Leitstellen für Feuerwehr und Rettungsdienst sind für viele dringende Hilfeersuchen die ersten Ansprechpartner. Disponentinnen und Disponenten müssen in kürzester Zeit komplexe Entscheidungen treffen, um Menschenleben zu retten oder schwere Schäden abzuwenden. Die Entscheidungen sind wegweisend für den weiteren Behandlungsverlauf der Betroffenen, müssen aber häufig auf Grundlage nur mangelhaft verfügbaren Informationen getroffen werden. Diese muss die Disponentin oder der Disponent selbst zusammentragen, während der Anrufende noch am Telefon beruhigt werden und zur Ersten Hilfe angeleitet werden soll.
Die Bedeutung der Leitstelle als erster Kontaktpunkt zur notfallmedizinischen Versorgung wurde längst erkannt, eindrucksvoll hervorgehoben beispielsweise in der aktuellen Empfehlung des Bundesgesundheitsministeriums zur Reform der Notfall- und Akutversorgung in Deutschland. Hier kommt den integrierten Leitstellen die Aufgabe zu, jedem medizinischen Hilfesuchen die am besten geeignete Hilfe zuzuweisen, ohne Patienten unter- oder überzuversorgen.
Bei solchen komplexen Aufgaben können moderne Technologien unter Anwendung von künstlicher Intelligenz gewinnbringend unterstützen. Ihren Einsatz erleben wir derzeit in vielen Lebens- und Arbeitsbereichen, in den Leitstellen sind die konkreten Anwendungen derzeit allerdings noch sehr überschaubar. Viele Forschungsprojekte zeigen aber eindrücklich, welche Potenziale genutzt werden können, um den heutigen und zukünftigen Herausforderungen des Bevölkerungsschutzes begegnen zu können.
Das aktuell vielleicht größte dieser Forschungsprojekte ist das SPELL-Projekt. Gefördert vom Bundesministerium für Forschung und Klimaschutz arbeiten Partner aus Forschung, Entwicklung und Anwendung daran, eine „Semantische Plattform zur intelligenten Entscheidungs- und Einsatzunterstützung in Leitstellen und Lagezentren“ zu entwickeln. Diese Plattform kann sowohl dazu genutzt werden, Daten zwischen verschiedenen Leitstellen und anderen beteiligten Stellen auszutauschen, als auch die Anwendung von KI-Diensten unabhängig vom Hersteller des Einsatzleitsystems zu ermöglichen.
Wie die Arbeit in der Leitstelle durch den Einsatz von SPELL und künstlicher Intelligenz zukünftig aussehen kann, soll an folgendem Übungsszenario verdeutlicht werden. Ort des Geschehens ist die integrierte Leitstelle Ludwigshafen am Rhein. Die Stadt ist geprägt durch die chemische Industrie, die unter anderem eines der größten Chemieareale der Welt unweit des Stadtzentrums betreibt.
Es handelt sich bislang um einen eher ruhigen Morgen in der Leitstelle. Dann ein Anruf über die Notrufleitung 112. Die Anruferin ist sehr aufgeregt, sie fängt an, auf türkisch zu sprechen. Die Disponentin, die den Anruf entgegengenommen hat, spricht Deutsch und Englisch. Direkt zeigt der Monitor vor der Disponentin einen Hinweis „Übersetzung verfügbar“. Die Disponentin bestätigt und hört die Anruferin live übersetzt: „Hier ist ein Zug entgleist. Es brennt und es ist voller Rauch.“ Einen kurzen Augenblick später sieht die Disponentin eine Karte des Gebiets, der Standort der Anruferin ist automatisch markiert. Die Disponentin sieht, dass es sich um eine Kleingartenanlage handelt, die Schienen führen zum benachbarten Werksgelände eines Chemiekonzerns.
Die Disponentin fragt nach Einzelheiten zum Unfall: Es handelt sich um einen Güterzug mit unterschiedlichen Waggons, weiter vorne am Zug brennt es, mehr kann die Anruferin nicht erkennen. Die Disponentin kann - dank der Liveübersetzung - der Anruferin weitere Verhaltenshinweise geben. Sie soll andere Personen warnen und sich schnellstmöglich in Sicherheit bringen.
