Am 05.06.2018 fand die 1. Essener Sicherheitskonferenz in den modernen Räumen des Congress Centers Ost, Messegelände Essen statt. Eingeladen hatte der „Gesprächskreis Innere Sicherheit NRW“ (GIS), der seit 2015 als unabhängiger und formloser Expertenkreis unter Schirmherrschaft des Polizeipräsidenten Frank Richter (PP Essen/Mülheim) die Sicherheitslage des Landes NRW analysiert, diskutiert und zentrale Problematiken an die Politik heranträgt. Das Gesprächsforum setzt sich aus hochrangigen Vertretern der Polizei, Wirtschaft und Kommunen zusammen und hat als wesentliches Ergebnis Anforderungen an die Sicherheit Nordrhein-Westfalens, in einer sich wandelnden Gesellschaft formuliert. Diese Anforderungen sind ausführlich im „Grünbuch Sicherheit“ des GIS beschrieben und können kostenlos im Internet heruntergeladen werden (www.gruenbuch-sicherheit.de).
Durch die Sicherheitskonferenz konnten die Ergebnisse der Experten und aktuelle Erkenntnisse zur Sicherheitslage in NRW nun in einer breiteren Fachlichkeit diskutiert werden. Dieses Angebot nahmen etwa 100 registrierte Konferenzbesucher und Medienvertreter gerne an. Prof. Dr. Bernhard Frevel (Ruhr-Universität Bochum) und Frank Schneider (Chefreporter NRW; BILD-Zeitung) führten als Moderatoren durch das Programm.
Grußworte und Impulse für die Konferenz
Der Innenminister des Landes NRW, Herbert Reul, zeichnete in seinem Grußwort zum Auftakt das Bild der „Sicherheitsarchitektur“, die unterschiedliche Akteure aus Gesellschaft, Politik und Sicherheitsorganen zusammenführt. Die Welt verändere sich. Was gestern noch neu war, ist morgen schon wieder überholt. Übertragen auf die Bedrohungslage bedeute dies: Wir müssen uns anstrengen, um immer am Ball zu bleiben.
Es gälte, ein Klima zu schaffen, um Probleme zu lösen wie sie unlängst in der 26. R+V-Studie „Die Ängste der Deutschen“ abgebildet wurden. Minister Reul fasste die aktuellen Bestrebungen seines Innenressorts (Aufstockung des Personals der Landespolizei, Novellierung des Polizeigesetzes) zusammen und erwartete für diese Planungen noch heftige Debatten im Landtag.
Anschließend begrüßte der Schirmherr der Konferenz und Sprecher des GIS, Frank Richter, Polizeipräsident für Essen und Mülheim an der Ruhr, das Plenum. Er war spürbar erfreut und dankbar, welchen Zuspruch die Einladung zur 1. Sicherheitskonferenz gefunden hat. Richter betonte, dass Sicherheit nicht nur Polizei bedeute. Im Versuch, die unterschiedlichen Akteure zusammenzubringen, bestünde über das Ziel Einigkeit, die Umsetzung mache aber durchaus noch Probleme.
Die bisherige Zeit im Gesprächskreis für innere Sicherheit sei eine sehr spannende Zeit gewesen, die zumindest das „Grünbuch Sicherheit“ hervorgebracht habe. Mit der 1. Essener Sicherheitskonferenz als Beginn seien aber durchaus bereits Folgeveranstaltungen geplant. Zur Konferenz wünschte er sich konkret, unabhängige und ideologiefreie Diskussionen, damit die Politik gute Impulse zur Umsetzung erhält.
Der Oberbürgermeister der Stadt Essen, Thomas Kufen, zeigte in seinem Grußwort eine eher „kommunale“ Perspektive. Gesellschaften in modernen Städten stünden neuen Gefahren gegenüber.
Ob terroristische Anschläge, Cyber-Attacken oder die Ausweitung von organisierter Kriminalität, die Akteure der urbanen Sicherheit müssten geeignete Antworten auf die aktuellen Bedrohungen geben können.
Die Stadt Essen freue sich daher, dass die Partner MESSE ESSEN und der GIS zu einer 1. Sicherheitskonferenz einladen. Damit könne in Zukunft ein weiteres Format neben der Leitmesse „security essen“ auf dem Kompetenzfeld der Inneren Sicherheit seinen Platz finden.
OB Kufen wurde aber auch konkreter und beschrieb eine notwendige Erhöhung der Anzahl der kommunalen Ordnungskräfte im Außendienst. Für ihn sei Sicherheit z. B. auch ein wichtiger Faktor bei Standortfragen der Industrie. Führende DAX-Unternehmen haben für ihre Beschäftigten neben infrastrukturellen und kulturellen Fragestellungen mittlerweile auch die Sicherheit zur Auswahl eines Firmenstandortes deutlich im Blick.
