Terrorgefahr auf Weihnachtsmarkt
Terrorgefahr auf Weihnachtsmarkt
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25.05.2023 •

Terrorismus und Amokläufe – ein (un-)kalkulierbares Risiko

Dominik Heytens, Billy Fischer

Erfurt, Winnenden und Littleton. Fast jeder assoziiert diese Orte aus seiner Erinnerung heraus mit einem schweren Amoklauf. Sprechen wir vom Thema Terror, sind es Berlin, Paris oder Hanau.

Glücklicherweise sind Amok- und Terrorlagen nicht alltäglich und gehören zu den seltensten Ereignissen. Dennoch bescheinigt das Institute for Economics & Peace Deutschland in seinem jährlich erscheinenden Global Terrorism Index mit Rang 33 eine mittlere Gefährdung. Zum Vergleich: Israel liegt auf Rang 30. Im Jahr 2014 war Deutschland mit Platz 83 noch im oberen Bereich und galt damit als sicherer. Daraus lässt sich zwar eine erhöhte terroristische Gefährdungslage ableiten, doch die Anzahl daraus resultierender erfolgreicher Taten blieb nach wie vor auf einem niedrigen Niveau. Abseits dieser Einschätzung leben wir weiterhin in einem der sichersten Länder der Welt und die Wahrscheinlichkeit einer direkten individuellen Konfrontation mit solch einer Lage ist dementsprechend gering. Nichtdestotrotz ist eine Reaktion der nichtpolizeilichen Gefahrenabwehr auf die veränderte Sicherheitslage unerlässlich.

Zum besseren Verständnis bedarf es zunächst einer Begriffs­abgrenzung zwischen Amoklauf und Terroranschlag. Das Wort Amok entstammt dem Malaiischen und bedeutet so viel wie mit blinder Wut angreifen. Hierbei greift ein Täter, selten sind es mehrere, seine Opfer häufig unvermittelt an. Die besondere Aggressivität bei der Vorgehenseise endet oft mit zahlreichen Opfern sowie dem Tod des Täters. Trotz der opferseitig als überraschend empfundenen Tat haben Amokläufe meist eine Vorgeschichte oder medizinische Ursache. Beispielsweise wurde der Täter eines Schulamoklaufes in Finnland als psychisch auffällig beschrieben. Dies deckt sich mit neueren wissenschaftlichen Erkenntnissen, wonach Täter einen Kontrollverlust über ihr Leben erfuhren, ausgelöst durch die Familie, Freunde oder Mitschüler und sozialer Disintegration. Wissenschaftliche Erklärungsansätze gehen über die Theorie der psychischen Auffälligkeit weit hinaus, etwa mit der Instinkt- und Triebtheorie. Sozialinteraktionistische Theorien betrachten dagegen aggressives Verhalten als funktional und zielorientiert. Epidemiologische Untersuchungen kamen außerdem zum Ergebnis, dass psychisch Erkrankte nicht häufiger zu aggressiven Verhalten neigen als Gesunde. In anderen Fällen lagen keine medizinisch diagnostizierten Defizite zugrunde, sondern die Tat basierte auf Rachegedanken. Da die Motivation nicht auf ideologischen Beweggründen fußt, ist sie weder politisch, religiös, ethnisch oder anderweitig ideologisch geprägt!

Die Vielzahl der Erklärungsansätze zeigt, wie komplex und vielfältig die Intentionen für einen Amoklauf sein können.

Der Begriff Terrorismus hingegen ist breit gefächert und unterliegt unterschiedlichen Wahrnehmungen und Einstufungen, was als terroristisch gilt und was nicht. Eine einheitliche Definition zum Begriff Terrorismus existiert allerdings nicht, ebenso wenig eine wissenschaftliche Fachdisziplin mit entsprechender Deutungs­hoheit. So definiert beispielsweise das Bundesinnenministerium Terrorismus als die aggressivste und militanteste Form des ­Extremismus. Obwohl es an einer einheitlichen Definition mangelt, kennzeichnet er sich doch durch idealtypische Merkmale. Zum Beispiel als

  • Gewalttat, die eine radikale Änderung der politischen oder (gesellschafts-) ideologischen Ausrichtung bewirken soll
  • absichtliche und systematische Gewaltausübung
  • Verbreitung von Angst als beabsichtigte Wirkung