Das Protokoll des Gesprächs erscheint automatisch im Einsatzleitsystem, markiert sind die wichtigsten Schlagwörter: Chemieunternehmen, Brand, Zug. Die KI beginnt, alle verfügbaren Informationen zusammen zu tragen.
Da die integrierte Leitstelle Ludwigshafen und die Leitstelle des Chemieunternehmens über die SPELL-Plattform miteinander verbunden sind, ist ein ständiger Datenaustausch gewährleistet. Die KI nutzt diesen Informationsweg, um auf relevante Daten zuzugreifen.
So erscheint auf dem Bildschirm unserer Disponentin ein Kamerabild vom Werksgelände. Es zeigt den entgleisten Zug. Die KI hat dieses Bild selbstständig aus tausenden von Kamerabildern ausgesucht und ausgewertet. Dabei wurde das Bild so wichtig eingestuft, dass es der Disponentin direkt angezeigt wird. Über dem Bild erscheint ein Hinweis: „Gefahrentafel erkannt: ETHYLENOXID, verflüssigtes Gas, entzündbar, giftig“. Die KI ist darauf trainiert, die orangene Warntafeln von Gefahrguttransporten zu erkennen und auszuwerten. Eine Prognose der Ausbreitung einer möglichen Gefahrstoffwolke zeigt, dass Wohngebiete betroffen sein können.
Mit Erkennen der besonderen Gefahr erreicht der Vorfall eine kritische Schwelle: Die KI informiert selbstständig und automatisiert alle übrigen diensthabenden Disponenten, die zuständigen Führungskräfte und die Leitstelle des betroffenen Unternehmens über den Vorfall.
Alle Informationen werden in der gemeinsamen Lagekarte dargestellt. Auf diese können alle beteiligten Einsatzkräfte über die SPELL-Plattform zugreifen, unabhängig davon, welcher Organisation sie angehören. Sie ermöglicht einen Informationsaustausch in Echtzeit und erleichtert die Zusammenarbeit bei komplexen Einsatzlagen. Das Besondere: Die Ansicht der Lagekarte passt sich jedem Nutzenden und seiner Rolle individuell an und erlaubt damit einen schnellen Überblick über die jeweils wichtigen Informationen, ohne überfrachtend zu sein. So zeigt die Ansicht für die politischen Verantwortlichen einen schnellen Überblick über die Gesamtlage, ohne sich in Details zu verlieren. Die medizinische Einsatzkraft vor Ort sieht beispielsweise alle gespeicherten Details über die zu versorgenden Patienten, ohne aber detaillierte Informationen über die Brandschutzkräfte aus einem anderen Einsatzabschnitt zu erhalten. Die KI ist hierbei für die Auswahl der relevanten Informationen verantwortlich.
Das Szenario zeigt, dass die künstliche Intelligenz hier als „Co-Pilot“ für die diensthabende Disponentin fungiert. Die KI übersetzt zwischen Deutsch und Türkisch, analysiert verschiedenste Daten, bewertet deren Informationsgehalt, prognostiziert die weitere Schadstoffausbreitung und informiert zuständige Personen.
Wie das Zusammenspiel zwischen Menschen und KI funktionieren kann, lässt sich gut anhand der Wissenstreppe nach Klaus North zeigen, die hier in verkürzter Form vorgestellt werden soll.
Grundlage bilden einfache Daten. Dazu gehören einsatzbezogene Daten wie die Position des Anrufenden, Vitalwerte von Betroffenen, Standorte von Rettungsmitteln oder die Verfügbarkeit von Krankenhausbetten. Aber auch allgemeine Daten wie Wetter- und Verkehrsdaten sollten in die Entscheidungsfindung einfließen. Daten zu vergangenen Einsätzen können bei der Prognose von zukünftigen Entwicklungen helfen und sind deshalb ebenfalls relevant.