Er blickte auf die Erfahrungen der Zusammenarbeit im Themenfeld Sicherheit nach dem Anschlag auf den Sikh-Tempel (16. April 2016) zurück und lobte Fahndungserfolge aufgrund von Videoüberwachung im öffentlichen Personenverkehr. Bei allem sei aber die Unterstützung des Landes NRW erforderlich, gab es einen deutlichen Appell in Richtung IM Reul.
Lagebild Terror NRW
Einen Einblick in das aktuelle Lagebild Terror NRW ermöglichte Burkhard Freier, Leiter des Verfassungsschutzes NRW, als erster Referent des Tages. In seinem Zeitfenster von etwa 20 Minuten sei ihm allerdings nur ein „Parforceritt“ durch die Terrorlage möglich.
Nach Burkhard Freier ist Deutschland (und NRW) immer noch eines der sichersten Länder der Erde, doch ist unsere Demokratie nicht unverwundbar und sei ständigen Angriffen ausgesetzt. In der Betrachtung der Terrorlage allgemein, beschrieb er eine „Erhöhung des Grundrauschens“.
Eines der Hauptprobleme liege in der Gefahr der Spaltung der Gesellschaft, ausgenutzt von Populisten, die Freund-Feind-Bilder erzeugten. Ausgeführte oder vereitelte Anschläge trieben die Gesellschaft in eine Abwehrhaltung und verstärkten die problematischen Effekte.
Vier Herausforderungen
1. Radikalisierung und Propaganda
Radikalisierung beschrieb Freier als immer schneller (Erkenntnisse über Radikalisierungsprozesse von nur drei Wochen liegen vor), immer jünger (auch unter 14 Jahren), immer gewaltbereiter (weiche Ziele, einfache Waffen, Einzeltäter) und immer informierter (z. B. über die Arbeit der Sicherheitsbehörden).
2. Rückkehrer und Rückkehrerinnen aus Kriegsgebieten
Hier stellt sich in erster Linie die drängende Frage nach unseren gesellschaftlichen Möglichkeiten zur Integration. Wie integriert man radikalisierte Rückkehrer aus Kriegsgebieten? Wie integriert man rückkehrende Frauen, die zu 90 % freiwillig ausgereist sind und nun mit Kindern zurückkehren, die in Kindergärten und Schulen des IS ideologisiert wurden? Im sog. Islamischen Staat gelten Kinder von 8 - 12 Jahren bereits als „wehrdienstfähig“. Schulbücher zeigen nur Gewalt und Kriegsbilder, eine „Versöhnung“ käme dort nicht vor.
Was bewirken radikalisierte Frauen in Netzwerken, die sich nun verstärkt an Propaganda beteiligen (z. B. mit Erziehungsthemen)?
3. Haftentlassene Salafisten
Die ersten zu Haftstrafen verurteilten Salafisten werden wieder in die Freiheit entlassen. Hat sie die Haft verändert oder nicht? Wie viele Personen müssen rund um die Uhr überwacht werden? Wer kann das leisten?
4. Anschlagsszenarien
Terrorismus erlange immer größere Komplexität, sei immer weniger vorhersehbar. „Weiche Ziele“ sollen mit leicht zu beschaffenden Waffen angegriffen werden. Es gäbe die unterschiedlichsten Täterbilder – oft Menschen, die mit unserer Gesellschaft nicht zurechtkämen.
Maßnahmenpakete aus Sicht des Verfassungsschutzes
Behördenleiter Freier warb für ein personenorientiertes Frühwarnsystem, eine gute Aufklärung von Strukturen. Das diene besonders der Identifikation von Zielen, Tätern und Tatplanungen.
Weiterhin forderte er eine deutlich intensivere Sensibilisierung der Bevölkerung zum Selbstschutz und nannte Beispiele aus Schweden („If Crisis or War Comes“; Swedish Civil Contingencies Agency, MSB) und Großbritannien („Run, Hide, Tell“; National Police Chief’s Council, GB).
Letztlich müssten Anstrengungen unternommen werden, um Radikalisierungsprozesse zu unterbrechen, bzw. die Ursachen für Radikalisierungen zu bekämpfen (Prävention, Repression, Ausstieg).
Nach seinem Impulsvortrag stellte Burkhard Freier sich einigen Ergänzungsfragen aus dem Plenum.
Gedanken aus Stuttgart
Aus Stuttgart steuerte der Vorsitzende des Deutsch-Europäischen Forums für Urbane Sicherheit und „Sicherheits-Bürgermeister“, Dr. Martin Schairer, Gedanken zur Steigerung urbaner Sicherheit bei.
