hawaii, USA.
Melanie Reuter-Oppermann
Technische Universität Darmstadt
Fachgebiet Wirtschaftsinformatik | Software &
Digital Business
Hochschulstr. 1, 64289 Darmstadt
oppermann@is.tu-darmstadt.de
Felix Liebner
Mitglied der AG Operations des PMeV
Felix.Liebner@t-systems.com
Volkmar Lang
Landkreis Vorpommern-Greifswald
Eigenbetrieb Rettungsdienst
Sachgebietsleiter Leitstelle
volkmar.lang@kreis-vg.de