Vernetzte Führung und Krisenkommunikation bei interdisziplinären Einsatzlagen

Björn Vetter, Michael Raut

Ruatti Systems

Während einzelne Behörden, Feuerwehren und Hilfsorganisationen sich bereits punktuell oder auch in der Fläche Softwaresysteme zur Einsatzführungsunterstützung beschafft haben und mit Erfolg einsetzen, scheitert es in anderen Bereichen entweder am Widerstand örtlicher Traditionswächter oder an unklaren Zuständig- und Verantwortlichkeiten. So werden von einzelnen Bundesländern die Beschaffung von Einsatzleitwagen für den Katastrophenschutz explizit ohne Führungssoftware ausgeschrieben – obwohl entsprechend leistungsstarke EDV-Ausstattung verlastet ist und in den Einsatz gebracht wird. Die Verantwortung für die Beschaffung der Software, der entsprechenden Schulung der Mitarbeitenden und somit der gesamte finanzielle Aufwand wird an den Landkreis oder an die fahrzeugbetreibende Hilfsorganisation weitergegeben. 

Anhand zweier Einsatzgeschehen aus Bayern aus Sicht des Bayerischen Roten Kreuzes sollen Problemfelder und Herausforderungen bei großen interdisziplinären Einsatzlagen geschildert werden.

Evakuierung Augsburg

Bei Bauarbeiten wurde eine 1,8 to schwere und mit drei Zündern versehene Luftmine aus dem zweiten Weltkrieg gefunden. Dieser Fund zog die größte Evakuierung seit 1945 nach sich. Ca. 54 000 Einwohner der schwäbischen Bezirkshauptstadt Augsburg, die in einem Radius von 1 500 Meter rund um den Fundort wohnten, mussten ihre Wohnungen verlassen. 

Der Entschärfungstermin am 25.12.2016 (1. Weihnachtsfeiertag) wurde bewusst gewählt, um möglichst viele ehrenamtliche Helfer rekrutieren zu können – gefunden wurde die Bombe bereits am 20.12. In den Tagen bis zur endgültigen Evakuierung wurden bereits Anwohner aus vulnerablen Gruppen in freie Kapazitäten von Krankenhäusern und anderen caritativen Einrichtungen verlegt. Zum Einsatz kamen nahezu alle etablierten Hilfsorganisationen (ASB, BRK, JUH, MHD, Teile aus dem MHW) sowie die taktischen Einheiten der Regierungskontingente aus den sechs Regierungsbezirken.

Als eine größere Herausforderung stellte sich im Verlauf des Einsatzes die Verwaltung und Führung der Vielzahl der Helfer/innen aus mehreren Hilfsorganisationen heraus. Mit den klassischen „Helferstärkemeldekarten“ des Roten Kreuzes, deren Akzeptanz insbesondere bei anderen Hilfsorganisationen nicht durchgehend gegeben ist, konnte hier keine zeitnahe Erfassung aller Einsatzkräfte erfolgen. 

Als tatsächliches Problem kristallisierte sich während des Einsatzverlaufs die unterschiedlichen Arten der Kommunikation im Bereich der Einsatz- und Einsatzabschnittsführung heraus. 

Es wurde für dieses Ereignis für alle Beteiligten das webbasierende Führungssystem „Commander“ zur Verfügung gestellt. Bereits nach kurzer Einarbeitung in den beteiligten ELW zeigte sich ohne langwierige Softwareinstalla­tion eine nachweisbar schnellere Kommunikation und Auftrags­abarbeitung. Die Einsatzleitung verfügte ab diesem Moment über ein Echtzeitlagebild. 

Allerdings zeigte sich, dass einzelne beteiligte Führungskräfte auf ihren Einsatzleitwagen nicht mit diesem System, sondern mit eigenkreierten Programmen arbeiteten. Die Weigerung, am einheitlichen System zu partizipieren und entsprechend fehlende Schnittstellen führten zu einem erheblichen Arbeitsmehraufwand, der insbesondere bei den Rückverlegungen zu Zeitverzögerungen führte.

„Eine einheitliche Einsatz-Stabssoftware, wäre und ist ein elementarer und sehr wichtiger und unverzichtbarer Beitrag zum Gelingen des Einsatzes“, so Michael Raut, Landesbereitschaftsleiter des BRK. 

gemeinsame Lagerkartenführung unter interdisziplinärer Einsatzleitung
Interdisziplinäre Einsatzleitung mit gemeinsamer Lagekartenführung.
Quelle: Ruatti Systems

Zugunglück Bad Aibling

Durch einen Fehler des Fahrdienstleiters in Bad Aibling kam es am Morgen des 9. Februars 2016 zu einem folgenschweren Zugunglück mit 94 Verletzten und 10 Toten, als zwei Züge der Bayerischen Oberlandbahn zwischen den Bahnhöfen Bad Aibling Kurpark und Kolbermoor auf eingleisiger Strecke kollidierten. Im Einsatz waren Polizei, Feuerwehr und das THW, die verschiedenen Hilfsorganisationen (ASB, BRK, MHD) und 80 Einsatzkräfte des Österreichischen Roten Kreuzes.

