Wenn Staatsversagen erweiterte Unsicherheit ­produziert

Zum Verhältnis von Sicherheit, Digitalisierung und Demokratie

Dr. Armin Liebchen

Zunehmender Vertrauensverlust in die Handlungsfähigkeit staatlicher Institutionen gefährdet das gesellschaftliche Grundbedürfnis, die Wahrung von Sicherheit und demokratischer Stabilität an den Staat delegieren zu können. Gesellschaften verarbeiten Unsicherheit grundsätzlich über zwei Mechanismen: als  Rückversicherung bei staatlichen Institutionen und als individuelle Anpassungs- und Lernfähigkeit (Evers/Nowotny).  

Wenn staatliche Handlungsfähigkeit aber hinter dem durch die Öffentlichkeit formulierten Sicherheits- und Gestaltungsbedürfnis zurückbleibt, setzen sich Prozesse und Strukturen „erweiterter Unsicherheit“ in Gang. Was der Soziologe Norbert Elias als „Nachhinken des Habitus hinter der Fortentwicklung der Wirklichkeit“ beschreibt, trifft besonders auf staatliche Institutionen zu. 

Das knappste Gut von Demokratien, so lautet ein Diktum, sind Änderungswille und tragfähige Entscheidungen. Dem steht der Befund entgegen, dass politische Entscheider die Wirksamkeit ihrer Entscheidungen tendenziell überbewerten (Allensbach, 2016). So entstehen Handlungs­lücken, deren Wahrnehmung mit ihrer Wirkungstiefe und Dauer ein wachsendes Unsicherheitsmomentum gewinnt.

Die Analyse „erweiterter Unsicherheit“ nimmt die Gefährdung von Sicherheit und demokratischen Freiheitsrechten als Folge von Staatsversagen und Selbstverunsicherungsprozessen in den Fokus. Mit Erkenntnissen der Risiko- und Demokratieforschung werden Phänomene „erweiterter Unsicherheit“ untersucht und anhand von Indikatoren und Wirkungshypothesen zu Szenarien verdichtet. Die Analyse versteht sich als komplementäre, kritische Spiegelung des „erweiterten Sicherheitsbegriffs“ der Bundesakademie für Sicherheitspolitik der Bundeswehr, der alle auch nicht-militärischen Bereiche umfassen möchte, „die letztlich unsere Sicherheit und Stabilität berühren oder beeinflussen können“. 

Repräsentationsverlust, Parallelisierung und Radikalisierung öffentlicher Meinung

Laut Umfragen aus 2016 haben inzwischen 60 Prozent der Befragten in Deutschland kein oder ein nur geringes Vertrauen in die Problemlösungsfähigkeit des Staates. Der Vertrauensverlust gegenüber Staat und Politik mündet mit zunehmender Wirkungstiefe und Dauer in Reaktionsmuster individueller Rückversicherung: Rückzug ins Private unter Politikverdrossenheit, Anwachsen der stillen Masse, Anwachsen aggressiver Gegenentwürfe unter Populismus, außerparlamentarische Opposition, Radikalisierung. 

Romain Leick bezeichnet die derzeitige Entwicklung als „doppelten Groll, dem des Volkes über die Führung und dem der Führung über das Volk.“ Die Dynamik wachse, mit der es in offenen Gesellschaften zur inneren oder offenen Auflehnung „gegen die ständige Ausweitung von Toleranz und Werterelativismus, welche die öffentliche Meinung mehrheitlich angeboten und zuweilen aufgenötigt bekommt.“  

Hinter staatlichem Nicht-Handeln und Vollzugsdefiziten verbergen sich politische, aber auch rein administrative Ursachen: dogmatisches Verharren von politischem Führungspersonal oder gar das „Verkennen der Lage“, aber auch lange Abstimmungsprozesse, Konfliktvermeidung, mangelnde Praxiskenntnis. 

Zugleich ist das rhetorische Behaupten staatlicher Handlungsfähigkeit eine gängige Strategie des Zeitgewinns und Machterhalts. Dem Zeitpunkt tatsächlicher Steuerungsverluste geht in aller Regel eine Phase der Illusion von Steuerbarkeit voraus. In der Ex-Post-Perspektive wird zumeist eine eklatante Vernachlässigung präventiver Maßnahmen und Strukturen deutlich.

Zu unterscheiden sind akute Lagen und latente Entwicklungen von Verunsicherung. Einige Beispiele seien skizziert:

Mediale Verunsicherung durch die Multiplikation von Ereignismacht: Das Münchener Attentat im Juli 2016 beschleunigte in bisher unbekannter Art und Weise die Unsicherheit und Hysterie über die Social Media mit der Folge einer übersteuerten Anforderung von Sicherheitskräften. Andernorts sank die verfügbare Reaktionsfähigkeit. Wenn Berichterstattung als Element offener Gesellschaften vorausgesetzt wird, welche präventiven Optionen bestehen dann zur Zurückhaltung von Informationen zwecks Vermeidung sprunghaft panischer Reaktionen?

