Die mittlerweile lange Historie von Unruhen durch den Einsatz biologischer und chemischer Kampfstoffe ist bekannt. Ungeachtet der Verbote, sieht sich die Welt weiterhin nicht nur mit der Realität konfrontiert, dass es solche Mittel gibt, sondern auch, dass es Menschen gibt, die bereit sind, diese einzusetzen.
Vor diesem Hintergrund wird weithin anerkannt, dass das Erkennen von Risiken und Vorsorge unerlässlich ist. In dem von der EU finanzierten Bericht „Methodology for Assessing States’ Capacity for Countering the Hostile Misuse of CBRN Knowledge and Materials“ (MASC-CBRN) aus dem Jahr 2020, der vom Centre for the Study of Democracy veröffentlicht wurde, heißt es:
„Die Priorisierung einer Risikobewertung, die mit geeigneten Instrumenten durchgeführt wird, ist unerlässlich, um die regionale, nationale und internationale Bereitschaft zu stärken und angemessene Rollen zuzuweisen, wenn man mit CBRN-Risiken jeglicher Art konfrontiert ist. Bei der Reaktion auf das CBRN-Risikospektrum sind proaktives Denken, Synergien und Strategien sowie Ressourcen und Schulungen wichtig.“
Eine primäre Frage, die man sich bei der Betrachtung dessen stellen muss, ist, ob unsere derzeitige Politik ein Triumph der Hoffnung über die Realität ist, in der Erwartung, dass wichtige Hilfe vor Ort geleistet wird und Betroffene dekontaminiert werden können, während die Ersthelfer selbst agieren können ohne sich selbst zu gefährden.
1995 verübte Aum Shinrikyo einen Anschlag mit Sarin auf die Tokioter U-Bahn. Von den 1.364 Feuerwehrmitarbeitern, die dabei im Einsatz waren, erlitten 135 eine sekundäre Exposition, ebenso wie 23% des Personals einer medizinischen Einrichtung in der Nähe des Anschlagsortes. Derselbe Bericht, der diese Statistiken detailliert beschreibt, sagt weiter:
„Ungeachtet der Fähigkeiten der Rettungskräfte oder der räumlichen Ausdehnung eines Ereignisses dauert die Absperrung des Bereichs und die Einrichtung eines Dekontaminationssystems am Einsatzort wahrscheinlich mindestens 30 Minuten.“
Viele mögen eine Reaktionszeit von 30 Minuten für die Errichtung einer Absperrung und den Aufbau der Dekontamination durch adäquat geschützte Einsatzkräfte für sehr optimistisch halten. Schon beim Eintreffen der Einsatzkräfte kann eine erste Kontaminierung erfolgen, da Ersthelfer vermutlich nur über eine elementare persönliche Schutzausrüstung verfügen und mit hoher Wahrscheinlichkeit selbst zum Unfallopfer werden.
Ereignisse, die zur Verletzung von Ersthelfern führen, sind nicht auf terroristisch motivierte Vorfälle beschränkt. Auch Vorfälle mit chemischen Stoffen können zu Verletzungen bei Ersthelfern führen. So wurden beispielsweise im Jahr 2021 vier New Yorker Polizeibeamte nach einem Vorfall auf Staten Island ins Krankenhaus eingeliefert und zwei Feuerwehrleute bei einem Chemikalienleck in St. Louis, MO, USA, verletzt.
Allgemeine Leitlinien des Bundesamtes für Strahlenschutz (BfS) zum Beispiel bieten den Behörden der Länder und den Einsatzkräften Anleitung und Hilfestellung, um die Sicherheit in einem Schadensfall zu maximieren. Ungeachtet dessen ist es sehr unwahrscheinlich, dass in den frühen Stadien eines Unfalls mehr als eine einfache persönliche Schutzausrüstung (PSA) zur Verfügung steht. Dennoch wird von den anwesenden Einsatzkräften erwartet, dass sie eine Bewertung der Lage durchführen und Hilfe leisten, ohne das Spektrum der Risiken oder des Schadenspotenzials allumfänglich zu kennen. Wie der Saringasanschlag in Tokio gezeigt hat, kann eine Sekundärkontamination eine beträchtliche Anzahl von Einsatzkräften betreffen, was zum einen die Zahl der Opfer erhöht und zum anderen die Bereitstellung einer wirksamen Reaktion weiter erschwert.
Der Zweck der Reaktion auf ein Ereignis besteht darin, sich zu bemühen, weiteren Schaden zu verhindern, der Verpflichtung zur Behandlung bereits Betroffener nachzukommen und den Übergang zur Rückkehr zur Normalität so effektiv wie möglich zu unterstützen. Da die Erfahrungen zeigen, dass Ersthelfer, die in einen potenziellen CBRN- oder HAZMAT-Vorfall gesendet werden, trotz der Leitlinien wahrscheinlich in Gefahr geraten, kann man nicht nur davon ausgehen, dass die Reaktion misslingt, sondern auch, dass wir das Ausmaß des Schadens durch den ursprünglichen Vorfall vergrößern, anstatt ihn einzudämmen.
