In der Gefahrenabwehr haben Leitstellen entscheidende Aufgaben, die früh die Weichen für den Verlauf der Einsätze stellen. Die Alarmierung der Kräfte und die Weitergabe der ersten Informationen zu der erwarteten Lage am Einsatzort schaffen Fakten im Hinblick auf die Handlungsoptionen des Einsatzleiters. Doch gerade in der frühen Phase eines Einsatzes liegen wenige Informationen vor, die als Entscheidungsgrundlage dienen können. Mit der Einbindung von Live-Daten kann diese Situation und somit die Entscheidungsgrundlage verbessert werden. Dieser Beitrag fasst Erfahrungen unterschiedlicher Projekte zusammen und zeigt, was dafür zu berücksichtigen ist.
Erste zuverlässige Meldungen zur Lage bekommt die Leitstelle in der Regel erst durch die eigenen Kräfte, wenn diese vor Ort eingetroffen sind. Ab Eintreffen der Kräfte am Einsatzort ist die Leitstelle für diese der rückwärtige Informationsknotenpunkt. Dabei ist Sprechfunk – auch wenn er über digitale Kanäle erfolgt – das Kommunikationsmittel der Wahl, begleitet von Telefonaten. Das Pflegen der Lage ist dadurch eine hochgradig manuelle Arbeit. Führungsgehilfen bewegen anhand der Funksprüche Magnete auf Whiteboards, zeichnen in Papierkarten, haken Checklisten ab und befüllen Vordrucke für Lagemeldungen.
Digitale Statusmeldungen, wie sie der BOS-Funk erlaubt, werden an immer mehr Stellen genutzt. Damit erfolgt je Einheit beispielsweise eine Rückmeldung, wenn diese ausgerückt ist, und eine weitere, wenn sie am Bestimmungsort angekommen ist. Eine Übermittlung der eigenen Position anhand von GPS-Daten (Global Positioning System) oder weitere Funktionen des digitalen Funks kommen hingegen noch selten zum Zuge. In länger andauernden Lagen kommen mit der Einrichtung von Stäben weitere Möglichkeiten für Kommunikation und Datenaustausch hinzu, beispielsweise E-Mails mit Textdateien, tabellarische Übersichten oder als Präsentation aufbereitete Lage-Briefings. Von den heutigen Möglichkeiten einer digitalen Lage ist das noch weit entfernt. Die Gründe hierfür sind unterschiedlicher Natur. Sie hängen unter anderem mit der dezentralen Aufstellung der Gefahrenabwehr, dem Beschaffungswesen und nicht zuletzt der kritischen Natur der hier stattfindenden Einsätze zusammen, bei denen Technik nicht zum Risikofaktor werden darf.
Wie unterstützen Live-Daten in der Leitstelle?
Da die Leitstelle zu einem frühen Zeitpunkt des Einsatzes die Weichen für den Einsatzverlauf stellt und während des Einsatzes wichtiger Kommunikationsknotenpunkt ist, sollte sie dafür umfassende technische Unterstützung erfahren. So kann sie die unterschiedlichen Aufgaben mit den begrenzten personellen Ressourcen wahrnehmen und auch dem Einsatzleiter bei der Entscheidungsfindung in der wichtigen frühen Phase eines Einsatzes assistieren.
Vor Eintreffen der eigenen Kräfte gilt es, erste Informationen zur Lage am Einsatzort zu gewinnen. Feuerwehr-Leitstellen haben dafür beispielsweise Zugriff auf Sensorik wie Pegelstandsensoren oder Kameras. Diese müssen allerdings häufig aktiv überwacht werden und sind nicht in die Leitstelle integriert. Folge ist, dass relevante Informationen oder Zusammenhänge übersehen werden können. Gerade in der Frühphase eines Einsatzes sind keine personellen Ressourcen für die aktive Überwachung von Kamerabildern oder Messwerten vorhanden.
Im Rahmen einer Leistungsschau im Chemiepark Bitterfeld-Wolfen wurde 2018 gezeigt, wie eine umfassende Unterstützung für die Leitstelle der Werkfeuerwehr aussehen kann. Die dort demonstrierte Lösung kombinierte eine digitale Lagekarte mit Informationen zur relevanten Infrastruktur (Gebäude, Straßen, Schienen, Wasserentnahmestellen, Rohrbrücken etc.) mit dynamischen Informationen wie Sperrungen, Anfahrtswegen, Fahrzeugpositionen bis hin zu Live-Videos einer vom System automatisch zum Einsatzort gesteuerten Feuerwehrdrohne. Im Hintergrund ermittelte eine automatische Auswertelogik (Regel-Engine) relevante Daten, sodass gezielte Hinweise an die Stelle einer permanenten manuellen Überwachung traten.
Der laufende Einsatz kann darüber hinaus mit zusätzlichen Informationen unterstützt werden. Ein Beispiel dafür sind gut aufbereitete Informationen zu den eigenen Kräften, von Verfügbarkeit zusätzlicher Kräfte über Dienst- und Ruhezeiten bis hin zur Überwachung der Vitalitätswerte.
