Die „Deutsche Strategie zur Stärkung der Resilienz gegenüber Katastrophen“, aber auch die in diesem Jahr veröffentlichte „Nationale Sicherheitsstrategie“ stellen es deutlich heraus: Krisen- und Katastrophen treten heute meist in Form multipler Szenarien auf. Sie zeichnen sich zunehmend durch einen hybriden und/oder komplexen Bedrohungsrahmen aus. Diese Realität erfordert eine Antwort, die in Form einer neuen Sicherheitsarchitektur schnell und adäquat gegeben werden muss.
Notwendigkeit einer vernetzten Sicherheitsarchitektur
Die Erkenntnis, dass Gefahrenabwehr nur im vernetzten Ansatz gelingen kann, ist nicht neu. Dennoch scheitert die schnelle Implementierung einer nachhaltigen Vernetzung der entscheidenden Akteure teilweise immer noch am Ungeist jener jahrzehntelang gepflegten silohaften Strukturen, die sich in den Säulenmodellen unserer Sicherheitsarchitektur manifestierten. Da wir komplexen Bedrohungen nur mittels einer exakt abgestimmten Reaktion sämtlicher Akteure begegnen können, zeichnen sich moderne Sicherheitsarchitekturen grundsätzlich durch eine nachhaltige Vernetzung dieser Akteure aus.
Gesamtstaatliche Resilienz als angestrebtes Ziel jeder nationalen Sicherheitsarchitektur ist das Ergebnis des vernetzten Risiko- und Krisenmanagements sämtlicher Akteure mit Sicherheitsaufgaben. Dabei bedarf es einer Vernetzung auf allen Ebenen über den gesamten Krisenmanagementzyklus hinweg unter der Prämisse, dass diesem ein All-Gefahren-Ansatz zugrunde liegt. Das bedeutet, dass sämtliche Gefährdungen durch Maßnahmen der Prävention, der Vorbereitung, der Ereignisbewältigung sowie der Nachbereitung zu adressieren sind.
Vernetzung ist wichtig, doch nichts schadet einer zielgerichteten, effizienten Vernetzung mehr als blinder Aktionismus und Datenaustausch. Der gläserne Bürger im permanenten Visier sämtlicher vernetzter Sicherheitsorgane des Staates ist ein Ziel, welches wir aus totalitären Staaten kennen. Die Geschichte lehrt uns: wird die Freiheit der Bürger deren Sicherheit untergeordnet, ist stets der Verlust von beidem, von Freiheit und Sicherheit, das Ergebnis. Zielgerichtete Vernetzung bedeutet daher, dass Zielkonflikte, die sich aus einem vernetzten Ansatz der Gefahrenabwehr ergeben, transparent und mit rechtsstaatlichen Methoden unter strenger Beachtung der Grundrechte zu lösen sind.
Vernetzung muss zielgerichtet erfolgen und nachhaltige Strukturen ausbilden
Ziele und Zielkonflikte einer Vernetzung sind vorab exakt zu definieren bzw. darzulegen. Auf dieser Basis lässt sich im nächsten Schritt abstimmen, wo und in welchem Rahmen Vernetzung Sinn macht. Eng gefasste Zuständigkeiten schaffen einerseits Rechts- und damit Handlungssicherheit. Das antrainierte Denken in diesen Zuständigkeiten und damit auch Nicht-Zuständigkeiten ist jedoch ebenso geeignet, das Tor der Erkenntnis geschlossen und damit Synergien, Effektivitäts- und Effizienzsteigerungen einer Kooperation von Akteuren außen vor zu halten. Damit wird die Bewältigung komplexer Szenarien erheblich erschwert, im schlimmsten Fall sogar unmöglich gemacht. Genau hier muss die Vernetzung ansetzen. Grundsätzlich kann Vernetzung nur gelingen, wenn sie nicht ohnehin schon ausgelasteten Führungskräften als Zusatzaufgabe aufgebürdet wird.