In seinem Buch „Black Box Thinking“ demonstriert der Autor Matthew Syed seine Behauptung, dass Erfolg auf Misserfolg aufbaut. Er beschreibt Situationen in der Luftfahrt, in denen Zwischenfälle mit Flugzeugen zu neuen Prozessen führten, die eine Wiederholung der Ursache ausschließen würden, wodurch sich die Flugsicherheit dramatisch verbessert hat. Einer der wohl berühmtesten modernen Flieger, Chesney Sullenberger, der ein dem Untergang geweihtes Flugzeug auf dem Wasser landete, kommentiert:
„Alles, was wir in der Luftfahrt wissen, jede Regel im Buch, jedes Verfahren, das wir haben, haben wir jetzt, weil irgendwo jemand gestorben ist. Wir haben die Lektionen teuer erkauft, buchstäblich mit Blut...“.
Wir haben daher ein Paradoxon – dass Erfolg auf Misserfolg aufbaut.
Sowohl bei CBRN- als auch bei HAZMAT-Einsätzen gibt es Beweise für ein Versagen, sei es in Tokio oder in jüngster Zeit bei den Ereignissen in Salisbury, England, wo Polizisten, die an dem Vorfall teilnahmen, nachteilig betroffen waren.
Wenn wir beabsichtigen, die bestmögliche und effektivste Reaktion zu bieten, dann sollte jeder Zwischenfall als Möglichkeit zum Sammeln von Informationen betrachtet werden, um den Schutz zu verbessern und beim nächsten Mal eine bessere Reaktion zu liefern. Der Austausch von Informationen zwischen den Nationalstaaten, wie er im CBRN-Aktionsplan für Europa 2017 gefördert wird, kann den Lernprozess weiter verbessern.
Investitionen in diese Art des Denkens und Handelns sind vorteilhaft, wenn vorhersehbar ist, dass ein ähnlicher Vorfall in der Zukunft eintreten könnte. In der Luftfahrt mit der Menge an Wechselwirkungen ist leicht zu erkennen, dass sich unerwünschte Zwischenfälle wiederholen, wenn die Ursache nicht identifiziert und beseitigt wird.
Bei der CBRN-Reaktion ist dies anders, da die Versuchung besteht, den Ansatz „Es wird nie (wieder) passieren“ zu verwenden und in die gleiche Falle zu geraten, die im Bericht der 9/11-Kommission identifiziert wurde, nämlich ein Versagen der Vorstellungskraft. Seit Salisbury sagen die Kommentatoren, dass dies ein einmaliger Vorfall war. Aber war es das? Vor Salisbury hatten wir Tokio, Kuala Lumpur, Litwinenko und seither hatten wir Navalny und sehr wahrscheinlich Gebrev. Niemand hat Salisbury vorausgesagt, obwohl Litwinenko nur wenige Jahre zuvor ermordet und Markow 1978 auf den Straßen Londons angegriffen worden war.
Wenn wir daher akzeptieren, dass bei Reaktionen Fehler gemacht wurden, die den Ersthelfern Schaden zugefügt haben, und dass diese Fehler zu einer verbesserten Praxis führen sollten, welche zusätzlichen Schritte können in der Folge unternommen werden?
In vielen Ländern verfügen Ersthelfer über immer mehr medizinische Gegenmaßnahmen, wie z.B. ein Mittel zur Behandlung von Opioidüberdosierungen. Ersthelfer der Polizei werden routinemäßig mit Ausrüstungsgegenständen ausgestattet, um ihre Aufgaben erfüllen zu können, wie z. B. Stichschutzwesten, Betäubungssprays und Geräte zur Fesselung und Kontrolle. Feuerwehrpersonal wird mit hochwirksamer feuerfester Kleidung, Atemschutzgeräten und anderen Arten von PSA ausgestattet, um einen Einsatz in entsprechend schwierigem Umfeld zu ermöglichen. Die Ausstattung von Ersthelfern wie diese ist das Ergebnis von Ereignissen, bei denen Menschen verletzt wurden sowie einer objektiven Bewertung der Risiken, denen Ersthelfer voraussichtlich ausgesetzt sein werden. Sie erkennt die Verantwortung an, die Arbeitgeber für den Schutz ihrer Mitarbeiter tragen.
Daher stellt sich die Frage: Warum stattet man Ersthelfer nicht konsequent mit entsprechender Ausrüstung aus, die dabei helfen kann, den Auswirkungen der Exposition gegenüber Stoffen entgegenzuwirken, die bei einem Einsatz in einem CBRN- oder HAZMAT-Ereignis vorkommen können? Lassen Sie uns in einer Zeit, in der Risiken allgegenwärtig sind und in der Scheitern einen so hohen Preis hat, aus der Vergangenheit lernen und uns besser auf die Realität vorbereiten, da das, was in der Vergangenheit passiert ist, jederzeit wieder geschehen könnte.
Literatur beim Verfasser
Crisis Prevention 2/2022
Chris Singer MSc M.ISRM
Director, Policing, safety & Security
Resilience Advisors Network
E-Mail: chris.singer@resilienceadvisors.eu