Leistungsfähigkeit von Krisenstäben

Über Erwartungshorizonte Kompetenzprofile festlegen

Dominic Gißler

Bundesamt für Sicherheit in der Informationstechnik

Die Betreiber kritischer Infrastrukturen sind in besonderem Maße auf Krisenstäbe angewiesen. Weil schon kleine Ausfälle große Auswirkungen in der Anlage, bei Kunden, bei der Bevölkerung und in der Umwelt haben können, sind besondere Kontinuitätskonzepte gefragt. Im vorliegenden Beitrag wird eine Methode vorgestellt, wie das Level der Leistungsfähigkeit von Stäben bemessen werden kann und die oberste Leitung ihrer Verantwortung evidenzbasiert nachkommen kann. 

Stäbe nehmen in der Kontinuitätsplanung von Betreibern kritischer Infrastrukturen eine besondere Rolle ein. Wenn Planungen für Notfälle im Rahmen des üblichen Business Continuity Managements an ihre Grenzen stoßen, sind Krisenstäbe die letztmögliche Eskalationsstufe. Notfälle werden an dieser Stelle als Ereignisse verstanden, deren Ausmaß und Gegenmaßnahmen zuverlässig vorhergesehen werden können, wobei der Zeitpunkt unklar ist. Man kann sich einigermaßen gut auf sie vorbereiten und sie mit im Unternehmen vorhandenen Ressourcen beherrschen. 

Krisen werden als Ereignisse verstanden, bei denen weder Ausmaß, Gegenmaßnahmen und schon gar nicht der Zeitpunkt vorhergesehen werden können, sondern lediglich die betroffene Ressource oder die Auswirkung nach außen grob vorhergesagt werden kann (siehe hierzu die Übersicht in Tabelle 1). Kennzeichnend für Krisen ist, dass zur Entwicklung von Bewältigungsmaßnahmen eine gewisse Portion Kreativität notwendig ist, weil bekannte Maßnahmen nicht funktionieren. In solchen Situationen müssen handwerkliche Methoden der Stabsarbeit wie die Lagedarstellung, die Entwicklung von Prognosen oder die Maßnahmensteuerung souverän beherrscht werden. Zentrales Element der Krisenbewältigung ist dabei die Entwicklung und Operationalisierung einer Strategie. 

Einteilung von Störung, Notfall und Krise mit Bezug auf den Erwartungshorizont
Tabelle 1: Qualitative Abgrenzung von Störung, Notfall und Krise bezüglich des Erwartungshorizonts
Quelle: Dominic Gißler

Was erwartet werden kann

Um eine Krisenorganisation angemessen konstituieren zu können, ist es notwendig, grundlegende Szenarien zu definieren. Diese Szenarien beschreiben, welche Ereignisse zu erwarten sind. Dabei ist die Erwartbarkeit eine Frage der individuellen Systemzuverlässigkeit. Diese ist durch das technische Systemdesign bedingt und unterscheidet sich beispielsweise zwischen Kernkraftanlagen und einem kleinen kommunalen Wasserversorger. Angemessen bedeutet an dieser Stelle einerseits, den eigenen Interessen der Organisation gerecht zu werden und andererseits, die Forderungen von Aufsichtsbehörden und Stakeholdern zu erfüllen. 

Die Definition dieser Szenarien kann dabei in mehreren Schritten erfolgen. 

Am Beginn stehen die Identifikation und Gliederung der Schutzziele und Kontinuitätsziele. Diese lassen sich meist in fünf bis zehn Punkten zusammenfassen. 

Im nächsten Schritt ist Kreativität gefragt. Alle plausibel erscheinenden Ereignisse, welche die Schutz- und Kontinuitätsziele in Frage stellen können, müssen identifiziert werden. Dabei sollten unbedingt die gängigen Regeln der Anwendung von Kreativitätstechniken gelten: Kein Ereignis soll von Beginn an als unrealistisch und irrelevant ausgeschlossen werden. Wenn die Kausalketten stimmen, dann ist das Ereignis realistisch. 

Die Relevanz ist eine Frage der Wahrscheinlichkeit. Für die Krisenorganisation gilt ein Umkehrschluss: Wenn ein KRITIS-Unternehmen auf eine Zuverlässigkeit im Bereich 1*10-5 ausgelegt ist, so muss die Krisenorganisation sich genau auf diese Ereignisse vorbereiten, welche von der Zuverlässigkeit des Systems nicht mehr abgedeckt werden. 

Im nächsten Schritt werden die plausiblen und wahrscheinlichen Ereignisse zu Szenarien zusammengefasst. Umfang und Art des ausformulieren Szenarios hängen dabei von deren Komplexität ab. So eignen sich bei soziologischen Szenarien eher qualitative Szenarien und in technischen Kontexten eher quantitative oder logische Szenarien. In allen Fällen ist es notwendig, die Auswirkungen in erster, zweiter und dritter Folge mit den bedrohten Schutz- und Kontinuitätszielen und den Ereignisursachen zu verknüpfen. 

Die abschließende Gliederung als Fehlerbaum zeigt somit deduktiv diejenigen Ereignisse auf, die zu gleichen bzw. ähnlichen Auswirkungen führen. Diese Auswirkungen sind also diejenigen Szenarien, auf die sich der Krisenstab vorbereiten sollte. Anders ausgedrückt sind diese Szenarien das Leistungslevel, welches erreicht werden muss.

