15.07.2024 •

Krisenfest dank KI: Wie KI-Anwendungen Ernstfälle handhabbar machen

Steffen Wischmann

Die KI-Lösung des Projekts SPELL verknüpft Informationen von verschiedenen mobilen und stationären Sensordatenquellen wie dem Roboterhund “Spot“ sowie Datenbanken in Echtzeit.
Advancis Software & Services

Anwendungsbeispiele aus dem Technologieprogramm KI-Innovationswettbewerb des BMWK zeigen, wie KI-basierte Anwendungen das Krisen- und Notfall­management auf ein neues Level heben.

Um gut durch eine Notfall- oder Krisensituation zu navigieren und ihre Konsequenzen zu minimieren, ist in jedem Fall schnelles und entschiedenes Handeln erforderlich. Das ist aber gerade in Akutsituationen besonders schwierig – unter anderem weil die Informationen, die man zu ihrer Bewältigung benötigen würde, nicht in der Form vorliegen, wie sie gebraucht werden. Neue Chancen, um in Notfällen mit Weitsicht zu handeln, bieten KI-­basierte Anwendungen. Indem sie große Datenmengen analysieren und aus unterschiedlichen verfügbaren Informationen verschiedener Quellen, auch aus der Vergangenheit, Erkenntnisse ziehen, sorgen sie für einen entscheidenden Wissensvorsprung.

Ebendiese KI-Anwendungen erarbeiten die Forschungsprojekte des Technologieprogramms KI-Innovationswettbewerb des ­Bundesministeriums für Wirtschaft und Klimaschutz (BMWK). Sie entwickeln Demonstratoren und anwendungsnahe Prototypen, die digitale Technologien wie Künstliche Intelligenz oder Machine Learning nutzen, um ihren Nutzerinnen und Nutzern das Handeln in Krisen- und Notfällen zu erleichtern. Dazu verfolgen sie ganz unterschiedliche Ansätze in verschiedenen Einsatzgebieten.

Mit KI-Unterstützung die Bevölkerung schützen und Katastrophen handhabbar machen

Eines dieser Einsatzgebiete ist der Bevölkerungs- und Katastrophenschutz. Durch das Zusammenführen von Daten können Katastrophen besser gemanagt werden, die Entscheidungsfindung erleichtert. Anwendungsszenarien im Bereich Bevölkerungs- und Katastrophenschutz erforscht unter anderem das Projekt SPELL (Semantische Plattform zur intelligenten Entscheidungs- und Einsatzunterstützung in Leitstellen und beim Lagemanagement). Beispielsweise ist bei Unfällen mit Gefahrgütern in der Nähe von Störfallbetrieben eine effektive und schnelle Zusammenarbeit zwischen verantwortlichen Stellen wie Behörden und Industrieleitständen entscheidend, um Schäden für die Betroffenen abzuwenden. Die im Rahmen des Projektes entwickelte KI-Lösung verknüpft Informationen von verschiedenen mobilen und stationären Sensordatenquellen einschließlich Kameras mit Videoanalysen, dem Robotersystem „Spot”, cloud-basierter Kommunikationstechnologie und IoT-Sensoren sowie Datenbanken in Echtzeit. Auf dieser Basis erfolgt beispielsweise eine automatische Einschätzung des akuten Gefährdungspotenzials. Zusätzlich ermöglicht sie eine stetige Vernetzung zwischen den beteiligten Stellen im Unternehmen, aber auch bei den Behörden. Neben Angaben zum Gefährdungspotenzial der Situation bietet die Lösung von SPELL zudem die KI-unterstützte Lagedarstellung in Form einer digitalen Landkarte, die Daten und Informationen für Einsatz- und Führungskräfte unterschiedlicher Führungsebenen in übersichtlicher Art und Weise bereitstellt.

Ansprechpartner Nummer eins ist für viele im Notfall die Notrufzentrale. Wenn Betroffene den Notruf wählen, müssen Leitstellen so schnell wie möglich einen präzisen Überblick über die oftmals komplexe Notsituation gewinnen, um die nächsten Schritte einzuleiten. Dafür hat das Projekt SPELL die KI-Notrufassistenz KINAS entwickelt. Sie unterstützt Leitstellen dabei, die richtigen Fragen zu stellen und die Notsituationen zu bewerten. Erkennt die implementierte KI eine Sprachbarriere, übersetzt sie das Gespräch so, dass sich Anrufende und Leitstellenmitarbeitende in Echtzeit verständigen können.

Auch das Forschungsprojekt ResKriVer (Kommunikations- & Informationsplattform für resiliente, krisenrelevante Versorgungsnetz) widmet sich im Bereich Bevölkerungsschutz der Unterstützung von Leitstellen. Das Forschungskonsortium hat eine Webanwendung entwickelt, über die Social-Media-Daten ausgewertet werden. Es unterstützt dabei herauszufinden, ob relevante Probleme auftreten und Hilfe benötigt wird. Zudem ermöglicht das Tool, weitergehende Information zu einem Problem und Ort wie ­weitere Posts, Bilder oder Kommentare zu finden.

