Bei einem Massenanfall von Verletzten (MANV) gelten andere Vorgehensweisen als im Rettungsdienst-Alltag. In einer solchen Extremsituation, welche viele Einsatzkräfte häufiger als angenommen in der Realität erleben[1], ist die Rettung von möglichst vielen Menschenleben das oberste Ziel. Gerade zu Einsatzbeginn sind die vorhandenen Ressourcen knapp.
Massenanfall von Verletzten – knappe Ressourcen und unübersichtliche Lage
Ehrenamtliche Helfer werden zusätzlich zum hauptamtlichen Einsatzpersonal alarmiert, der Katastrophenschutz wird aktiviert. Den Helferinnen und Helfern vor Ort bietet sich oft eine unübersichtliche Lage, die auch mit einer Eigengefährdung verbunden sein kann.
Das Training für einen solchen Ernstfall ist meist nicht ausreichend, um adäquat auf die physische und psychische Belastung im Ernstfall vorbereitet zu sein. Dies führt nicht selten zu fehlerhaften Einschätzungen bei der Erstbegutachtung von Patienten, der sogenannten Sichtung oder Triage, bei der in kürzester Zeit der Gesundheitszustand, bzw. die Schwere der Verletzungen der Betroffenen eines MANV festgestellt werden muss.
Dabei wird jeder Betroffene einer sogenannten Sichtungskategorie zugeteilt. Anhand dieser Ersteinschätzung werden Behandlungs- und Transportprioritäten festgelegt. Durch Fehleinschätzungen können lebensrettende Behandlungen teils nur verzögert begonnen werden. In den letzten Jahren wurden in mehreren Forschungsprojekten teilweise stark schwankende Sichtungsergebnisse festgestellt[2].
Forschungsprojekt AUDIME – Audiovisuelle medizinische Informationstechnik bei komplexen Einsatzlagen
Das Projekt AUDIME wird vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) im Rahmen des Programms „Forschung für die zivile Sicherheit“ in der Förderrichtlinie „Zivile Sicherheit – Schutz und Rettung bei komplexen Einsatzlagen“ gefördert, um die Situation für Rettungskräfte in Großschadenslagen zu verbessern. Projektpartner sind die Klinik für Anästthesiologie der Uniklinik der RWTH Aachen University, der Lehrstuhl für Informationsmanagement im Maschinenbau der RWTH Aachen University (mir wurde mitgeteilt, dass hier auf die neue Bezeichnung Wert gelegt wird), das Centre for Security and Society der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg, sowie die Firmen Tech2 go Mobile Systems GmbH und GS Elektromedizinische Geräte G. Stemple GmbH (corpuls).
Ziel des Projekts ist die Entwicklung einer technischen Unterstützung durch den Einsatz von sogenannten Wearable Devices, die den Einsatzkräften zusätzliche Informationen als Augmented Reality (erweiterte Realität) zur Verfügung stellen. Zu diesem Zweck werden die Einsatzkräfte mit Datenbrillen (Recon Jet, Recon Instruments, Canada) ausgestattet, welche zur Anzeige und Erfassung von Informationen genutzt werden.
Dabei werden verschiedene einsatztaktische Phasen des MANV durch die Technik unterstützt: Zur Sichtung wird exemplarisch der PRIOR-Algorithmus [3], welcher die Ermittlung der Sichtungskategorie anhand von Ja/Nein-Fragen ermöglicht, in der Datenbrille angezeigt. Mit einem optischen Touchpad kann der Nutzer den Entscheidungsbaum des Algorithmus abarbeiten und bekommt die aus den Antworten resultierende Sichtungskategorie angezeigt.
Alternativ dazu ist auch eine telemedizinische Anbindung an die Software der Datenbrille implementiert. Per Knopfdruck kann ein Leitender Notarzt (LNA) aus der Ferne hinzugeschaltet werden. Er kann per Videostreaming von jedem Ort der Welt aus durch die Kamera der Datenbrille die Patienten betrachten und steht über ein Headset mit der Einsatzkraft in Kontakt. So kann im „4-Augen-Prinzip“ eine Sichtung unter ärztlicher Begleitung vorgenommen werden.
Die erfassten Sichtungskategorien werden digital gespeichert und stehen so nachfolgenden Kräften oder auch Führungskräften wie dem Organisatorischen Leiter (OrgL) oder dem am Einsatzort befindlichen LNA zur Verfügung und können beispielsweise über einen Tablet-PC eingesehen werden. Zusätzlich können Informationen von der Patientenanhängekarte abgelesen werden, die im Rahmen des Sichtungsprozesses digital erfasst wurden.
