15.04.2024 •

Resilienz von Leitstellen

Peer Rechenbach

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In den letzten Jahren wurde im Kontext der strategischen Gefahrenabwehrplanung zunehmend die Begrifflichkeit „Resilienz“ genutzt. Doch was ist damit gemeint und wie kann und muss diese Begrifflichkeit im Rahmen der Gefahrenabwehrplanung mit Leben erfüllt werden? Die Europäische Union und die Bundesregierung haben diesbezüglich Aussagen und Zielvorgaben formuliert, die von den Ländern und Kommunen in ihren jeweiligen Aufgabenbereichen Berücksichtigung finden sollen.

Mit den folgenden Darstellungen soll verdeutlicht werden, wie bei den Rettungs- und Polizeileitstellen als kritische Infrastrukturen grundlegende Maßnahmen ergriffen werden sollen, um die gebotene Resilienz tatsächlich zu gewährleisten. In den vergangenen Jahren wurde vielfältig die Notwendigkeit einer ausreichenden Redundanz diskutiert und in einem begrenzten Umfang realisiert (soweit es der finanzielle Rahmen zuließ). Im Gegensatz zur Redundanz verfolgt die Resilienz andere Ziele, die individuell entwickelt und kontinuierlich fortgeschrieben werden müssen.

Begrifflichkeiten

Der Begriff der Resilienz ist in den Materialwissenschaften schon seit dem 19. Jahrhundert bekannt und bezieht sich dort z. B. auf den Zahnschmelz, der bei Belastung trotz aller Härte eine gewisse Nachgiebigkeit aufweist. Der Ursprung des Begriffs „Resilienz“ kommt aus dem lateinischen „resilire“ und wird im deutschen mit „abprallen“ / „zurückprallen“ „zurückspringen“ oder „ablassen“ übersetzt. In den letzten Jahren kam der Begriff in verschiedenen wissenschaftlichen Disziplinen in Variationen zur Anwendung.

Richtungsweisende Definitionen lauten:

Bezogen auf den Menschen beschreibt Resilienz (Widerstandsfähigkeit) die Fähigkeit von Personen oder Gemeinschaften, schwierige Lebenssituationen wie Krisen oder Katastrophen ohne dauerhafte Beeinträchtigung zu überstehen.

„Resilienz oder Pufferkapazität (im Sinne einer alternativen Lösung und nicht im Sinne der Redundanz). Relatives Maß für die Dauer, die eine kritische Infrastruktur die Einwirkung eines Ereignisses verkraften kann, ohne in ihrer Funktionsfähigkeit beeinträchtigt zu werden.“

oder

„Das Ausmaß der Störung, das absorbiert werden kann, bevor das System seine Struktur ändert“.

Dabei ist insbesondere zu berücksichtigen, dass ein resilientes System die Fähigkeit besitzt, dass es in der laufenden besonders schwerwiegenden Belastungssituation alternative Konzepte oder Prozesse entwickelt und umsetzt, um den Herausforderungen effektiver begegnen zu können. Ein resilientes System ist in der Lage, in der kritischen Phase kreative Lösungen zu entwickeln und umzusetzen, um den Anforderungen der Krise optimal zu begegnen.

Diese Betrachtung wird von Nassim Nicholas Taleb, mit der Begrifflichkeit einer „Antifragilität“ ergänzt. Mit der Antifragilität wird das Gegenteil von Zerbrechlichkeit beschrieben. Trotz einer besonders schwerwiegenden Belastungssituation zerbricht das System nicht. Die Fähigkeit eines Systems, unter Stress und Unordnung zu wachsen und optimalere Lösungsprozesse spontan zu entwickeln und zu nutzen, ist integraler Bestandteil eines resilienten Systems. Dies bedeutet, dass dafür entsprechende Voraussetzungen im Vorfeld geschaffen werden müssen.

Letztendlich wird mit dem strategischen Ansatz das Ziel verfolgt, den Menschen in einer Krise so viel Unterstützung zu gewähren, wie möglich. Der Schutz des Menschen und seiner Existenzgrundlagen steht dabei im Fokus.