In Deutschland existieren vorrangig drei extremistische Phänomenbereiche: islamistisch, rechts- und linksextrem. Sie besitzen alle ein ähnlich hohes Personenpotenzial, doch variiert die Anzahl der verübten Straftaten stark (siehe Tab. 1; Stand 2021):

Tabelle 1: Personenpotenzial und Anzahl der Straftaten nach Phänomenbereich...
Tabelle 1: Personenpotenzial und Anzahl der Straftaten nach Phänomenbereich gemäß Bundesverfassungsschutzbericht 2021

Extremisten bewegen sich außerhalb der freiheitlich-demokratischen Grundordnung, jedoch ist nicht jeder Extremist gleichbedeutend mit einem Terroristen. Dennoch bietet die Tabelle einen guten Überblick über das bestehende Gefährdungspotenzial in der Bundesrepublik. Insbesondere, da sich in der Vergangenheit bereits terroristische Gruppierungen wie die Rote Armee Fraktion (RAF) oder der Nationalsozialistische Untergrund (NSU) aus ex­-
tremen Ideologien heraus bildeten. Zum Beispiel zeichnet sich gegenwärtig auch im linksextremen Spektrum eine stetig zunehmende Nähe einzelner Gruppen zum Terrorismus ab.

Durch systematische Anwendung von Gewalt versuchen die Täter politische, religiöse oder sonstige ideologische Ziele durchzusetzen. Deren Motivation ist die Schädigung oder Tötung von Personen, mechanische Zerstörung von Sachgütern, Infrastruktur sowie Gebäuden. Die gesamte Tat vollzieht sich vielfach ohne Rücksicht auf das eigene Leben und endet (oft) mit einer (Selbst-)Tötung oder Verhaftung durch die Polizei. Sowohl Amokläufe als auch Terroranschläge besitzen beide eine raptusartige und klandestine Grundcharakteristik. Sie sind kaum oder nur sehr schwer vorhersehbar, da oftmals vorherige Anzeichen und Hinweise fehlen oder verkannt werden. Bei der Vielzahl möglicher Ursachen für einen Amoklauf liegt dies allerdings in der Natur der Sache.

Terroristen wie Amokläufer bevorzugen vorrangig leicht erreichbare Ziele. Das heißt, die Infiltration des bevorzugten Tatorts sollte nicht zu komplex sein und möglichst viele schutzlose Personen aufweisen. Terroranschläge differieren zudem zwischen zwei Ebenen:

  • High Level-Anschläge: Teils ausgebildete Teams agieren simultan mit hochsuffizienten Wirkmitteln, ihre Anschläge fordern oftmals zahlreiche Opfer
  • Low Level-Anschläge: Einzeltäter oder Klein(st)gruppen verüben Anschläge mit einfach beschaffbaren Waffen oder Gegenständen (z.B. Fahrzeuge, Messer, Hiebwaffen;
  • sog. Open Source Terrorism), es kommt zu meist geringen Opferzahlen

Die seit mehreren Jahren andauernde Tendenz zum Open Source Terrorismus ermöglicht auch gering versierten Tätern das Verüben eines Anschlags aus intrinsischer Motivation heraus. Auf diesem niederschwelligen Niveau können sie ohne Kenntnisse über Sprengstoff oder Schusswaffen selbst effektive Anschläge durchführen. Hierfür existieren auf extremistisch ausgerichteten Internetseiten oder in Zeitschriften der einschlägigen Terrororganisationen spezifische Anleitungen.

Mit Ausnahme des islamistischen Spektrums favorisieren politisch motivierte Terroristen eine bestimmte Zielgruppe für ihre Anschläge. Rechtsextreme vorrangig Ziele mit Migrationsbezug, Linksextreme in Form kapitalistischer oder staatlicher Ziele. Islamisten sind diesbezüglich „wahlloser“. Ihr Fokus ist deutlich breiter und bezieht sich auf schwer schützbare Ziele mit größeren Menschenansammlungen wie Bahnhöfe, Konzerte, Festivals.

Nach einem terroristischen Anschlag erfordert die Situation von der polizeilichen und nichtpolizeilichen Gefahrenabwehr spezifische Kenntnisse und Fähigkeiten. Als Konsequenz investierte die Polizei in den vergangenen Jahren bereits viel in konzeptionelle Veränderungen, Ausbildung, Ausrüstung und lernte aus Erfahrung. Im Rettungsdienst erfolgt eine ähnliche, wenngleich vielfach schwächer ausgeprägte Entwicklung. Allerdings unterliegt sie wie die Polizei auch den föderalen Herausforderungen, bundesweit einheitliche Regelungen sind nicht zu erwarten.