Technische Unterstützung bei Sichtung und individualmedizinischer Behandlung
Mittels der Datenbrillen werden auch standardisierte Behandlungsprozeduren (sogenannte standard operating procedures, SOP) für die individualmedizinische Therapie eingeblendet, um den Rettungskräften bei der Versorgung einzelner Betroffener als Handlungsanweisung zu dienen. Dadurch wird eine qualifizierte Behandlung auch in der belastenden Situation eines MANV gewährleistet. Zusätzlich kann die Behandlung, beispielsweise durch eine Anordnung und Verabreichung von Schmerzmitteln durch den telemedizinisch angebundenen LNA (Tele-LNA) nach dem Prinzip des Aachener Telenotarztes [4,5], unterstützt werden.
Außerdem bietet die Datenbrille die Möglichkeit, Informationen an alle oder gezielt an einzelne Helferinnen oder Helfer zu übermitteln. Denkbar sind beispielsweise Übersichtskarten oder Wetterdaten. Diese Informationen können die Sicherheit der Einsatzkräfte erhöhen und sorgen für einen transparenten Informationsfluss, dessen Fehlen aktuell häufig von Einsatzkräften bemängelt wird.
Informations-Integrations-Schicht als zentrale Komponente des Projekts AUDIME
Zur Umsetzung der technischen Unterstützung tragen die Helfer im Einsatz eine Brille, wie sie in Abbildung 1 zu sehen ist. Mittels eines kleinen Displays am Rande des Sichtfeldes kann über eine spezielle App mit dem AUDIME-System, welches Informationen über eine Internetverbindung bereitstellt, kommuniziert werden.
Die Bedienung erfolgt dabei nach dem Hands-free-Konzept, wodurch der Helfer im normalen Betriebsablauf kein zusätzliches Gerät in den Händen halten muss, sondern mit den Fingern die Funktionen der Brille steuert.
Die Datenübertragung zur Informations-Integrations-Schicht (IIS), welche für Datenhaltung, Analyse und Kommunikation genutzt wird, basiert auf Mobilfunk-Technologie und wird in Zukunft mit 4G oder 5G Netzen umsetzbar sein.
Das Gesamtkonzept, welches in Abbildung 2 zu sehen ist, umfasst den Einsatz von mehreren Datenbrillen im Rahmen einer Großschadenslage. Die Helferinnen und Helfer mit Datenbrille sammeln Daten an verschiedenen Orten im Feld. Diese Daten werden in der IIS gesammelt, aufbereitet und analysiert. Somit stellt die IIS die zentrale Verbindung zwischen allen Helfern im Feld, den Leitungsstellen, dem LNA, dem OrgL sowie zu Helfern dar, die sich abseits der Unfallstelle befinden (Tele-LNA).
Ohne den Einsatz von AUDIME werden diese Daten per Sprechfunk an alle Einsatzkräfte, oder mit deutlicher Verzögerung, an die Führungskräfte vor Ort übermittelt, so dass diese erst nach einiger Zeit einen angemessenen Überblick über die Situation erhalten.
Reguläre Funkkanäle sind beim MANV meist überlastet und können diese Informationen nur bedingt verteilen.
Die Datensammlung erfolgt zum einen durch Informationen, welche mit Hilfe der Brille generiert werden (z. B. das Ergebnis des Sichtungsalgorithmus) oder mittels digitaler Bilderfassung. Dabei wird die Patientenanhängekarte, welche die Ergebnisse aller Sichtungen dokumentiert, abfotografiert und inklusive GPS-Koordinaten an die IIS zur Speicherung und Analyse weitergeleitet. Innerhalb der IIS werden dann – basierend auf einer Bildanalyse – Sichtungskategorie und Patienten-ID gespeichert. Dieses Prinzip folgt dem Grundsatz „High-Tech meets No-Tech“, so dass vorhandene Infrastrukturen und Vorgehensweisen bestehen bleiben können.
Die Einsatzkräfte können ihre gewohnte Arbeitsweise fortsetzen und werden nicht durch neue Verfahren überfordert, sondern lediglich durch die Datenbrillen in ihrer bisherigen Arbeitsweise unterstützt. Dabei ist die Bedienung intuitiv und lässt sich innerhalb kurzer Zeit erlernen. AUDIME erweitert diese bestehenden, analogen Komponenten um eine digitale Informationsverarbeitung. Dieser Ansatz erlaubt auch die nachträgliche Einführung der AUDIME-Hardware in eine Großschadenslage, bei der bis zu diesem Zeitpunkt nur konventionelle Methoden der Dokumentation angewandt wurden.