Insbesondere dort, wo Behörden und Organisationen mit Sicherheitsaufgaben nebeneinander statt miteinander arbeiten oder diese Zusammenarbeit sogar von einer gewissen Rivalität geprägt ist, hat es sich in der Praxis bewährt, diese Rivalitäten mittels Teambuilding-Maßnahmen aufzulösen. Kooperation und Vernetzung lassen sich nicht von oben verordnen. Sporadische Treffen, zu denen alle Organisationen geladen sind, haben kaum messbare Netzwerkeffekte und dienen oftmals eher dazu, Rivalitäten zu verstärken. Wer Vernetzung nachhaltig implementieren will, muss dafür sorgen, dass ausgewählte Führungskräfte unterschiedlicher Organisationen mit einer klar definierten Zielsetzung beispielsweise auf ein Wochenendseminar entsandt werden. Wer mit Teambuildingprozessen vertraut ist, der weiß, dass es eine gewisse Zeit benötigt, um die Forming-, Storming- und Norming-Phase hinter sich zu lassen und Teams in die Performing-Phase zu führen. Das Durchlaufen dieser Phasen lässt sich mittels eines darauf abgestimmten Führungskräfte-Coachings zwar erheblich beschleunigen, überspringen lassen sich diese Phasen jedoch nicht. Auf Fragestellungen, die sich aus komplexen Einsatz-Szenarien ergeben, werden nur vernetzte Teams adäquate Antworten finden, welche die Performing-Phase bereits erreicht haben. Mit dieser Vorgehensweise haben wir in den Unternehmen der Kritischen Infrastrukturen, aber auch in Kreisen und Kommunen sehr gute Erfahrungen gemacht.
Es ist höchste Zeit, die Herausforderungen der Zeitenwende zu adressieren
All-Gefahren-Ansatz bedeutet nicht, Felder zu beackern, die in der Bundesrepublik Deutschland bereits bestens bestellt sind. All-Gefahren-Ansatz bedeutet vielmehr, das Undenkbare denkbar zu machen – trotz aller damit verbundenen kognitiven Dissonanzen. Russlands Überfall auf die Ukraine, die Flutwelle im Ahrtal, Covid-19, Fukushima, aber auch 9/11 sollten uns eigentlich eines längst gelehrt haben: Wer in der Gefahrenabwehr nicht in der Lage ist, in Worst-Case-Szenarien zu denken, ist dort, insbesondere in leitender Funktion schlichtweg falsch. Vor diesem Hintergrund bedeutet All-Gefahren-Ansatz, vorrangig Antworten auf zwei Bedrohungsszenarien zu finden, die in Deutschland trotz unübersehbarer Warnzeichen jahrzehntelang entweder ganz ausgeklammert oder kleingeredet wurden: Blackout und Krieg. Die Zeitenwende erfordert, dass wir schon aus Gründen einer funktionierenden Abschreckungsstrategie überzeugende Antworten entwickeln, wie diesen Bedrohungen zu begegnen ist. Gesamtverteidigung kann nur funktionieren, wenn neben der militärischen Verteidigung auch die Zivile Verteidigung funktioniert. Auch hier ist die zielgerichtete Vernetzung der relevanten Akteure auf sämtlichen Ebenen unabdingbare Voraussetzung für die Wiederherstellung einer glaubwürdigen Abschreckung. Ein Element dieser teilweise bereits in Angriff genommenen Vernetzung ist der Territorial Hub (TerrHub). Dieses Projekt macht deutlich: Mit Wiederherstellung der Abschreckung ist keineswegs eine Rekonstituierung der Abschreckung des Kalten Krieges gemeint. Moderne Abschreckung muss insbesondere den Möglichkeiten hybrider und asymmetrischer Kriegsführung Rechnung tragen. Spätestens die Petermann-Studie von 2011 hat einer breiten Öffentlichkeit die Verletzbarkeit unserer modernen, stromabhängigen Gesellschaft deutlich vor Augen geführt. Hybride und asymmetrische Kriegsführung wird stets dort ansetzen, wo wir als Gesellschaft am verletzbarsten sind. Die Eintrittswahrscheinlichkeit eines Schwarzfalls (Blackout) hat sich daher im Zuge der Zeitenwende massiv erhöht. Auch noch so ausgereifte technische Sicherungsmaßnahmen der Betreiber unserer Kritischen Infrastrukturen sind nicht geeignet, derartigen Bedrohungen wirksam zu begegnen. Dieser geänderten Risikobewertung muss im Interesse der Glaubwürdigkeit der verantwortlichen Akteure mittels einer entsprechenden Risikokommunikation Rechnung getragen werden. Glaubwürdigkeit bildet die Basis eines jeden Wirkens im Informationsraum. Wer in seiner Risikokommunikation nicht glaubwürdig ist, diese gänzlich vernachlässigt, Herausforderungen ignoriert oder kleinredet, wird die Deutungshoheit schnell und nachhaltig an andere inner- und außerstaatliche Akteure verlieren. Denn für das Vertrauen gilt: Schnell ist verloren, was schwer ward erlangt. Und eines bedenke genau: Was einmal verspielt, bleibt für immer verloren.