Finanzpolitische Verunsicherung: Das Ausmaß des Rückgangs sicherheitspolitischer Reaktionsfähigkeit von Gerichten, Polizei, Bundeswehr löst Beunruhigung aus, ein latenter Prozess. Die fortgesetzte Sparpolitik und mangelnde Steuerung auf Bundes- und Landesebene haben zu gravierenden Personal- und Ausrüstungslücken geführt. Sehenden Auges verfällt auch die Infrastruktur für Verkehr, Bildung und Gesundheit. 

Die deutsche Investitionsquote für Infrastruktur, eine zentrale Kennzahl für die Zukunftsfähigkeit einer Gesellschaft, liegt abgeschlagen im europäischen Vergleich. Herausforderungen der Flüchtlingskrise werden, auch finanzpolitisch, allenfalls nachgesteuert bzw. mit dem Argument der Nicht-Zuständigkeit in andere Verantwortung übergeben. Fortgesetzte Problemdelegierung ohne hinreichende Bereitstellung von Mitteln verhindert die Entschleunigung von Unsicherheitsdynamiken. 

Auch Nicht-Kommunikation kann Unsicherheitsstrukturen erzeugen, etwa die fortgesetzte EZB Politik der „liquidity injection“ in das Finanzsystem, harmlos verklausuliert als Mittel der Bekämpfung deflationärer Tendenzen. Die tatsächliche Gefährdungslage der Finanzmarktstabilität soll keinen öffentlichen Impuls auslösen. Ein Großteil der Medien begleitet in „selbstverschuldeter Nützlichkeit“ (Schumpeter) diese Strategie der Erwartungsbildung.  

Grafik zum Momentum der Demokratie
Koordinatenverschiebungen zwischen Sicherheit und Freiheit: Wohin bewegt sich die verunsicherte Demokratie?
Quelle: Liebchen, 2016

Digitale Verletzlichkeit von Demokratien – The Dark Side of the Moon

Digitalisierung und Internet stehen wie ein Versprechen über den Gesellschaften: schwellenlose Aufklärung, Demokratisierung, Wirtschaftsdynamik. Aufmerksamkeit verlangen entgegengesetzte Muster: Im Internet etabliert sich ein Universum an  „Filterblasen“ (Eli Pariser) selbst-referentieller Meinungsbildung. Targeting-Algorithmen in den Social-Media und computergesteuerte Twitter-Meldungen, sogenannte Bots, manipulieren die Meinungsbildung. 

So wird jederzeit ein anschwellender Sound anonym verdichteten Wählerwillens von Enttäuschung, Vertrauensverlust und Wut aktivierbar, der wie eine Springflut auf die Medien und politischen Institutionen zuläuft. 

Meinungsäußerung, politisch unbequem, manipuliert oder gar radikalisiert, ist zunächst eine Form von Partizipation. Die Art des Diskursverhaltens von Teilen der Politik trägt zur Eskalation bei: Die Vermeidung konfliktärer Debatten senkt die Wahlbeteiligung insbesondere bei Wählern der Opposition („asymmetrische Demobilisierung“). Dies schafft einen Nährboden für  Meinungen, die sich durch die Parteien zugedachte Repräsentanz des Wählerwillens nicht mehr vertreten sehen. 

Das möglicherweise demokratiegefährdende Momentum dieses Prozesses geht also auf mehrere rückgekoppelte Wirkungen zurück, befeuert durch Verstärkungseffekte der Social Media. Der zentripetalen Kraft (Habermas) im Sinne einer geordneten Kondensation öffentlicher Meinung wirkt ein bisher unbekanntes zentrifugales Momentum aus dem Internet entgegen: je beschleunigter die Verhältnisse, desto weiter drängen die Meinungen in die Extreme. 

Es stellen sich drei grundsätzliche Fragen des Verhältnisses von Sicherheit und Freiheit im Internet: 

  • Bis zu welchem Grad ist staatliche Überwachung als präventive Abwehr von Bedrohungslagen gegenüber der Reduzierung von Freiheitsrechten legitimierbar? 
  • Sollen radikale Meinungen durch Eingriffszwang der Internetbetreiber kontrolliert werden? 
  • Ist es tatsächlich freiwillig, wenn Internetnutzer ihre Daten und ihr Surfverhalten durch Internetkonzerne und besuchte Webseiten protokollieren lassen müssen, was einer digitalen Entrechtung gleichkommt?

Faktisch handelt es sich hier mangels Wahlmöglichkeit bereits um eine Freiheitsillusion (Luhmann). Sie löst Unsicherheit gegenüber der Überwachung aus, die individuell u. a. durch Strategien des Versteckens (going dark) oder wachsende Selbstzensur kompensiert wird, etwa durch Vermeidung bestimmter Suchbegriffe bei Suchdiensten.  