Strategischer Rahmen

Mit den Regelungen der Europäischen Union und der Bundes­regierung zur Sicherung der kritischen Infrastrukturen wird das Ziel verfolgt, dass sich keine nachhaltigen Einschränkungen bei der Versorgung der Menschen mit lebensnotwendigen Grundbedürfnissen ergeben. Die Diskussion, insbesondere auf der kommunalen Ebene, welche Einrichtungen zu den Kritischen Infrastrukturen zählen, ist derzeit noch nicht abgeschlossen. In diesem Kontext muss immer folgende Definition des BSI-Gesetzes (§ 2 Abs. 10 Pkt. 2) greifen, die besagt:

Einrichtungen, Anlagen oder Teile davon, die von hoher Bedeutung für das Funktionieren des Gemeinwesens sind, weil durch ihren Ausfall oder ihre Beeinträchtigung erhebliche Versorgungsengpässe oder Gefährdungen für die öffentliche Sicherheit eintreten würden.

Damit wird beispielsweise unmissverständlich deutlich, dass die kommunalen Rettungsleitstellen sowie die Polizeileitstellen zu den Kritischen Infrastrukturen zu zählen sind.

Um ihre Bürger wirksam zu schützen, will die Europäische Union weiterhin, dass Schwachstellen beseitigt werden. Dies gilt insbesondere für die Kritischen Infrastrukturen, die für das Funktionieren unserer Gesellschaften und Wirtschaft unerlässlich sind. Die Lebensgrundlage der Unionsbürger und das reibungslose Funktionieren des Binnenmarkts sind von verschiedenen Infrastrukturen für die zuverlässige Erbringung von Diensten abhängig, die für die Aufrechterhaltung kritischer gesellschaftlicher und wirtschaftlicher Tätigkeiten wesentlich sind. Die Europäische Union will gewährleisten, dass ein hohes Maß an Resilienz bei kritischen Einrichtungen erreicht wird. Die Mitgliedsstaaten der Europäischen Union sollen bis 2026 berichten, welche Kritischen Infrastrukturen in den einzelnen Staaten vorhanden sind. Die Europäische Union erwartet, dass ein „Resilientes System“ einer kritischen Einrichtung die Fähigkeit hat

  • einen Sicherheitsvorfall zu verhindern,
  • sich vor einen Sicherheitsvorfall zu schützen,
  • auf einen Sicherheitsvorfall zu reagieren,
  • einen Sicherheitsvorfall abzuwehren,
  • die Folgen eines solchen Vorfalls zu begrenzen,
  • einen Sicherheitsvorfall aufzufangen,
  • einen Sicherheitsvorfall zu bewältigen und
  • sich von einem solchen Vorfall zu erholen.

Dazu gehört auch die kontinuierliche Fortführung des Geschäftsbetriebs und die Notfallwiederherstellung.

Im internationalen Kontext zur Begrenzung der Risiken sind im Sinne des vorbeugenden und vorsorgenden Katastrophen­schutzes (prevention + preparedness) folgende Ziele genannt:

  • All-Gefahren-Ansatz (natürliche oder vom Menschen verursachte Gefahren);
  • Katastrophenrisikomanagement als Aufgabe aller Sektoren und Ebenen;
  • Kohärenz zwischen allen Politikbereichen.

In der Deutschen Strategie zur Stärkung der Resilienz hat die Bundesregierung folgende Leitlinien definiert (auszugsweise wiedergegeben):

  • Im Fokus steht der Schutz von Menschen und ihrer Existenzgrundlagen.
  • Gemäß dem Prinzip „Niemanden zurücklassen“ nimmt die Resilienzstrategie eine gesamtgesellschaftliche und inklusive Perspektive ein.
  • Alle Akteure tragen Verantwortung für die Umsetzung im ­Rahmen ihrer Kompetenzen und Kapazitäten.
  • Es wird ein All-Gefahren-Ansatz verfolgt.
  • Bestehende Prozesse, Kapazitäten, und Prinzipien werden als Basis genutzt und ausgebaut.
  • Zwischen laufenden Bemühungen werden Synergien ­geschaffen und kohärente Abläufe gewährleistet.
  • Mit der Umsetzung der Resilienz Strategie geht ein ­kontinuierlicher Lernprozess einher.