Der Vorbereitung auf Krisen- und Notfallsituationen nehmen sich die Projektpartner des Forschungsprojektes DAKI-FWS (Daten- und KI-gestütztes Frühwarnsystem zur Stabilisierung der deutschen Wirtschaft) an. Dazu entwickelte das Team eine KI-basierte ­Analyseplattform, die mithilfe von Daten aus unterschiedlichen Quellen Prognosen zu verschiedenen Szenarien erstellt. Konkret haben die Projektpartner bisher zwei Anwendungsfälle ausge­arbeitet: Zum einen ein Dashboard zur saisonalen Vorhersage von Überschwemmungen und Dürren in deutschen Flusseinzugsgebieten. Es bietet Visualisierungen wie Karten und Diagramme zur zeitlichen Entwicklung der wahrscheinlichsten Abflussvorhersagen deutscher Flüsse für die nächsten sechs Monate und trägt damit zu präventivem Bevölkerungsschutz bei.

Der zweite Anwendungsfall, den die Projektpartner erproben, ist die KI-basierte Prognose des Populationsverhaltens in Städten und Regionen. Nutzende erhalten im Anwendungsfall einen Überblick über das aktuelle Verhaltensmuster einer Population zur Prognose der Ausbreitung von Krankheiten im Zusammenhang mit Bewegungsdaten und wie dieses sich beispielsweise während einer Pandemie verändert. Die Ergebnisse helfen nicht nur beim Krisenmanagement, sondern können anschließend auch für ein Reporting übernommen werden.

Das Team des Projektes PAIRS (Privacy-Aware, Intelligent and Resilient CrisiS Management) entwickelt lernende KI-Systeme für das Management von Krisen. Dazu entstand der Resilience & Sustainability Data Space (RSDS), der als Datenraum, Daten für verschiedene KI-Services bereitstellt. Der RSDS versammelt unterschiedliche Informationen, unter anderem zur Personalplanung und zum Wetter. Mithilfe von KI-Verfahren lernen unterschied­liche Anwendungen nun aus diesen Informationen in Kombination mit ebenfalls eingespeisten Daten vergangener Krisensituationen und erstellen Prognosen für kommende Szenarien. Dies lässt sich vielfältig nutzen, beispielsweise zur Erstellung von Einsatzplänen. Mit der steigenden Anzahl an Krisen stehen Akteure des Bevölkerungsschutzes wie Feuerwehr, THW, Polizei und Bundeswehr vor der Herausforderung, Einsatzpläne optimal zusammenzustellen. Auf Basis von Datenanalysen mithilfe Künstlicher Intelligenz werden potenzielle Einsätze in den nächsten sieben Tagen vorhergesagt und Handlungsempfehlungen aus unterschiedlichen historischen Datensätzen abgeleitet. Der Service liefert somit eine datenbasierte Entscheidungsgrundlage und unterstützt bei einer präventiven Einsatzplanung.

Auch ­die Epidemiefrüherkennung ist ein Anwendungsgebiet, in dem die Lösung von PAIRS viele Vorteile bringt. Auf Basis von interoperablen Daten aus Krankenhaus-Informationssystemen, insbesondere Laborwerten, wird das Ergebnis einer föderierten Datenanalyse bereitgestellt, wodurch räumlich und zeitlich vor Epidemien gewarnt werden kann. Akteure im und außerhalb des Gesundheitswesens können frühzeitig konkrete Hinweise auf Epidemien erhalten, wodurch präventive Handlungen ermöglicht werden können, beispielsweise um die erforderliche Notfallversorgung auszubauen oder wirtschaftliche Auswirkungen zu minimieren.

KI-basierte Lieferkettenüberwachung
zur Resilienzsteigerung

Der RSDS von PAIRS lässt sich aber auch in einem anderen wichtigen Bereich des Krisenmanagements einsetzen: Der Überwachung von Lieferketten. Mit dem KI-basierten Supply Chain Radar ­können Unternehmen externe Krisenereignisse innerhalb ihres Wertschöpfungsnetzwerks erkennen und effektiver managen. Mit Hilfe eines Dashboards können Entscheidungsträger ein tägliches Krisenmonitoring betreiben und immer im Blick behalten, wann Rohstoffabbau, Materialbeschaffung, logistische Unsicherheiten, wie die Schließung von Häfen oder Personalmangel, zum Pro­blem werden können.