Blackout als Schlüsselszenario erkennen und nutzen
Den All-Gefahren-Ansatz ernst zu nehmen bedeutet demzufolge, sich insbesondere auf den Schwarzfall (Blackout) mit der Folge eines Totalausfalls der Kritischen Infrastrukturen vorzubereiten. Denn jede Investition in das Risiko- und Krisenmanagement der Gefährdungslage Blackout kommt unmittelbar auch der Zivilen Verteidigung zu Gute – und das auch noch, ohne das unschöne Wort „Krieg“ im Munde führen zu müssen. Nirgends sind Gesamtstaatliche und Gesamtgesellschaftliche Resilienz, und zwar auf sämtlichen Ebenen, mehr gefordert als bei einem großflächigen Ausfall der Kritischen Infrastrukturen. Die Führungsfähigkeit aller Ebenen ist in diesem Szenario die tragende Säule der Ereignisbewältigung. Konkret bedeutet das: Krisenstabsarbeit muss in den Unternehmen der Kritischen Infrastrukturen ebenso reibungslos funktionieren wie auf kommunaler Ebene – und das ohne eine Stromversorgung von außen. Führungsfähigkeit auf allen Ebenen ist auch der Schlüssel zu einer besseren Bewältigung zunehmender Klimaereignisse wie der Flutwelle an Ahr und Erft.
Das Schadensausmaß wird bei einem Schwarzfall ganz wesentlich von der Gesamtgesellschaftlichen Resilienz bestimmt. Wie lange sich in diesem Szenario geordnete Strukturen aufrechterhalten lassen, hängt im Wesentlichen vom Vorbereitungsgrad, sprich der persönlichen Krisenvorsorge der Bevölkerung, ab. Ist der Vorsorgegrad hoch, lassen sich derartige Ereignisse in Kooperation der Betroffenen auf dem Wege der gegenseitigen Unterstützung und Nachbarschaftshilfe gut bewältigen. Ist der Vorbereitungsgrad gering, ist der Kipppunkt, an welchem es für die eigene Familie bzw. einen selbst nicht mehr reicht, rasch überschritten: aus Kooperation wird Konkurrenz. Abhängig vom regionalen Vorbereitungsgrad ist auch ein weiterer Kipppunkt, bei dessen Überschreiten die Verteilung von Versorgungsgütern durch das Faustrecht geregelt wird. Vor dem Hintergrund dieser Erkenntnis gilt es, Strukturen zu implementieren, welche geeignet sind, diese Kipppunkte auf der Zeitachse deutlich nach hinten zu verschieben. Anderenfalls finden wir uns schnell in Szenarien wieder, die von Chaos und Anarchie geprägt sind. Der Betrieb Kritischer Infrastrukturen ist ab diesem Zeitpunkt schon mangels gesicherter Wege zur Arbeit nicht mehr zu gewährleisten. Das Gesellschaftssystem, wie wir es kennen, bricht mit dem Überschreiten des letztgenannten Kipppunktes unweigerlich zusammen.
Die Selbsthilfefähigkeit der Bevölkerung ist
der entscheidende Faktor
Die Lage dieser Kipppunkte auf der Zeitachse ist von Region zu Region verschieden und wird, wie angesprochen, im Wesentlichen durch die Selbsthilfefähigkeiten der Bevölkerung in den betreffenden Regionen bestimmt. Ein Blackout ist mit seinem Eintritt zunächst ein Bottom-up-Szenario, es ist auf absehbare Zeit erst einmal keine Hilfe von Top-down zu erwarten. Denn keine Stromversorgung bedeutet: keine Kommunikation, keine Energie- und Treibstoffversorgung und damit keine Logistik. Zudem sind sämtliche Einsatzkräfte, das Personal der Krisenstäbe sowie der Kritischen Infrastrukturen und deren Familien selbst vom Ausfall der gesamten Versorgungsinfrastruktur betroffen. Ohne Hilfe von Top-down verbleibt erstmal nur die Selbsthilfe auf lokaler Ebene. Ob diese gelingt, hängt im Wesentlichen vom örtlichen Vorbereitungsgrad auf das Ereignis „Ausfall KRITIS“ ab. Letzten Endes ist es die regionale Selbsthilfefähigkeit der Bevölkerung, die darüber entscheidet, welche Regionen zu einem Teil der Lösung und welche zu einem Teil des Problems werden. Regionen, die kippen, werden keinen Beitrag dazu leisten können, dass es wieder zu dem kommt, was in unserem Lande bestens implementiert ist: der Hilfeleistung von Top-down, wie sie von der Vollkaskomentalität vieler Bürger immer noch sofort erwartet wird. Regionen, welche die oben beschriebenen Kipppunkte überschritten haben, werden jedoch nicht nur kein Teil der Lösung sein. Hilfe in unsichere Regionen zu bringen, das zeigen die Silvesterereignisse von Berlin, stellen die Hilfeleistungsorganisationen vor Probleme, die nur schwer lösbar sind.