Die Zahl der Opfer bei Anschlägen variiert nach Art des Tatmittels, des Zeitraums, während dem der oder die Täter ungestört agieren konnten sowie deren Entschlossenheit. Grundsätzlich richtig ist die Vorgehensweise, dass die nichtpolizeiliche Gefahrenabwehr außerhalb des Aktionsradius des Täters agiert, was bei dynamischen Lagen jedoch oftmals schwer realisierbar ist. Darüber hinaus ist anfangs häufig unklar, ob es sich um einen Anschlag handelt oder nicht. Insbesondere dann, wenn es sich um ein Open-Source Tatmittel (z.B. Fahrzeug) handelt. Somit ist ein erhöhtes Gefährdungs­potenzial nie gänzlich auszuschließen. Grundsätzlich gilt stets: Eigenschutz geht vor Fremdschutz! Somit bestehen für die MitarbeiterInnen der nichtpolizeilichen Gefahrenabwehr zwei Heraus­forderungen. Einerseits eine möglicherweise erhöhte Eigen­gefährdung, andererseits ein häufig anspruchsvolles Ver­letzungsmuster, welches es zu versorgen gilt und abseits der Ver­sorgungsroutine liegt.

Die Herausforderungen an die Bewältigung von Amok- und ­Terrorlagen und an die beteiligten Einsatzkräfte sind enorm. Vertraute Behandlungsstrategien und tagtäglich angewandte Algorithmen treten in den Hintergrund. Individualmedizinische Grundsätze werden zugunsten einer an die Ausnahmesituation angepassten Verwundetenversorgung verdrängt. Schuss- oder Sprengstoff­verletzungen besitzen gar eine kriegsähnliche Charakteristik und sind physisch wie psychisch äußerst belastend. Hinzu kommt der Umstand eines anfänglichen Missverhältnisses zwischen Patientenaufkommen und verfügbaren Einsatzkräften. Derlei Situationen liegen (glücklicherweise) außerhalb der täglichen Routine. Dennoch stellen sowohl PatientInnen als auch der Gesetzgeber an die Einsatzkräfte den Anspruch einer professionellen, fachkompetenten und zeitnahen Versorgung.

Diese besonderen Einsatzlagen erfordern gegenüber „regulären“ Einsätzen ein angepasstes Vorgehen und können durch die Anwendung der Grundsätze der taktischen Verwundetenversorgung (TVV) eine gewisse Ordnung und Hilfe zur Bewältigung erfahren. Die Reihenfolge der Behandlungsschritte folgt dabei dem MARCH-Algorithmus. Dieser wurde von der USSOCOM, der U.S. Special Operations Command – einer Kommandoeinrichtung sämtlicher US-amerikanischen Spezialeinheiten – speziell für besondere Bedrohungslagen entwickelt. Dessen Behandlungsstruktur ist in Grundzügen aus dem Behandlungsschema (x)ABCDE bekannt, welches in Deutschland und Teilen Europas zivil genutzt wird. Das Akronym (x)ABCDE steht dabei für:

  • X-Exsanguination (Ausblutung)
  • A-Airway (Atemweg)
  • B-Breathing (Belüftung)
  • C-Circulation (Kreislauf)
  • D-Disability (Defizit Neurologie)
  • E-Exposure (Erweitern/Entkleiden)
Schematische Abbildung des M.A.R.C.H: Algorithmus
Schematische Abbildung des M.A.R.C.H: Algorithmus

Durch den Rückgriff auf bereits bekannte Muster erleichtert es eine Anwendung des MARCH-Algorithmus in einem TVV-Szenario. Der MARCH-Algorithmus stellt hierbei eine Behandlungsstrategie dar, bei welcher die Beurteilung der Gefährdungslage für die Einsatzkräfte oberste Priorität hat, etwa bei einer ´care under fire´ Situation. In der nachfolgenden Patientenversorgung werden M (Massive hemorrhage- massive Blutungen), A (Airway – Atemweg), R (Respiration – Belüftung), C (Circulation – kreislaufaufrechterhaltung) und H (Hypothermia/Head injury – Unterkühlung und Kopfverletzungen) hierarchisch versorgt.