Die Anzahl der verfügbaren Daten hat in den letzten Jahren deutlich zugenommen. Neben den Daten aus dem Einsatzleitsystem oder angeschlossenen Datenbanken, etwa des Einwohnermeldeamtes, spielen im Internet verfügbare Daten eine zunehmende Rolle. So können etwa frei nutzbare Geoinformationssysteme und einschlägige Suchmaschinen Daten zu Öffnungszeiten von öffentlichen Gebäuden und der erwarteten Besucherauslastung liefern oder auf Social Media Plattformen aktuelle Bilder von der Einsatzstelle gefunden werden.
Alle diese Daten können dazu beitragen, ein vollständiges Lagebild zu erhalten. Allerdings bieten die Daten allein dabei noch keinen Mehrwert. Erst wenn sie in einen Kontext miteinander gestellt oder mit einer Bedeutung versehen werden, dann werden aus den Daten Informationen. So können aus mehreren gesammelte Datenpunkten die Information gewonnen werden, dass sich ein Rettungswagen mit einer bestimmten Geschwindigkeit in eine bestimme Richtung bewegt.
Werden diese Informationen vernetzt und interpretiert, entsteht Wissen. Dabei ist die Interpretation der Informationen stets abhängig vom Kontext und von der durchführenden Person oder Technologie. Einfluss nehmen können beispielsweise das eigene Fachwissen oder die Erfahrung. Ein erfahrener Disponent erkennt beispielsweise, dass der örtlich nächste Rettungswagen aufgrund der aktuellen Verkehrssituation nicht am schnellsten am Unfallort sein wird und kann eine passende Alternative auswählen.
Das passive Wissen bildet wiederum die Grundlage für aktives Handeln. Der Disponent kann sein Wissen anwenden und den schnellsten Rettungswagen alarmieren. Da es sich hierbei um eine richtige Entscheidung getroffen hat, spricht man dem Disponenten in dieser Situation Kompetenz zu. Es ist dabei keinesfalls selbstverständlich, dass passives Wissen zu kompetentem Handeln wird. Sowohl Menschen als auch Maschinen müssen lernen, ihr passives Wissen konsequent in der Praxis umsetzten zu können.
Für alle Stufen dieser Treppe finden sich Technologien, die sich unterschiedlich stark künstlicher Intelligenz bedienen. Auf der Ebene der Daten finden sich in erster Linie Sensoren, die Messungen durchführen oder anderweitig Daten sammeln, indem sie beispielsweise das Internet durchsuchen oder Daten mit anderen Organisationen austauschen. Die Big Data Analytics beschreibt die Auswertung großer Datenmengen, sodass aus Daten Informationen werden. Klassifikationsalgorithmen (z. B. neuronale Netze) sind darauf trainiert, bestimmte Muster zu erkennen und zur Informationsgewinnung beizutragen. Ein Beispiel ist hier die Erkennung und Auswertung der Gefahrentafel.
Simulationen werden genutzt, um anhand von Informationen Wissen zu generieren und ein kompetentes Handeln zu ermöglichen. Diese können beispielsweise die Ausbreitung einer Gefahrstoffwolke unter den gegebenen Wetterbedingungen prognostizieren und somit eine zielgerichtete Warnung der Bevölkerung ermöglichen. Prognosen werden aber auch dafür genutzt, die Verteilung von Einsätzen in den nächsten Stunden abzuschätzen und zu ermitteln, ob eine Überlastung des Rettungsdienstes in bestimmten Bereichen droht, der mit einer frühzeitigen Verlegung von Rettungsmitteln wirksam entgegengewirkt werden kann.
Bei Assistenzsystemen handelt es sich um Technologien, die selbstständig Wissen nutzen, um Handlungen durchzuführen. Im beschriebenen Szenario informiert die KI selbstständig die anderen Disponenten und die Leitstelle des Unternehmens.