Alle in der IIS gesammelten Informationen können dann genutzt werden, um zusätzliche Werkzeuge zur Bewältigung des organisatorischen Aufwands und der medizinischen Versorgung der Verletzten zur Verfügung zu stellen. Beispielsweise erhält der LNA eine Übersichtskarte, in der alle aktuell bekannten Positionen der Patienten eingezeichnet sind, sowie weitere individuelle Markierungen, z. B. für Rettungsmittelhalteplätze und Patientenablagen, eingefügt werden können. Diese Informationen können für anrückende Rettungsmittel und für organisatorische Zwecke verwendet werden.
Erstmals telemedizinische Katastrophenmedizin
Die technische Sichtungsunterstützung wurde erstmals bei einer Großübung im April 2016 getestet. Fünf Probanden (Rettungsassistenten im letzten Ausbildungsjahr) führten insgesamt 117 Einzelsichtungen durch. Dabei zeigte sich, dass die konventionelle Sichtung zwar aktuell noch weniger Zeit in Anspruch nimmt, aber die zusätzliche Zeit zur Nutzung der Datenbrille auch die Vorteile der Technik, wie die digitale Erfassung aller Informationen, mit sich bringt.
Vergleicht man beispielsweise die konventionelle Sichtung mit einer telemedizinisch assistierten, so benötigte in der Übung ein Helfer im Durchschnitt 19,4 Sekunden pro analoge Sichtung, erfasste die Sichtungskategorie aber nur in einer Strichliste. Eine Sichtung mit dem Tele-LNA dauerte, unter Verwendung der neuen Technik, im Schnitt 39,2 Sekunden, die digitale Erfassung und anschließende Auswertung aller Informationen konnte jedoch erreicht werden. Außerdem war eine leicht höhere Korrektheit der Sichtungskategorien zu vermerken (Abbildung 3).
Die technische Unterstützung der Sichtung und die Anwendung der Telemedizin im Katastrophenfall sind also nicht nur möglich, sondern sorgen auch für eine qualitative Verbesserung der Verletztenversorgung.
Aktuell werden im Projekt weitere technische Entwicklungen implementiert und bei einer Großübung im Sommer 2017 getestet. Die telemedizinische Unterstützung bei der individualmedizinischen Behandlung konnte bei der genannten Großübung im Jahr 2016 bereits gezeigt werden und soll, vor allem in Bezug auf die Sichtungszeiten, weiter optimiert werden. Bis zu drei Patienten konnten parallel behandelt werden. In allen Fällen wurde eine hohe Behandlungsqualität in der medizinischen Evaluation erzielt.
Neben der Evaluation der Verbesserung einer Patientenversorgung durch Technik umfasst das Projekt AUDIME eine soziologische Evaluation des Sichtungsprozesses. Hierbei wird ermittelt, welche Faktoren Einfluss auf den Ausgang einer Sichtung haben und wie das Gesamtergebnis verbessert werden kann. Einflussfaktoren sind neben dem Einsatz der Datenbrillen auch die Anwendung von Sichtungs- und Behandlungsschemata oder das individuelle Verhalten der Verletzten.
Fazit
Das Projekt AUDIME verbessert die Behandlung und Versorgung von Patienten in Großschadenslagen durch den Einsatz von Datenbrillen, welche einen Echtzeit-Informationsaustausch zwischen Helferinnen und Helfern im Feld sowie Leitungskräften vor Ort und abseits der Unfallstelle ermöglichen.
Ziel ist die Integration von analogen Informationen in eine Informations-Integrations-Schicht, aus welcher die Daten in digitaler und aufbereiteter Form extrahiert und zur Entscheidungsfindung genutzt werden können.
Dadurch kann die Sichtung unterstützt, die Priorisierung von Behandlungen und Transporten optimiert und die individualmedizinische Behandlung durch einen Tele-LNA begleitet werden.
Literatur
[1] Ellebrecht, N. Not+Rettung 5 (2013)
[2] Ellebrecht, N. & Latasch, L. Notf. Rettungsmedizin 15, 58 - 64 (2012)
[3] Bubser, F. et al. Rettungsdienst 8, 30,34 (2014)
[4] Czaplik, M. et al. Methods Inf. Med. 53 (2014)
[5] Skorning, M. et al. Resuscitation 83 (2012)
Crisis Prevention 2/2017
Alexander Paulus, M.Sc.
Lehrstuhl für Informationsmanagement im Maschinenbau
RWTH Aachen University
Dennewartstraße 29, 52068 Aachen
Tel. 0241 80 911 36
E-Mail: alexander.paulus@ima.rwth-aachen.de
Dr. med. Andreas Follmann
Sektion Medizintechnik
Klinik für Anästhesiologie
Uniklinik RWTH Aachen
Pauwelsstraße 30, 52074 Aachen
Tel. 0241 80 36219
E-Mail: afollmann@ukaachen.de