Dr. Schairer stellte Stadt und Großraum Stuttgart vor und beschrieb die objektive Sicherheitslage, mit sinkenden Fallzahlen bei Straftaten (anhand der Polizeilichen Kriminalstatistik, PKS).
Er führte die gute Sicherheitslage in seinem Verantwortungsbereich auf die Vernetzung von Polizei und städtischen Ordnungskräften zurück, die aufgrund eines gemeinsamen Sicherheitskonzeptes niederschwellig, konsequent und unter Nutzung moderner technischer Mittel einschreiten. Einschließlich von bürgerschaftlichen Organisationen verfüge das Stuttgarter Netzwerk über mehr als 100 Partner.
Er beschrieb die Installation von baulichen Sicherungen bei Veranstaltungsflächen, den Nutzen von nationalem und internationalem Austausch und nannte drei anschauliche Beispiele aus Stuttgart:
- Prävention durch Sport
- Sicherheit und Sauberkeit
- Prävention durch Integration und Unterstützung.
Auch Dr. Schairer beantwortete zahlreiche Plenumsfragen.
Die Rolle der Polizei
Nach der Mittagspause wurde durch den Leitenden Polizeidirektor Detlef Köbbel (PP Essen/Mülheim) und LPD Dieter Keil (PP Dortmund) die Rolle der Polizei bei der Gestaltung urbaner Sicherheit beschrieben.
LPD Köbbel legte seinen Fokus auf die Alltagsanforderungen an die Polizei. Hierzu beschrieb er den kernaufgabenorientierten Aufbau der Kreispolizeibehörden in den Direktionen Zentrale Aufgaben (Querschnittsaufgaben, Verwaltung), Gefahrenabwehr/Einsatz (Einsatzbewältigung), Kriminalitätsbekämpfung (Ermittlungen) und Verkehr (Verkehrsunfallbekämpfung).
Schlagworten, die eher für Unsicherheit stehen wie z. B. Clankriminalität, Rocker, Drogendealer, „Bürgerwehr“, Gefährder, kriminelle Gruppen, stellt die Polizei sichtbare Präsenz, konsequentes Einschreiten, Strafverfolgung und ihre Presse- und Öffentlichkeitsarbeit entgegen.
Bei derzeit noch verringertem Personalkörper, gestiegenen Aufgaben und neuen Phänomenen stelle sich aber mehr und mehr die Frage nach gesellschaftlichen Sicherheitskonzepten, Netzwerken und Ordnungspartnerschaften, bis hin zur Zuspitzung: „Ist es noch zeitgemäß, dass nur Polizei und Feuerwehr rund um die Uhr verfügbar sind?“.
Was kann die Polizei als Sicherheitsarchitekt beitragen? LPD Köbbel benannte die Kompetenz zur Analyse der Sicherheitslage und zur Erstellung von klaren Lagebildern. Hier bietet sich ein Ansatz zur strategischen Zusammenarbeit unterschiedlichster Netzwerkpartner. In ihren Sicherheitsprogrammen bilden die Polizeibehörden hierzu strategische Ziele. Im polizeilichen Alltag kann die Polizei Sicherheitsakteure, Gremien und Maßnahmenplanungen unterstützen.
LPD Keil (PP Dortmund) beschäftigte sich in seinem Impulsvortrag mit der polizeilichen Arbeit in besonderen Krisensituationen. Es sei eine klassische Bürgererwartung an ihre Polizei, dass hier ein sicheres Krisenmanagement stattfindet.
Das Zitat vom Sonderermittler im Entführungsfall Schleyer, Hermann Höcherl (1912 - 1989): „ Jede BOS ist so viel wert, wie sie aus dem Stand heraus zu leisten vermag.“ (BOS = Behörde oder Organisation mit Sicherheitsaufgaben), sei nach wie vor hoch aktuell. LPD Keil stellte die Frage, ob unsere Erfahrungen aus der Flüchtlingskrise tatsächlich funktionierende Notfallpläne abbilden, oder eher aus der Not heraus Maßnahmen getroffen wurden.
LPD Keil forderte einen ganzheitlichen Ansatz zur Planung und Bewältigung von besonderen Einsatzlagen oder Krisen im Zusammenwirken der Ordnungsbehörden, der Feuerwehren, der Hilfsorganisationen und auch der Polizei. In Friedenszeiten geschieht dies durch die Festlegung von gemeinsamen Planentscheidungen und die Durchführung gemeinsamer Übungen aufgrund von Erkenntnissen aus Nachbereitungen.