Was erwartet wird

Die Leitung der KRITIS-Organisation erwartet von ihrer Krisenorganisation eine gewisse Performance. Was ein Stab „können“ muss, sollte in Form der Leistungsfähigkeit definiert werden. Von diesem Punkt geht die präventive Krisenarbeit aus. Anhand dessen, welche Szenarien erwartet werden, orientieren sich z.B. die Aufbauorganisation mit der Festlegung von Vertretern von Fachbereichen, die Lage und Ausstattung der Krisenstabsräume, Inhalte von grundlegender Ausbildung und fortführenden Trainings und nicht zuletzt die Annahmen wiederkehrender (Voll-)Übungen. 

Von den im ersten Abschnitt erarbeiteten zu erwartenden Ereignissen werden im Folgeschritt die Erwartungen an den Stab abgeleitet. Diese sollten so konkret sein, dass sie messbar– also „überprüfbar“ - sind. Erfahrungsgemäß sind Teile der Erwartungen an den Stab deckungsgleich: 

So ist es bei allen Szenarien notwendig, die Methoden der Stabsarbeit souverän zu beherrschen. Diese nicht-technischen Fähigkeiten sind die Schnittmenge aller Erwartungen. Technische Erwartungen leiten sich direkt aus dem Szenario ab. 

Am Beispiel einer unteren Katastrophenschutzbehörde als KRITIS könnte ein Szenario verkürzt lauten: 

„Durch einen mehrtägigen flächigen Stromausfall bei winterlicher Witterung über die Weihnachtsfeiertage und Neujahr sind im Landkreis und zwei Nachbarlandkreisen die zivilen Strukturen des Lebens und der öffentlichen Daseinsvorsorge katastrophal eingeschränkt (Szenario). Vom Verwaltungsstab wird erwartet, die Lage richtig einzuschätzen und eine Strategie zur Bewältigung zu entwickeln (abstrakte methodische Erwartungen). 

Dabei muss der Stab selbst funktionsfähig bleiben (Erwartungen an Lage, Ausstattung und Versorgung des Stabsraums sowie an die Personalverfügbarkeit). Das Verwaltungshandeln muss zentral geführt werden können (Erwartungen an das Kommunikationssystem zwischen oberen und unteren Behörden sowie das Vermögen der Verwaltung, im Katastrophenmodus agieren zu können). 

Der Stab muss in der Lage sein, den Erhalt der Funktionsfähigkeit der lebenswichtigen Einrichtungen und Anlagen zu steuern (Erwartungen an das Niveau der Erfüllung von Schutz- und Kontinuitätszielen). Hierunter fällt beispielsweise der Betrieb eines zentralen Klinikums der Grundversorgung mit einem dezentralen Rettungsdienst mit einer Hilfsfrist möglichst nahe am Normalbetrieb, der Betrieb von Ausgabestellen für eine warme Mahlzeit pro 2.000 Einwohnern in jeder Kommune, usw. (operationalisierte Erwartung).“ 

Iteratives Vorgehen zum Erwartungshorizont
Abbildung 1: Iteratives Vorgehen zum Erwartungshorizont

Die beispielhaft angeführte operationalisierte Erwartung des Klinik-, Rettungsdienst- und Verpflegungsbetriebs gilt es durch den Stab zu erfüllen. Es gilt, diese Erwartungen in Kompetenzziele in ein Ausbildungs- und Trainingskonzept zu überführen. Hierzu gehört auch die Entwicklung von Handlungshilfen oder standardisierten Kommunikationsstrukturen. Am Ende einer Trainingsperiode steht die Überprüfung der angesetzten Leistungsfähigkeit in einer plausiblen Simulation (siehe Überblick in Abbildung 1). 

Leistungsfähigkeit des Stabes

Zusammengefasst kann der Erwartungshorizont zweifach verstanden werden. Zum einen beschreibt er diejenigen Ereignisse, welche der Stab aus Sicht seiner Mutterorganisation beherrschen muss – also das „was auf den Stab zukommen kann“. Zum anderen beschreibt der Erwartungshorizont diejenigen Ziele, die der Stakeholder bzw. die Aufsichtsbehörde vom Stab als erreicht wissen will – also das, „was vom Stab an Reaktion kommen muss.“ Hieraus ergibt sich die Definition der Leistungsfähigkeit eines Stabes: 

Die Leistungsfähigkeit eines Stabes wird als die Erfüllung inhärenter Merkmale hinsichtlich definierter Ereignisse in einem Maß verstanden, welches die Fähigkeit zur Aufgabenerfüllung durch die Organisation bedingt. Die Leistungsfähigkeit bezieht sich auf den Erwartungshorizont der Mutterorganisation des Stabs.

Verantwortung der obersten Leitung

Betreiber kritischer Infrastrukturen haben eine besondere Verantwortung hinsichtlich der aus ihrem Geschäft resultierenden Risiken. Hierzu gehört insbesondere auch die Vorbereitung auf unvorhergesehene Situationen. Die Unternehmens- bzw. Verwaltungsleitung kann ihrer Gouvernancefunktion dadurch gerecht werden, dass sie die zu beherrschenden Szenarien definiert, eine diesen Szenarien entsprechende leistungsfähige (Krisen-) Organisation aufstellt und deren Leistungsfähigkeit regelmäßig überprüft. 

Das hier vorgestellte Konzept ist eine Methode, wie die oberste Leitung die präventive Krisenorganisation evidenzbasiert steuern kann. Das Vorgehen ist iterativ und zielt darauf ab, in der Krisenorganisation und speziell dem Krisenstab gezielt Kompetenzen zu entwickeln und zu überprüfen. 

Der vorliegende Beitrag ist der zweite Beitrag einer losen Serie zur Stabsarbeit. Bereits erschienen: CP 2/2016 „Stabsarbeit neu trainiert“ 

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