Dem gegenüber steht das staatliche Abwehrerfordernis von ­Cyberkriminalität. In 75 Prozent der Fälle, die die europäische Polizeibehörde Europol bearbeite, spiele verschlüsselte Kommunikation bereits eine Rolle, so Europol-Chef Rob Wainwright (Süddeutsche Zeitung).

Die Dynamik der Digitalisierung verändert das Sicherheitsbedürfnis. Doch scheint das digitale Sicherheitsbewusstsein von Konsumenten, Industrie und Politik erst am Anfang seiner Entwicklung zu stehen. Nützlichkeit geht bisher vor, Sicherheitsfeatures werden nachgereicht.

Asymmetrie des Vertrauens zu Unternehmen und Staat

Big Data Analysen schaffen bisher unbekannte Möglichkeiten der Empirisierung von Verhaltenshypothesen. Verkehr, Logistik, Handel, Security – zahlreiche Sektoren können über Big Data-Modelle ihre Steuerungsprozesse wirkungsvoller gestalten. Wie aber steht es um den Umgang mit Gefährdungen der informationellen Selbstbestimmung? Personalisierte und auch Clusterdaten können zu Diskriminierungen durch Versicherungen, Arbeitgeber oder andere Akteure führen. 

Müsste es in Demokratien nicht ein selbstverständliches Recht auf digitale Unversehrtheit geben, bewehrt durch reaktionsschnelle Datenschutzkompetenzen? Umgekehrt entstehen paradoxe Phänomene, wenn Datenschutzregelungen staatliche Verbrechensbekämpfung unterminieren. In der öffentlichen Wahrnehmung besteht zweifelsohne eine Asymmetrie, welche Datennutzung für den Staat und welche für Internetkonzerne zulässig sein soll. Datenmonopole in der Hand weniger Konzerne widersprechen wettbewerblichen und pluralistischen Demokratiegrundsätzen, Sicherheit und Freiheit verlangen eine aktive digitale Ordnungspolitik. Die Ökonomisierbarkeit von Daten als neuem Gold des 21. Jahrhunderts entwickelt ansonsten ein zunehmendes freiheitsgefährdendes Momentum. 

Staatliche Sicherungsmonopole wiederum unterliegen der Tendenz zu immer weiteren „Funktionszuwächsen im Namen der Sicherheit“ (Evers/Nowotny). Gerade in Bedrohungslagen kann ein Gewinn an Sicherheit freiheitliche Räume stärken. Die Grenze aber ist fließend.  Wo Unternehmen über Technologien und personenbezogene Big Data verfügen und staatliche Sicherheitsbörden diese brauchen, entsteht ein kritisches gleichgerichtetes Interesse. 

Der Schulterschluss digitaler Abschöpfung würde ein wirkungsmächtiges totalitäres Momentum (Grafik) entfalten und eine gesellschaftliche Koordinatenverschiebung unter gravierenden Freiheitsverlusten in Gang setzen, in digitaler Allianz von Unternehmens- und staatlichen Selbsterhaltungsinteressen. Ohne Gegensteuerung entstünde eine Dynamik in Richtung einer „digitalen Diktatur“.

Demokratie an der Abbruchkante ­erweiterter Unsicherheit

Eine entgegengesetzte Bewegungsrichtung tritt auf, wenn die innere Sicherheit nicht stabilisiert werden kann. „Erweiterte Unsicherheit“ transformiert sich dann mit fortschreitendem Sicherheitsverlust in Prozesse staatlicher Auflösung oder staatlicher Ablösung. Mit „Auflösung“ entsteht im Extremfall eine Tendenz zu einem failed state Szenario unter dramatischer Eskalation des Verlusts von Sicherheit und Freiheit. 

„Ablösung“ hingegen würde einer massiven Gegenbewegung zur Rückgewinnung von staatlich garantierter Sicherheit entsprechen. Erfolgt diese Bewegung zu spät und dann möglicherweise eruptiv, würde die Reform nicht notwendigerweise wieder in eine demokratische Rechtsordnung münden. Denn diese müsste erneut die fragile Aushandlung und Institutionalisierung von Freiheitsrechten gegenüber dem Staat leisten. Stattdessen würden sich auch in diesem Szenario – diesmal über den Umweg des vorangegangenen Sicherheitsverlusts – totalitäre Verhältnisse herausbilden. 

Worum es geht, ist, der demokratiegefährdenden Dynamik erweiterter Unsicherheit schnellstmöglich das Momentum zu entziehen. Dies verlangt Entscheidungen und eine andere, die Gefährdungen erkennende Finanzpolitik. Demokratie lässt sich nicht ansparen.

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