Aufgrund des schwer zugänglichen Einsatzgebietes (Wald, Flussnähe und Länge des Schadensgebiets) wurden darüber hinaus Wasserwacht und Bergwacht benötigt. Insgesamt waren 700 Einsatzkräfte, 144 Rettungsfahrzeuge (davon 30 aus Österreich), 79 FFW, 8 THW-Fahrzeuge und 17 Rettungshubschrauber im Einsatz. 

Die Notrufe gingen bei unterschiedlichen Leitstellen ein, sodass unabhängig voneinander viele Kräfte in den Einsatz gebracht wurden. So waren Einsatzkräfte des Österreichischen Roten Kreuzes bereits zu einem Zeitpunkt auf Anfahrt zum Schadensgebiet, als bayerische Kräfte noch nicht alarmiert waren.

Eine Registrierung der Einsatzkräfte gestaltete sich aufgrund der Lage und Ausdehnung des Schadensgebiets und den Mobilfunkproblemen vor Ort als ebenfalls schwierig. Einen Gesamtüberblick über alle am Einsatz beteiligten Kräfte und Organisationen gab es erst spät. Auch hier wäre ein einheitliches System zur Gesamteinsatzleitung, an das sämtliche am Einsatz beteiligten Organisationen die entsprechenden Daten liefern, wünschenswert gewesen, erklärt Michael Raut.

Weitestgehend Einigkeit herrscht sicher bei der Auffassung, dass Leitstellen der BOS eine gute und stabile Software benötigen. 

Die Erkenntnis, dass außerhalb der Leitstellen Einsatzleitwagen ohne elektronische Führungsunterstützung, Einsatzleiter mit Klemmbrett und Papier mitten im Einsatzgeschehen und Stäbe mit 4fach-Vordruck oder Führung via E-Mail weit hinter den potenziellen Möglichkeiten zurückbleiben, die sie mit Hilfe von Softwareunterstützung erreichen könnten, setzt sich nur langsam durch. Der gesamte Führungsvorgang wurde schnelllebiger, es ist heute mit entsprechenden Systemen wesentlich schneller möglich, vor die Lage zu kommen und zu agieren anstatt lange Zeit nur zu reagieren.

Die verschiedenen Behörden und Organisationen mit Sicherheitsaufgaben haben der Natur ihrer Aufgaben folgend differenzierte Ansprüche an eine Einsatzführungssoftware, dementsprechend breit gefächert ist der Markt. Dennoch müssen die Organisationen im Einsatzfall eng zusammenarbeiten und Daten austauschen. Die interorganisationalen Schnittstellen sind in der Regel allerdings in den entsprechenden Vorgaben der Landkreise und Bundesländer oftmals nur unzureichend beschrieben und lassen sich zusammenfassend in hierarchischen Unterstellungsverhältnissen beschreiben.

Als Lösung der Schnittstellenproblematik werden Verbindungspersonen der jeweiligen Organisationen gesehen, die z. B. als Fachberater in den Einsatzleitungen bzw. Krisen- und Einsatzstäben mitwirken. Auch wenn diese Personen für die persönliche Ansprache zur schnellen Gewinnung von Informationen zur jeweiligen Organisation sicher unabdingbar für die Gesamteinsatzleitung sind, so stellen sie bei der Informationsweitergabe einen zeitverzögernden Filter dar, der eine Echtzeitlagedarstellung ebenso unmöglich macht wie die zeitgleiche Information aller beteiligten Organisationen. 

Zusammenfassend lassen sich aus Sicht der Autoren folgende Thesen aufstellen:

  1. Der Erfolg interorganisationeller und interdisziplinärer Zusammenarbeit zwischen den verschiedenen Akteuren in der polizeilichen und nichtpolizeilichen Gefahrenabwehr unter den Bedingungen hohen Zeitdrucks und geringer Fehlertoleranz ist stark von den Rahmenbedingungen und den handelnden Personen abhängig. Technische Lösungen stoßen derzeit aufgrund der unterschiedlichen Systeme bis hin zu gänzlich fehlenden Softwarelösungen an Grenzen. 
  2. Die momentan heranwachsende Generation von Führungskräften ist mit elektronischer Kommunikation und mit dem Gebrauch von Software aufgewachsen. Die Zurückhaltung gegenüber modernen Einsatzführungsmitteln sinkt.
  3. Der Wunsch nach einem einheitlichen Führungssystem ist nicht umzusetzen. Die Softwarelandschaft ist ebenso vielfältig wie die Partikularinteressen der jeweiligen Nutzer. So haben sanitäts- und rettungsdienstliche Hilfsorganisationen andere Erwartungen an eine Führungsunterstützungssoftware als beispielsweise Feuerwehren. 
  4. Die am Markt befindlichen Führungsunterstützungssysteme können oftmals mit den Leitstellenrechnern kommunizieren, sind aber ansonsten eher geschlossene Insellösungen.
  5. Die Schaffung eines Mindeststandards an entsprechende Softwaresysteme in Sachen Ausfallsicherheit, Kommunikationsfähigkeit und insbesondere an eine Schnittstelle zum Austausch von Daten an andere Systeme erscheint vor diesem Hintergrund unabdingbar.

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