Auch andere Forschungsprojekte widmen sich dem Thema ­Lieferketten, so beispielsweise das Projekt CoyPu (Cognitive ­Economy Intelligence Plattform für die Resilienz wirtschaftlicher Ökosysteme). Das Konsortium entwickelt eine KI-basierte Informationsplattform für effizientes Krisenmanagement. Diese hilft KMU, ihre Lieferketten frühzeitig zu stabilisieren und Ernstfällen durch die Bewertung der Risiken vorzubeugen. Auf der Plattform werden Daten aus unterschiedlichen Quellen wie beispielsweise individuelle Lieferkettendaten, Marktdaten, gesamtwirtschaftliche Beziehungen, Regelwerke und Bilanzen mit anderen, allgemein verfügbaren Daten zusammengeführt. Gemeinsam liefern sie die Basis für KI-gestützte Analysen und Prognosen der aktuellen und zukünftigen Situation – und das für ganz unterschiedliche ­Szenarien. Das KI-Dashboard wird beispielsweise zur Identifizierung von krisenbedingten Lieferketten-Störungen in regionalen, in diesem Fall sächsischen, Wirtschaftsräumen genutzt. Mithilfe des Dashboards können potenziell riskante Abhängigkeiten von Regionen und Industrien visualisiert werden, unter anderem zu erwartende Lieferkettenstörungen.

Innerhalb eines Unternehmens kann die CoyPu-Plattform ebenfalls dazu genutzt werden, aktuelle Planungsunschärfen in den Produktionen aufgrund von Lieferproblematiken aufzuzeigen. Ergänzt wird diese Funktionalität durch die Illustration einer möglichen Vorgehensweise. Diese verfolgt das Ziel, mit Machine Learning und Produktionssimulation die Produktionsplanung zu stabilisieren und zu optimieren. Um Krisen handhabbar zu machen, kann das ebenfalls im Rahmen des Projektes entwickelte ­CoyPuGPT auch für eine aktive Kommunikation verwendet werden: Mit CoyPuGPT können Krisenverantwortliche im Dialog mit der KI – analog zu ChatGPT – potenzielle Risiken in ihrer Lieferkette aufdecken, zusammenfassen oder aber visualisieren lassen.

Eine weitere Option für den KI-Einsatz im Bereich Lieferkettenüberwachung entwickelt das Forschungsprojekt ResKriVer. Das Team entwickelt mit ResKriVer-ViSCA eine Möglichkeit zur ­kartenbasierten Erfassung von Lieferketteninformationen. Krisen und Katastrophen erzeugen immer auch Welleneffekte in der gesamten Versorgungsstruktur, die Auswirkungen auf die ganze Lieferkette haben. ViSCA erfasst relevante Informationen, macht Interdependenzen und Engpässe sichtbar und hilft, die Resilienz der Liefernetzwerke zu erhöhen, insbesondere in Situationen, in denen mehrere Veränderungen gleichzeitig wirken.

Damit gerade in Notfallsituationen dringend benötigte Versorgungsgüter leichter geordert und produziert werden können, hat das Forschungsprojekt KISS (KI-gestütztes Rapid Supply Network) eine Plattform für ein intelligentes Matching zwischen Kunden und Herstellern, die im 3D-Druck-Verfahren fertigen, aufgesetzt. Dafür werden semantische Datenbanken verwendet, die viele Wissensaspekte der Industrie- und Anwendungsbereiche additiv gefertigter Bauteile abdecken. Um eine einfache Bedienung zu ermöglichen, kommen verschiedene KI-Technologien zum Einsatz. Dazu gehört etwa ein Chatbot in Kombinationen mit Machine Learning und Simulationen. Der Chatbot führt mithilfe von Fragen durch eine Bedarfsanalyse und hilft dabei, die genauen Spezifikationen zu identifizieren, die ein benötigtes Produkt haben muss. Dadurch können Kunden 3D-Druck-Aufträge leichter erteilen, Hersteller aus der additiven Fertigung können ihre Dienstleistungen auf der Plattform anbieten.

Gerd Friedsam, ehemaliger Präsident des Technischen Hilfswerks (THW), fordert...
Gerd Friedsam, ehemaliger Präsident des Technischen Hilfswerks (THW), fordert eine nachhaltige Vernetzung aller Kräfte, um in den zunehmend hybriden Krisen integriert handeln zu können.

Krisen handhabbar machen, Resilienz stärken

Die hier präsentierten KI-Lösungen bilden nur einen Teil der in der Forschungsarbeit des Technologieprogrammes entwickelten Anwendungsgebiete ab. Deutlich wird aber: Die Bandbreite an Möglichkeiten, die der Einsatz von digitalen Technologien wie KI im Bereich des Krisenmanagements und der Prävention von Ernstfällen eröffnet, ist groß. Alle Lösungen haben gemein, dass sie Daten, die vorhanden sind, systematisch und strategisch nutzen, um konkrete Erkenntnisse zu gewinnen. Diese dienen im Anschluss der Krisenbewältigung und sorgen insbesondere dafür, dass Verantwortliche im Akutfall handlungsfähig bleiben, weil sie den nötigen Überblick bewahren. Digitale Lösungen tragen insofern auch zur allgemeinen Resilienzstärkung bei, denn: Tritt eine Krise und gar eine Katastrophe ein, gilt es, den hektischen Situationen mit einem effizienten Krisenmanagement zu begegnen. Durch KI-Anwendungen bekommen Krisenverantwortliche nun genau dabei eine wichtige Unterstützung.



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