Im Einsatz bietet die Polizei sofortige Intervention, Alarmierbarkeit von Spezialkräften und Spezialeinheiten, eine erprobte Führung und Stabsarbeit, klare Kommunikation und Verbinder zu den Sicherheitspartnern. Ein klares Rollenverständnis aufgrund eines gemeinsamen mentalen Modells zwischen allen BOS muss entstehen.
Herr Keil betonte ebenfalls die Rolle der Medien für die Bewertung der Sicherheitslage durch die Bevölkerung und damit für das sog. Sicherheitsgefühl. Wenn es den Sicherheitsakteuren im Krisenfall gelänge, die Bevölkerung sehr schnell mit eigenen Botschaften zu erreichen (z. B. soziale Netzwerke), könnten Notrufe minimiert werden und deutlich Vertrauen in die Arbeit der BOS gesteigert werden.
Er schloss mit folgenden Thesen:
- Die Öffentlichkeit erwartet einen funktionsfähigen Staat.
- Das Zusammenwirken und eine abgestimmte Aufgabenwahrnehmung ergibt sich nicht von allein.
- Vorgedachte und vorbereitete Szenarien und Handlungsalternativen erhöhen die Entscheidungsqualität.
In Krisen werden alle Beteiligten immer Entscheidungen auf einer schwachen Erkenntnislage treffen müssen, daher ist für LPD Keil ein aktives Zusammenwirken der Sicherheitsakteure immer mehr als die Summe ihrer Einzelleistungen. Die beiden leitenden Polizeibeamten standen ebenfalls für Fragen zur Verfügung.
Private Sicherheitsdienstleister im öffentlichen Raum
Dr. Harald Olschok, Hauptgeschäftsführer des Bundesverbands der Sicherheitswirtschaft (BDSW), referierte über die Rolle der privaten Sicherheitsdienstleister im öffentlichen Raum. Auch Dr. Olschok betonte die aktuellen Trends in der inneren Sicherheit, über die sich die Referenten insgesamt sehr einig waren. Seine Zahlen, Daten und Fakten aus den Beschäftigungsstatistiken zeigten deutlich, dass das Sicherheitsgewerbe mit etwa 80.000 Beschäftigten im Jahr 1990 in Deutschland auf nunmehr etwa 262.000 Beschäftigte (2017) angewachsen ist und weiterwächst. In einer Meinungstrendumfrage des BDSW (INSA 2017) halten 70 % der Befragten, private Sicherheitsdienstleister für unverzichtbar.
Mittlerweile sind die Unternehmen tätig bei Veranstaltungen, im öffentlichen Personenverkehr, im Einzelhandel, an Universitäten/Schulen, Job-Centern, Krankenhäusern, in Parks, auf Friedhöfen und anderen Orten. Die gesamte Aus- und Fortbildung hat sich deutlich verbessert, bis hin zu Bachelor- und Masterstudiengängen im Sicherheitsmanagement.
Dr. Olschok beschrieb neue Herausforderungen der Zukunft in der „Event-Gesellschaft“, durch die Verpflichtung der Fertigung von Sicherheitskonzepten bei Großveranstaltungen, Rekommunalisierung von Aufgaben und fragte deutlich nach einer Erweiterung von Eingriffsrechten für Sicherheitsfachkräfte. Auch die gesetzliche Anbindung der privaten Sicherheitsdienste an das Innenressort schien ihm lange überfällig zu sein. Hinsichtlich des Grünbuchs innere Sicherheit ist für Dr. Olschok eine Fortschreibung auf jeden Fall erforderlich.
Durch die hier anschließenden Fragestellungen und Wortbeiträge aus dem Plenum ließ sich eine differenzierte Haltung zur Rolle privater Sicherheitsdienstleister im öffentlichen Raum erkennen.
Stadtverträgliche Sicherheitskonzepte
Den Schlussvortrag mit großer Detailtiefe hielt Detlev Schürmann, Kriminologe und Polizeiwissenschaftler, Mitglied des Deutschen Forums für Kriminalprävention (DFK). Er referierte über die Entwicklung stadtbildverträglicher (sprich „unsichtbarer“) Sicherheitskonzepte, wie z. B. normgerechte Barrieren als Zufahrtschutz.
Der GIS als ideeller Träger der Konferenz hat erreicht, dass der Expertenkreis unter grundsätzlichem Verzicht auf Bereichsegoismen, die Sicherheitslage in NRW gemeinsam weiterentwickelt. Die interessierten Fragen und Antworten nach den Vorträgen ließen erkennen, dass trotz der unterschiedlichen Sichtweisen eine abgestimmte Zusammenarbeit nötig und möglich ist.
Crisis Prevention 3/2018
Thomas Fürst, Polizeioberrat
Landespolizei NRW, Polizeipräsidium Dortmund
Leiter der Führungsstelle einer Polizeiinspektion