Um diese Leitlinien inhaltlich zielführend auszugestalten, müssen Planungen und Maßnahmen in allen Leitstellen durchgeführt, umgesetzt und kontinuierlich fortgeschrieben werden. Dabei ist zu berücksichtigen, dass die umgesetzten Planungen im Rahmen von Übungen auf ihre Wirksamkeit geprüft und das Personal kontinuierlich trainiert werden müssen. Letztendlich müssen die Betreiber von Kritischen Infrastrukturen Maßnahmen zum Funktionserhalt entwickeln und fortschreiben. Gute Hinweise liefern die internationalen Standards aus der Normenreihe „Security and Resilience (ISO 22300 ff.)“, die teilweise in nationale Normen (z.B. DIN EN ISO 22313:2014 Sicherheit und Schutz des Gemeinwesens Aufrechterhaltung der Betriebsfähigkeit) überführt wurden.

Hinweise für die Planung und Umsetzung

In allen Leitstellen bestehen Planungen, wie bei bestimmten Ereignissen oder betrieblichen Störungen agiert werden soll. Dabei wurden beispielsweise Prozesse etabliert, wie bei Ereignissen mit einer Vielzahl von Notmeldungen oder bei Großschadenlagen reagiert werden soll, um den Anforderungen an die gestiegene Kapazität zu genügen. Für Ausfälle einzelner Funktionalitäten wurden entsprechende Redundanzen in technischer und/oder betrieblicher Hinsicht installiert bzw. geplant. Diese Lösungsansätze haben sich grundsätzlich bewährt. Gleichwohl müssen im Sinne der Resilienzstrategie weitergehende Planungen erfolgen.

Beispiel

Eine Rettungsleitstelle ist weitgehend mit derselben Technik (Hard- und Software) ausgestattet, wie eine benachbarte Leitstelle. Beide Leitstellen haben sich darauf verständigt, dass im Bedarfsfall eine personelle Unterstützung angefordert werden kann, wenn aufgrund der Schadensereignisse dies geboten erscheint. Dieser Lösungsansatz hat in der Praxis funktioniert und sich bewährt.

Im Sinne der Resilienzstrategie ist diese beispielhafte Lösung nicht ausreichend. Es muss das Ziel verfolgt werden, mit eigenen Mitteln die

  • Funktionalität aufrecht zu erhalten und
  • im Bedarfsfall die Kapazität aus eigener Kraft zu steigern

bzw. neue kreative Lösungen spontan zu entwickeln und umzusetzen. Letzteres erfordert jedoch umfassende Planungen und ggf. Mittel in der Vorhaltung.

Dabei muss der Fokus insbesondere auf folgende Bereiche gerichtet werden:

  • Personal,
  • Umgebung,
  • Gebäude,
  • Anlagen und Geräte,
  • Hard- und Software,
  • Datenhaltung, Informationsgewinnung und wesentliche schriftliche Unterlagen sowie Pläne,
  • Kommunikationseinrichtungen,
  • Betriebsmittel sowie
  • organisatorische Betriebsprozesse.

Beispielhafte Kriterien zur Beurteilung könnten sein:

  • Wie können die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter bei einem Ausfall der elektrischen Energieversorgung alarmiert werden oder kommen sie aus eigenem Antrieb zur Leistelle?
  • Wie können die einzelnen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter bei Hochwasserlagen oder Schneekatastrophen den Arbeitsplatz „Leitstelle“ sicher erreichen?
  • Wie wirkt sich der Ausfall des öffentlichen Personennah­verkehrs auf die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter und die individuelle Erreichbarkeit der Leitstelle aus?
  • Welche persönlichen Lebensumstände könnten das Personal hindern, bei einer Krise zur Leitstelle zu kommen? (z.B. pflegebedürftige Angehörige, fehlende Kleinkinderbetreuung oder dgl.)
  • Ist das Gebäude der Leitstelle gegen Hochwassergefahren oder gewalttätige Demonstranten angemessenen geschützt (physischen Schutz der Räumlichkeiten)?
  • Sind die Zufahrtswege zur Leitstelle frei von Überflutungen, Lawinenabgängen oder sonstiger Verkehrsbehinderungen?
  • Können geeignete Serviceunternehmen im Bedarfsfall für erforderliche Instandsetzungen der Anlagen und Geräte innerhalb weniger Stunden auch während einer Krise herangezogen werden?
  • Ist der Zugriff auf wesentliche Daten und Informationen auch dann gewährleistet, wenn Teile der Informations­technik nicht zur Verfügung stehen?
  • Sind die Handlungsprozesse, die Hard- und Software sowie die technischen Systeme modular aufgebaut, so dass die Funktionsweise von Teilkomponenten separat bzw. modular aktivierbar sind?
  • Können alternative Kommunikations- und Alarmierungswege aktiviert werden?
  • Sind die Betriebsprozesse so organisiert, dass bei einer Funktionsstörung oder bei einer erforderlichen Kapazitäts­erweiterung sofort vorgeplante und trainierte Krisenmanagementverfahren starten, so dass schnellstmöglich eine Kapazitätserweiterung oder trotz bestehender Funktions­störungen eine Aufrechterhaltung des Betriebs möglich ist?
  • Wie schnell können dezentrale Annahmestellen für Notmeldungen (z.B. Notfalltreff- und Informationspunkte bzw. Unfallhilfs- und Meldestellen) als alternative Kommunika­tionswege etabliert werden?
  • Ist das Personal auf die Aktivierung modularer Teilprozesse vorbereitet und trainiert?
  • Sind zusätzliche Arbeitsplätze (z.B. integrierbares Ausbildungs- und Trainingssystem) vorhanden und aktivierbar, um zusätzlichem Personal die erforderlichen Arbeitsmittel zur Verfügung zu stellen?
  • Ist das Personal auf den Stress infolge extremer Belastungen durch hohe kapazitive Anforderungen oder Funktionsstörungen vorbereitet und trainiert?

Die beispielhaft genannten Beurteilungskriterien machen deutlich, dass ein Resilienzplan erstellt werden sollte. Dabei müssen im Sinne eines All-Gefahrenansatzes alle denkbaren Risiken erfasst und bezüglich der Konsequenzen in kapazitiver und funktioneller Form bewertet werden. Unter Einbeziehung der von der Bundesregierung dargelegten Leitlinien müssen die identifizierten Risiken so weit wie möglich begrenzt werden. Da eine Vielzahl von Risiken außerhalb des Einflussbereiches einer Leitstelle ist, müssen entsprechende Reaktionsprozesse entwickelt, trainiert und kontinuierlich fortgeschrieben werden.

Zusammenfassung

Für Kritische Infrastrukturen, die infolge eines Ausfalls oder einer Beeinträchtigung erhebliche Versorgungsengpässe oder Gefährdungen für die öffentliche Sicherheit verursachen könnten, müssen entsprechende Maßnahmen getroffen werden, um die erforderliche Kapazität sowie die vollumfängliche Funktionalität zu gewährleisten.

Sowohl die Europäische Union als auch die Bundesregierung haben mit Hinweisen und Regelungen deutlich gemacht, dass entsprechende vorbereitende und sichernde Maßnahmen von den jeweiligen Betreibern zu treffen sind. Hier müssen die Betreiber der Rettungs- und Polizeileitstellen nunmehr für ihren Verantwortungsbereich die potenziellen Risiken erfassen und bewerten. Daraus müssen geeignete Planungen für die Sicherung einer jederzeitigen ausreichenden Kapazität und Funktionalität entwickelt werden. Dabei ist ein besonderes Augenmerk auf das ­Personal zu richten, da diese in der Krise die vorgeplanten Maßnahmen erfolgreich umsetzen müssen. 



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