Integration und Anzeige der relevanten Daten
Vor der technischen Integration sollte ein durchdachtes Konzept erarbeitet werden. Es muss berücksichtigen, welche Aufgaben die Leitstelle übernimmt sowie welche Informationen dafür benötigt und wie diese verfügbar gemacht werden. Da jede Lage anders ist, ist ein anpassbares und erweiterbares Konzept wichtig, um auch für zukünftige Einsatzszenarien und Aufgabenverteilungen gerüstet zu sein.
Die aus der militärischen Luftfahrt stammenden und auf zahlreiche Anwendungsbereiche übertragenen Konzepte zur Situational Awareness zeigen, dass es klare Kriterien dafür gibt, welche Informationen als Entscheidungsgrundlage dienen können bzw. müssen: Dies sind die Relevanz für die eigenen Ziele sowie die räumliche und zeitliche Einordnung.
Bei der Aufgabe, die Relevanz von Informationen und Ereignissen für die Ziele der unterschiedlichen Arten von Einsätzen einzuschätzen, bilden Einsatzpläne und Checklisten die perfekte Grundlage. Sie zeigen, welche entscheidungsrelevanten Informationen benötigt werden. Zudem sind sie Teil der Ausbildung und daher den Einsatzkräften bekannt. Das Unterstützen dieser wichtigen Einsatzgrundlage mit verfügbaren Live-Daten ist daher direkt am bewährten Vorgehen orientiert. Wenn die dort vorgesehenen Informationen live verfügbar sind, anstatt durch Erkundung und Prüfung ermittelt werden zu müssen, werden die Vorteile von Live-Daten in die bekannten Prozesse übertragen und bringen somit keine neuen Risiken mit sich.
Das Kriterium der räumlichen Einordnung muss erweitert betrachtet werden. So bilden beispielsweise Daten- und Energienetze logische Abhängigkeiten über eine große räumliche Distanz. Dadurch können auch Informationen zu Ereignissen, die in räumlicher Entfernung zum Einsatzort liegen, für den Einsatz von Bedeutung sein. Auch hier sind Einsatzpläne und Checklisten eine wichtige Grundlage für die Identifizierung der relevanten Zusammenhänge. Typische Kandidaten dafür sind beispielsweise Energie- und Wasserversorgung, Anfahrtswege samt Verkehrslage und Kommunikationsnetzen (BOS-Funk und öffentliche Kommunikationsinfrastruktur).
Die zeitliche Einordnung als drittes Kriterium hat mehrere Dimensionen:
- Eintritt: Wann ist ein Ereignis eingetreten bzw. wann wird es eintreten?
- Mitteilung: Von wann stammt die Information – und entsprechend auch: Ist diese noch aktuell?
- Auswirkung: Wann ist eine Entscheidung bzw. Handlung erforderlich?
Diese Faktoren machen es schwierig, die Informationen für die Einsatzkräfte übersichtlich aufzubereiten, sodass sie den Entscheidungs- bzw. Handlungsbedarf und die zur Verfügung stehende Zeit direkt erkennen.
Live-Daten zur Unterstützung der Situational Awareness
Situational Awareness ist, kurz zusammengefasst, das Bewusstsein für die Umgebung als Grundlage für die Entscheidungsfindung und das eigene Agieren. Der Begriff umfasst die Wahrnehmung der relevanten Informationen, das Verständnis ihrer Zusammenhänge und die daraus resultierenden Auswirkungen hinsichtlich der eigenen Ziele. Es lassen sich drei Level von Situational Awareness unterscheiden (siehe Abb.). Bei Level 1 handelt es sich zunächst um die Wahrnehmung der relevanten Informationen. Dies lässt sich schon mit den eingangs beschriebenen Whiteboards mit Magneten und Zeichnungen in Papierkarten unterstützen. Sie bilden die Objekte und ihre relevanten Informationen, beispielsweise Art und Standort eines Gebäudes, ab.
Mittels einer solchen einfachen Lagedarstellung, die auch die digitale Darstellung von Objekten auf einer Karte sein kann, werden die Informationen über diese Objekte auch für diejenigen erfassbar, die nicht selbst unmittelbar vor Ort sind. Die Zusammenhänge sowie Schlüsse auf mögliche Auswirkungen und Handlungsoptionen entstehen auf Basis einer solchen Darstellung individuell im Kopf. Für eine Abstimmung und die abschließende Umsetzung muss dies externalisiert werden, beispielsweise in Form einer Lagebesprechung. Interessant für das Ausschöpfen der technischen Möglichkeiten ist das, was sich jenseits von Level 1 befindet. Selbstverständlich bringen auch Punkte oder taktische Zeichen auf einer digitalen Karte schon einen Mehrwert. Gerade die zeitkritische Entscheidungsfindung profitiert jedoch von einer weitergehenden Unterstützung.
