Die Uhr tickt. Der Einsatz von rund 15.000 deutschen Soldatinnen und Soldaten für die Very High Readiness Joint Task Force 2023 (VJTF 2023), die Speerspitze der NATO, steht vor der Tür und damit die Selbstverpflichtung der Bundeswehr, gemäß Rahmennationenkonzept (Framework Nations Concept, FNC) die nationalen Erfahrungen und Kompetenzen in verschiedenen multinational aufgestellten Projektfeldern (Clustern) einzubringen. Die Fachdomäne Civil Military Cooperation (CIMIC) ist einer dieser Cluster mit deutscher Lead-Funktion.
Mit der jährlich durchgeführten Joint Cooperation (JOCO) unterhält die Bundeswehr eine NATO-weit einzigartige Übung, die die zivil-militärischen Kernaufgaben im internationalen Rahmen umfassend abbildet. In dieser werden die Prozesse und Verfahren in der CIMIC-Fachdomäne vorangetrieben, und die im CIMIC-Cluster verbundenen Nationen können sich durch Ausbildung und Training koordiniert weiterentwickeln. Die CIMIC Information Management Database (CIMD) schafft die Befähigung für eine durchgängige fachspezifische Informationsverarbeitung.
Deutschlands Rolle als führende Rahmennation in der Fachaufgabe CIMIC
Die Bundeswehr verfügt im europäischen Vergleich über die am stärksten ausgeprägten sowie ständig verfügbaren Fähigkeiten in dieser streitkräftegemeinsamen Fachaufgabe. Als Lead-Nation kommt ihr einerseits eine koordinierende Rolle innerhalb des CIMIC-Clusters und gegenüber der NATO zu, andererseits muss sie für die Partnernationen verschiedene Andockpunkte für ihre nationalen Fähigkeitsbeiträge bieten. Das Multinational CIMIC Command (MN CIMIC Cmd) in Nienburg (bis September 2019: Zentrum Zivil-Militärische Zusammenarbeit der Bundeswehr, Zentr ZMZBw) ist das Kompetenzzentrum für den Aufgabenbereich CIMIC. Der neue Name unterstreicht die Ambition: Multinationalisierung angesichts einer stetig wachsenden Bedeutung. Als Ausbildungsstätte für Soldaten auf NATO- und EU-Ebene fungiert das Kommando bereits seit mehreren Jahren. Bis 2024 sollen 40 international besetzte Dienstposten entstehen.
Ganzheitliche Prozessunterstützung im CIMIC Information Management
Die Bereitstellung des zivilen Lagebildes (Recognized Civil Picture, RCP) ist Kern der Arbeit der CIMIC-Kräfte. Ziel ist es, die militärische Führung anhand einer Reihe von Civil Key Factors zu beraten sowie als Bindeglied zu nicht-militärischen Akteuren die Durchführung von militärischen Operationen zu unterstützen. Eine durchgängige Informationsversorgung ist Voraussetzung für die Erstellung und kontinuierliche Pflege des jederzeit aktuellen Lagebildes. »Denken vom Einsatz her« – systemische Lösungen müssen im Alltag der Soldaten zur Regel werden, damit diese die komplexen Einsatzerfordernisse meistern können. Die Kompetenzen von der Stabsebene bis zu den mobil agierenden Feldkräften sind in einer durchgängigen Prozessanwendung zu bündeln.
Die operative Richtlinie und damit die Prozessbeschreibung der CIMIC-Unterstützung wird von der NATO u.a. mit dem CIMIC Functional Planning Guide (CFPG) und dem CIMIC Handbook (CHB) vorgegeben. Der CFPG umfasst alle Phasen von der initialen Lagefeststellung in einem Krisenszenario bis hin zur Planung konkreter Einsätze. Eine Reihe weiterer Standards definiert die multinationale Arbeitsweise im CIMIC-Bereich. Die fachspezifische Aufgabenwahrnehmung gemäß CIMIC Information Management (CIM) gliedert sich dabei in folgende Phasen: Nach einer Identifizierung von Informationsbedarfen stößt die militärische Leitung über den Planungs- und Beauftragungsprozess (Phasen Planning, Tasking) einen neuen Verarbeitungszyklus an. In der Folge erheben die CIMIC-Kräfte vielfältige Daten (Collection), verdichten (Collation), verarbeiten (Processing) und analysieren (Analysis) diese, dokumentieren die Erkenntnisse und verteilen sie an Entscheider (Dissemination, Decision Making).