In anderen Bereichen sind Assistenzsysteme viel stärker verbreitet, etwa in Form von Robotern oder selbstfahrenden Autos. Der Einsatz selbstlernender Systeme ist in der Leitstellenarbeit nicht grundsätzlich ausgeschlossen, sollte aber stets kritisch betrachtet werden. Je nach verwendeter Technologie lässt sich nicht nachvollziehen, wie das System zu einer Entscheidung gekommen ist, die Entscheidung lässt sich deshalb nur sehr begrenzt von Menschen überprüfen und validieren. Klar zu beschreibende Standardaufgaben ohne großes Schadenspotenzial können von solchen Systemen übernommen werden, wie hier im Beispiel die Information der übrigen Mitarbeitenden. Falls die Handlung fehlerhaft war, lässt sie sich ohne weiteres korrigieren. Die letztendliche Entscheidung darüber, welche Kräfte an die Einsatzstelle entsendet werden, sollte allerdings von Menschen validiert und getroffen werden.
Assistenzsysteme können aber auch auf symbolischer KI basieren. Diese nutzt im Gegensatz zu selbstlernenden Systemen formale Regeln, die bei der Entwicklung festgelegt wurden und dient damit zur Repräsentation von Fachwissen. So lässt sich beispielsweise wie im Fallbeispiel hinterlegen: Wenn ein Brand gemeldet wird, der im örtlichen Zusammenhang mit einem Unternehmen steht, dann wird automatisch deren Leitstelle informiert. Hier lässt sich auch Fachwissen für außergewöhnliche Einsatzarten hinterlegen oder örtliche Besonderheiten wie Dispositionsanweisungen einpflegen. Auch der Einsatz zur Notrufabfrage ist denkbar und wird im Rahmen des SPELL-Projektes erprobt. Der Vorteil an dieser symbolischen KI im Gegensatz zu klassischen Abfragebäumen ist die deutlich größere Flexibilität. Wenn das System beispielsweise bereits die Lokalisation des Anrufers über AML-Daten oder einen eCall durchführen konnte und der Anrufer erzählt, dass er sich beim Patienten befindet, ist die Frage nach der Örtlichkeit maximal noch zur Verifikation nötig. Bei selten auftretenden Erkrankungen kann das System dem Abfragenden Hilfestellung durch den Vorschlag geeigneter Fragen oder Hinweise zu Verhaltensmaßnahmen geben.
Trotz den vielfältigen Möglichkeiten, die moderne Technologien zukünftig bieten werden, bleibt die menschliche Arbeit unverzichtbarer Bestandteil der Leitstellenarbeit. KI kann besonders gut auf den unteren Stufen der Wissenstreppe unterstützen, etwa durch das Sammeln und Auswerten von Daten und damit der Auswahl und der Zurverfügungstellung von relevanten Informationen. Durch den Einsatz von Prognosen kann auch Wissen entstehen und den Menschen so bei der Entscheidungsfindung unterstützen. Allerdings ist die Anwendung von selbsthandelnden Systemen nur in sehr begrenzten Umfang möglich.
Die menschliche Intuition und Erfahrung hat bei der Leitstellenarbeit immer noch und auch zukünftig eine unverzichtbare Aufgabe. Ein erfahrener Disponent erkennt häufig schon in den ersten Sekunden des Anrufes, ob es ich um einen kritischen Fall handelt, noch bevor irgendwelche „handfesten“ Informationen übermittelt wurden. Die Stärken des Menschen liegen in seiner Intuition, seiner Empathie und seinen Erfahrungen und damit eindeutig auf den oberen Stufen der Wissenstreppe. Vorhandenes Wissen nutzen, um Entscheidungen zu treffen und kompetent zu handeln. Das kann der Mensch auch dann, wenn längst nicht alle relevanten Informationen vorliegen. Die vielfältigen Herausforderungen der Zukunft in der Leitstellenarbeit lassen sich dann am besten lösen, wenn Menschen und Technologien nach ihren Fähigkeiten eingesetzt werden und zusammenarbeiten.
Crisis Prevention 4/2023
Simon Franke
Deutsches Rotes Kreuz
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