Es gilt zunächst äußere lebensbedrohliche Blutungen zu stoppen, beispielsweise durch die Anlage von Tourniquets (einer mechanischen Blutsperre) oder die Verwendung von Gauze, einer Art Verbandmull. Letztere dient zur Füllung von penetrierenden, traumatischen Wunden in Form einer Tamponade oder zum Verbinden von Wunden.

Weiterhin sind die Etablierung eines sicheren Atemwegs und dessen Offenhalten benannt. Je nach Einsatzlage reicht das Repertoire hier von einem ´chin lift´ – einer Anhebung des Kinns und damit Überstrecken des Kopfes zur schnellen Atemwegssicherung - über die nasopharyngeale Atemwegssicherung bis hin zur ­chirurgischen Atemwegsöffnung.

Die anschließende Ventilation des Patienten kann trotz atemwegssichernden Maßnahmen gestört sein, was eine Entlastungspunktion bei vorliegendem Spannungspneumothorax erfordert. Ebenso müssen gegebenenfalls ein Wundverschluss bei pene­trierenden Thoraxtraumata durch einen Chest-Seal, einem Spezialverband zur Vermeidung eines Spannungspneumothoraxes bei offenen Brustkorbverletzungen, oder der Einsatz anderweitiger gerinnungsfördernder Substanzen wie Hämostyptika erfolgen. Diese Behandlungen sind stark abhängig vom vorliegenden Verletzungsmuster und gelten als erweiterte Maßnahmen unter M (massive hemorrhage), A (Airway) und R (Respiration) und sollen einen weiteren Blutverlust verhindern sowie die Ventilation des Patienten sichern. Eine Überwachung des Patienten ist angeraten, jedoch unter Umständen im Einsatz schwierig umsetzbar und zeitkritisch.

Die präklinisch oft unterschätzte Hypothermie verlangt in der taktischen Wundversorgung eine zeitnahe Maßnahme zum ­Wärmeerhalt, z.B. durch den Einsatz von Rettungsdecken. Diese verhindert außerdem eine stärkere Blutungsneigung, potenziell ausgelöst durch die Hypothermie. Mögliche Kopfverletzungen berücksichtigt der MARCH-Algorithmus ebenfalls und empfiehlt eine Kontrolle auf Anzeichen eines Schädel-Hirn-Traumas, um sich auf eventuelle Komplikationen bei Atemwegen oder Atmung einzustellen und so eventuell sekundäre Hirnschäden zu ver­meiden.

Festzuhalten bleibt, dass das Vorliegen strukturierter Behandlungspfade die Versorgung von Verwundeten unter einer Bedrohungslage vereinfacht. Jedoch ist ein regelmäßiges Beüben erforderlich, damit Einsatzkräfte Sicherheit und Routine erlangen. Einzelne Verletzungsmuster wie penetrierende Verletzungen (beispielsweise durch Messerstiche) oder Explosionstraumata kommen, wenngleich selten, auch im rettungsdienstlichen Alltag vor. Sie bedürfen einer gewissen Fingerfertigkeit der einzelnen Maßnahmen sowie einer Sicherheit in der Anwendung der Behandlungskonzepte, die regelmäßige Schulungen verlangen. Derartige Übungen erfolgen im Idealfall gemeinsam mit der Polizei, wodurch sich Kompetenzen in der Zusammenarbeit verschiedenartiger Einsatzkräfte verbessern lassen. Außerdem können durch regelmäßig stattfindende Übungen Schnittstellenproblematiken identifiziert und abgebaut werden. Ein solches Modell wird bereits in verschiedenen Kommunen gehandhabt und beinhaltet neben dem Training von Maßnahmen zur taktischen Verwundetetenversorgung unter anderem die Schnittstellenarbeit mit den ­operativen Kräften der Polizei. Beispielsweise die Übernahme von PatientInnen in der sicheren Zone.

Ferner sind zukünftig überregionale und länderübergreifend einheitliche Konzepte für die Bewältigung von Terror- und Amok­lagen erforderlich und anzustreben, um die Zusammenarbeit mit ­Rettungsdienstanbietern und weiteren BOS-Einheiten zu verbessern und allen beteiligten Akteuren Handlungssicherheit zu geben. Letztlich spiegelt sich diese Vorgehensweise in einer strukturierten Behandlung sowie einer deutlich gesteigerten Versorgungsqualität schwer verletzter PatientInnen wider, was deren Gesamt-­Outcome positiv beeinflussen wird. 



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