Wissenschaftliche Herausforderung
Die Wahrnehmung der Fachaufgabe CIMIC ist charakterisiert durch hochdynamische Entwicklungen mit einer großen, unstrukturierten Datenflut aus unterschiedlichsten Quellen. Diese sind für die Führung zeitnah zu bewerten und aufzubereiten. Der Aufbau einer zentralen, einsatzbezogenen Wissensdatenbank für aktuelle Entscheidungsunterstützung sowie für langfristige Analysen erfordert eine besondere fachspezifische Auswerteunterstützung. Es gilt, die eigene und die zivile Lage in Kombination zu betrachten, die Ergebnisse an der konkreten Mission zu spiegeln und alle Informationen auf mehreren Ebenen schrittweise zu aggregieren. Der Kern für eine erfolgreiche, zielorientierte Koordination und Kooperation der jeweils beteiligten Kräfte liegt in der Vermittlung eines gemeinsamen Verständnisses von Führungsprozessen und im bedarfsgerechten Umsetzen der Informationsflüsse. Gruppendynamische Prozesse orientieren sich dabei an der Vernetzung und der unterschiedlichen Verantwortlichkeit der Beteiligten.
Die CIMIC Information Management Database (CIMD)
Das Fraunhofer-Institut für Kommunikation, Informationsverarbeitung und Ergonomie FKIE ist u.a. spezialisiert auf durchgängige Verarbeitungsketten im Führungsprozess. Mit dem Demonstrator CIMIC Information Management Database (CIMD) unterstützt das Institut seit 2014 die Entwicklungen im CIMIC Information Management anhand von konkreten Übungs- und Einsatzszenarien. Der zeit- und sachgerechte Informations- und Arbeitsfluss wird gemäß definierter Rollen- und Rechtekonzepte umgesetzt mit dem Ziel, die Kompetenzen aller Soldaten von der Stabsebene bis zu den mobilen Feldkräften zu bündeln.
Datengewinnung und -analyse
Jeder Führungszyklus wird dabei durch eine entsprechende Task mit dem Zweck initiiert, eine erkannte Informationslücke zu schließen. Solche Aufträge werden in der Regel auf Stabsebene erstellt und im weiteren Ablauf schrittweise konkretisiert, nach Bedarf in Teilaufträge gesplittet und an die jeweils zuständigen Feldkräfte übermittelt. Diese führen die geforderten Aktionen durch und dokumentieren ihre Erkenntnisse in After Action Reports. Bereits bei der Datengewinnung wird sichergestellt, dass die Berichte in konsistenten Strukturen erfasst und damit später nach semantischen Aspekten zugreifbar werden.
Informationsfusion und -aggregation
Orientiert an den Informationsanforderungen der militärischen Führung werden somit die Essential Elements of Information aufgeklärt, in einem mehrstufigen Auswerteprozess zu Assessments fusioniert und auf drei Ebenen (CIMIC unterscheidet: local, district, regional) aggregiert. Über ein standardkonformes Auftragsmanagement ist zudem die Reach-Back-Zelle eingebunden, die bedarfsgerecht fundierte Analysen beisteuert. Die Zusammenführung von themenbezogenen Daten muss vieldimensional, also nach den unterschiedlichsten Kriterien erfolgen. Eine Datenbanklösung wie CIMD entfaltet ihre Stärke unter anderem dadurch, dass sie dieser Multidimensionalität der Analysetätigkeit in besonderer Weise Rechnung trägt und die Ableitung des vielschichtigen Full CIMIC Assessment (FCA) ermöglicht.