Jeder kann und sollte seinen Beitrag leisten
Diese Erkenntnis nimmt uns alle in die Pflicht. Die Kommunikation oben beschriebener Risiken ist mitnichten alleinige Aufgabe der Bundespolitik. Es handelt sich vielmehr um eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe, der sich insbesondere die im Modell beschriebenen Akteure zu widmen haben. Nur über diese Akteure sind weite Teile der Bevölkerung überhaupt zu erreichen. Wie Umfragen belegen, genießen sie das größte Vertrauen und die höchste Glaubwürdigkeit, während politische Akteure in diesen Umfragen eher auf den hinteren Plätzen rangieren. Unser Lösungsansatz lautet daher, die Risikokommunikation über sämtliche Akteure im Bevölkerungsschutz in Form einer vernetzten Kommunikationsstrategie vorzunehmen. Die größte Impulswirkung zu einer persönlichen Krisenvorsorge wird unserer praktischen Erfahrung nach dann erzielt, wenn diese Akteure damit beginnen, in ihrem unmittelbar unterstellten Bereich resiliente Strukturen zu schaffen. Auf diese Weise kann jeder Unternehmer, jeder Leiter einer Dienststelle, jeder Kommandant einer Feuerwehr, jeder Bürgermeister … zu einem Multiplikator für Selbsthilfethemen im Bevölkerungsschutz werden. Ein derartiges Engagement spricht sich schnell in den betreffenden Regionen herum und ist zudem aus zwei Gründen keineswegs uneigennützig. Erstens wird ohne persönliche Resilienz des unterstellten Bereiches in derartigen Szenarien ein Dienstantritt schlichtweg nicht erfolgen: Ist die eigene Familie in Not, wird diese wohl schwerlich mit dem Ziel verlassen, anderen Menschen zu helfen. So ticken wir einfach nicht. Einsatzbereitschaft und Notbetriebspläne stehen und fallen daher mit der persönlichen Resilienz des Personals und deren Familien. Zweitens entfaltet ein derartiges Engagement Flächenwirkung. „Hast Du schon gehört … mein Nachbar ist Polizist, … die bereiten sich jetzt alle persönlich … vielleicht sollten wir auch mal vorsichtshalber …“ Diese Flächenwirkung ist es, welche resiliente Regionen schafft, in denen Kipppunkte auf dem Zeitstrahl nach hinten geschoben werden. So entstehen Regionen, welche als Teil der Problemlösung fungieren können, indem sie Einsatzkräften und Notbetriebspersonal ein sicheres Aktionsumfeld schaffen. Der Vorsorgegrad des Personals der Akteure multipliziert sich, wie in Abbildung 1 farblich dargestellt, in der Bevölkerung. Diese Maßnahmen sind zudem geeignet, das Thema Krisenvorsorge wieder in der Mitte der Gesellschaft zu verankern.
Wie erzeugt man resiliente Strukturen?
Persönliche Resilienz, sprich das Umsetzen von Krisenvorsorge-Maßnahmen, lässt sich nicht von oben anordnen. Die Schaffung resilienter Strukturen ist vielmehr ein Prozess, der sich -
unserer praktischen Erfahrung nach – aus folgenden Teilprozessen zusammensetzt: Risikobewertung, Risikokommunikation, Schaffung von Risikomündigkeit, Ausbildung von Resilienz. Resiliente Strukturen können nachhaltig nur von risikomündigen Menschen ausgebildet werden. Die Erzeugung von Risikomündigkeit ist Kernaufgabe einer Risikokommunikation, die wiederum auf einer realistischen Risikobewertung fußt. Risikokommunikation ist nur glaubwürdig, wenn sie die Herausforderungen unserer Zeit klar adressiert. Sie sollte sich zum Ziel setzen, dass der Empfänger die Kausalketten, welche zum Ereignis führen, versteht und wiedergeben kann, eine realistische Risikoeinschätzung vorzunehmen in der Lage ist und neben einem theoretischen Verständnis auch auf emotionaler Ebene nachvollziehen kann, welche Auswirkungen ein Eintreten des betreffenden Szenarios auf ihn und seine Familie hat. Nur wer ein Szenario für denkbar und wahrscheinlich hält, sich zudem davon betroffen fühlt, entwickelt die entsprechende Handlungsbereitschaft, die für die nächsten Schritte erforderlich ist. So gelingt es – grob skizziert – den Vorbereitungsgrad der Bevölkerung nachhaltig zu steigern, Kipppunkte zu verschieben und damit die gesamte Gefahrenabwehr auf ein solides Fundament, nämlich das einer Gesamtgesellschaftlichen Resilienz zu stellen.
Crisis Prevention 3/2023
Dr. Sandra Kreitner
Vizepräsidentin der Gesellschaft für Krisenvorsorge
E-Mail: sandra.kreitner@gfkv.org
Christian Haas
Gesellschaft für Krisenvorsorge, Botschaften für Bayern
E-Mail: christian.haas@gfkv.org