Level 2 bringt Kontext in die Lage. Die Auswirkung der Lageinformationen auf die eigenen Ziele findet jetzt Berücksichtigung. Zusammenhänge und Konzepte, die – wie oben beschrieben – bisher im Kopf entstanden sind, können dafür zumindest anteilig in einem System hinterlegt werden. Hiermit kann ein System unterstützen, die Auswirkungen von neuen Informationen auf den Einsatz zu ermitteln. Statt dass Einsatzkräfte aktiv sämtliche Daten prüfen müssen, kann ein System relevante Zusammenhänge erkennen und auf Entscheidungs- oder Handlungsbedarf hinweisen.
Auf Grundlage von Level 2 kann schließlich die dritte Ebene der Situational Awareness das bieten, was Grundlage für eine fundierte Entscheidungsfindung ist. Mittels der relevanten Informationen (Level 1) sowie der Zusammenhänge und den Auswirkungen auf die Einsatzziele (Level 2) erfolgt in Level 3 eine Aussage über die mögliche weitere Entwicklung der Lage. Auch das, was hier bisher im Kopf passiert, kann systemtechnisch unterstützt werden. Methodisch handelt es sich bei der Unterstützung beispielsweise um „What-if-Analysen“, Simulationen oder Methoden der Künstlichen Intelligenz (KI). Erst die Projektion der aktuellen Lage in die Zukunft bringt eine umfassende Entscheidungsunterstützung durch Einbezug der eigenen Handlungsoptionen und kann bei systemtechnischer Unterstützung den vollen Nutzen aus der Einbindung von Live-Daten ziehen.
Ausbildung und Übung bestimmen über den Erfolg im Ernstfall
Ein kritischer Erfolgsfaktor für Einsätze ist, bei unterschiedlichen Beteiligten ein möglichst ähnliches – oder zumindest kompatibles – Verständnis der Lage zu erreichen. Ein unterschiedliches Verständnis der Lage führt zu Reibungsverlusten durch Missverständnisse, Doppelarbeit oder nicht bearbeitete Aufgaben. Der Nutzen der Einbindung von Live-Daten wird nur dann im Einsatz zum Tragen kommen, wenn dies auch Teil von Ausbildung und Übungen ist. Die Ausbildung muss direkt mitgedacht werden. Durch häufige Zusammenarbeit wird ein Verständnis dafür gewonnen, wie andere Beteiligte auf neue Informationen und eine veränderte Lage reagieren. Die Abstimmung kann verbessert werden, durch neue Erkenntnisse werden eventuell auch Checklisten erweitert und der Feinschliff an der technischen Unterstützung erfolgt, bevor die Kräfte sich auf diese in kritischen Situationen verlassen müssen.
Der Ansatz „Train as you fight” der möglichst realitätsnahen Übung wird allerdings leider zu selten berücksichtigt. Das hat selbstverständlich seine Gründe, denn beispielsweise kann eine Feuerwehr nicht einfach eine Großübung mit den im Dienst befindlichen Kräften durchführen. Der Betrieb muss aufrechterhalten werden. Übungen in einem realistischen Maßstab und einer realitätsnahen Einsatzumgebung sind allerdings kaum zu ersetzen. Es ist ein großer Unterschied, ob Einsatzkräfte bei der Anfahrt von einem weggeschwemmten Straßenabschnitt gestoppt werden oder im Rahmen einer Übung ein an einen Baum befestigter Zettel „Hier keine Durchfahrt“ über ein Übungshindernis informiert. Der Unterschied zur Übungskünstlichkeit gilt umso mehr für kritische Situationen mit Rauch, Flammen und Gefährdung von Menschenleben.
Formulierungen wie „In einem richtigen Einsatz würden wir jetzt ...“ verraten meist die Stellen, an denen es in den Einsätzen haken wird. Nur wenn auch die Abstimmung mit der Leitstelle und anderen Kräften inklusive der Einbringung von technischer Unterstützung fester Bestandteil von Ausbildung und Übung ist, lassen sich die Reibungsverluste im Einsatz reduzieren. Nur so entfaltet sich dann auch der tatsächliche Nutzen der Einbindung von Live-Daten. Die Erfahrung zeigt, dass beispielsweise Wissenschaftler, die Erfahrung in Übungs- und Einsatzbegleitung unterschiedlicher Organisationen gesammelt haben, den Transfer von Erfahrungen und bewährten Vorgehensweisen methodisch unterstützen können. Durch das Feedback neutraler Beobachter und die Unterstützung einer solchen Außenperspektive kann der Erkenntnisgewinn aus Einsätzen und Übungen zusätzlich verbessert werden.
Crisis Prevention 3/2021
Arne Schwarze
Fraunhofer FKIE
Forschungsgruppenleiter „Systems for Situational Awareness“
Telefon: +49 228 9435-897
E-Mail: arne.schwarze@fkie.fraunhofer.de