Recognized Civil Picture als Beitrag zum Gesamtlagebild
Ein essenzielles Ergebnis der CIMIC-Arbeit ist das Recognized Civil Picture (RCP), das als Teillagebild zum Gesamtlagebild beiträgt. CIMD definiert das RCP als eine vieldimensionale, umfassende Datenhaltung, aus der jederzeit (1) aktuell relevante Aspekte recherchiert und extrahiert sowie (2) unmittelbar in einem Lagebild visualisiert werden können. An der Schnittstelle zwischen Datenhaltung und Darstellung setzt CIMD Kontext- und Relevanzfilter ein. Kontextfilter ermöglichen die thematische Selektion von Informationselementen. Relevanzfilter fügen die einzelnen Bausteine gemäß den Darstellungsanforderungen zusammen. Für die direkte Ansteuerung der militärischen Lagedarstellung entwickelte Fraunhofer FKIE die Bildbeschreibungssprache Military Situation Description Language (MDSL), die das Lagebild bidirektional zwischen Datenbank und Darstellungswerkzeug transferiert. Dies ergibt die Flexibilität, nahezu beliebige Lagedarstellungen „auf Knopfduck“ zu erzeugen und vor allem, diese netzwerkweit an allen Arbeitsstationen verfügbar zu haben.
Weiterentwicklung anhand von zukunftsorientierten Übungsszenarien
Das Kommando in Nienburg führt jährlich die Joint Cooperation (JOCO) als weltweit einzige Plattform für ein multinationales, zivil-militärisches Training unter Einsatzbedingungen durch. Mehrere hundert Soldatinnen und Soldaten aus mehr als 20 Nationen nehmen regelmäßig im engen Verbund mit Internationalen Organisationen (IOs) und Nichtregierungsorganisationen (NGOs) teil. Unterstützt werden sie von Rollenspielern der kommunalen Verwaltungen, der Wirtschaft und der Bevölkerung der umliegenden Landkreise. Das Besondere hieran ist, dass diese Personen als aktive Rollenspieler sich selbst spielen und für die Übung damit eine einzigartige Praxisnähe und Authentizität ermöglichen.
Die JOCO ist somit die zentrale Plattform für die Weiterentwicklung der Fachaufgabe und die Ausbildung der CIMIC-Fachkräfte. Jährlich werden die Übungsszenarien an aktualisierte Themenstellungen angepasst. So stand bei der JOCO 2019 der Schwerpunkt „Bewertung der Resilienzfaktoren in einem Krisengebiet“ im Fokus. Die Auswertefunktionen im CIMD-Demonstrator wurden entsprechend erweitert.
CIMD wird ebenfalls regelmäßig in die NATO-Übung Coalition Warrior Interoperability eXploration, eXperimentation, eXamination, eXercise (CWIX) als CIMIC-Schaltzentrale eingebettet und angepasst, um eine hohe Interoperabilität zu anderen relevanten NATO-Systemen sicherzustellen.
Die nächsten Schritte
Das seit 2014 in der Entwicklung befindliche CIMD-Konzept hat in der NATO-CIMIC-Community ein Alleinstellungsmerkmal. CIMIC-Gefechtsstände werden in die Lage versetzt, aus Rohmaterial (»Datenebene«) kontextbezogene Dokumente (»Informationsebene«) und nach Bedarf hochwertige Auswerteprodukte (»Wissensebene«) zu generieren. Das (ehem.) Zentr ZMZBw hat zudem zusammen mit dem Planungsamt die Initiative »Implementierung einer CIMIC Information Management Database (CIMD)« auf den Weg gebracht und damit die Voraussetzung geschaffen, langfristig eine stetige Modernisierung und Anpassung an zukünftige Bedürfnisse und Anforderungen vorzunehmen.
Sie zielt darauf ab, bis ca. 2030 eine vollumfängliche Fähigkeit (Final Operational Capability, FOC) bereitzustellen, die neben der Prozessunterstützung auch ausgefeilte KI-Methoden (Advanced Data Analytics for Civil-Military Situational Awareness) beinhaltet. Wenn es gelingt, die deutschen Lösungskonzepte auch kurzfristig im Sinne einer Initial Operational Capability (IOC) in NATO-Allianzen (VJTF, eNRF) verfügbar zu machen, würde das die Bereitschaft der Bundeswehr, als Anlehnnation im Cluster CIMIC zu fungieren, unterstreichen. Der „generische Charakter“ der mit CIMD verfolgten Lösungskonzepte könnte darüber hinaus auf ähnliche Projekte in andere Fachdomänen ausstrahlen.
Crisis Prevention 1/2020
Jürgen Kaster
Forschungsfeld Systems for Situational Awareness
Fraunhofer-Institut für Kommunikation,
Informationsverarbeitung und Ergonomie (FKIE)
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