Achillesferse Lebensmittelkette

Frank Gillert, Felix Polla, Jan Seitz

Ralf Role at tschek/Roletschek., eigenes Werk, CC BY-SA 3.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=505184)

Der deutsche Lebensmitteleinzelhandel – 38 000 Filialen, flächendeckend über das ganze Bundesgebiet verteilt. Öffnungszeiten von ganz früh bis spät in die Nacht an sechs, in Ausnahmefällen auch sieben Tagen in der Woche. Ein Angebot von bis zu 40 000 verschiedenen Produkten in guter Qualität, zu attraktiven Preisen und in einer sehr hohen Verfügbarkeit. Leere Regale sind selten, was durch effiziente und leistungsfähige Prozesse bei den Händlern sowie eine sehr professionelle Lebensmittellogistik und -produktion ermöglicht wird. Die Menschen haben sich an das exzellente Versorgungsniveau gewöhnt, private Bevorratung zur Absicherung gegen Versorgungskrisen wird nur in sehr geringem Umfang betrieben. 

Dadurch werden der Lebensmitteleinzelhandel, der mit einem Umsatz von 176 Mrd. € (2016) zu den wichtigsten Wirtschaftszweigen Deutschlands zählt, sowie die Lebensmittellogistik und -produktion zu einer kritischen Infrastruktur (KRITIS), deren fortdauernde Leistungsfähigkeit von elementarer Wichtigkeit für die Gesellschaft ist. Der Schutz und die Entlastung dieser KRITIS sind wesentliche Aufgaben in Krisenzeiten, zu deren Erfüllung die sehr komplexe Lebensmittelkette zunächst in ihren Prozessen, Strukturen und Abhängigkeiten verstanden werden muss.

Die Lebensmittelkette beginnt grundsätzlich beim landwirtschaftlichen Erzeuger, welcher nicht oder wenig verarbeitete (z. B. Frischgemüse, Getreide) Produkte an die Unternehmen der Tierhaltung (z. B. Milchbauern), der Verarbeitung (z. B. Mahlbetriebe) oder direkt an den Handel liefert. Dadurch entsteht eine Anzahl an Grundprodukten, welche entweder sofort verkauft oder über verschiedene Verarbeitungsstufen (z. B. Verarbeitung von Milch zu Joghurt, Verwendung von Joghurt als Zutat von Salatdressings) zu einer Vielzahl unterschiedlicher Produkte transformiert werden. 

So oder so werden die für den Verkauf bestimmten Produkte an den Lebensmitteleinzelhandel geliefert, welcher sie an seine Filialen ausliefert und in diesen zum Verkauf anbietet. Wichtige Elemente dieser Kette vom Erstproduzent bis zum Händler sind Logistikdienstleister und ­­Zwischen- bzw. Großhändler, welche Transporte ausführen, punktuell Lagerkapazitäten anbieten und wichtige Konsolidierungsfunktionen (z. B. Großhandel für Obst und Gemüse als zentrale Anlaufstelle für die Gastronomie und Hotellerie) wahrnehmen. Weiterhin sind einige Streckenlieferanten aktiv, Hersteller, welche in Eigenregie Filialen der Lebensmitteleinzelhändler beliefern und bestücken (z. B. Tchibo).

Komplexer Lebensmitteleinzelhandel

Soweit die einfache Grundstruktur. Die Komplexität der Lebensmittelkette wird erst deutlich, wenn man einen Blick unter die Oberfläche riskiert und die verschiedensten Abhängigkeiten und Verknüpfungen betrachtet, die zum Funktionieren der Lebensmittelversorgung unerlässlich sowie teilweise auch Ergebnis des hart umkämpften deutschen Lebensmittelmarktes sind. 

Die Lebensmittelversorgung arbeitet auf der strategischen Ebene innerhalb eines sehr dynamischen Geflechts aus Angebot und Nachfrage. Lebensmitteleinzelhändler bestimmen je nach realen und erwarteten Absatzmengen, Marktstrategie, Faktoren wie Wetter und anstehenden (Groß-) Ereignissen, Preisen usw. die Bestellmengen für die jeweiligen Artikel, welche die Lebensmittelproduzenten erfüllen. Bestellmengen sind immer Schwankungen unterworfen, die sich bis zu den Produzenten durchziehen, da Kunden nicht regelmäßig einkaufen und ein „Standardeinkaufskorb“ nicht existiert. 

Die Produzenten sind zwar bemüht, Überproduktion (unwirtschaftlich) zu vermeiden, aber Unterproduktion (und damit eine geringere Verfügbarkeit) ist auf Grund eventueller Vertragsstrafen und einer dann schwächeren Position gegenüber Konkurrenten ebenfalls unerwünscht.

Viele Produkte, insbesondere in der Landwirtschaft, lassen sich aber gar nicht so präzise wie gefordert erzeugen – es ist nun einmal Erdbeerzeit, wenn Erdbeerzeit ist. Dadurch kommen internationale Lieferketten ins Spiel, um verschiedene Produkte möglichst ganzjährig verfügbar zu haben. So entsteht eine gewaltige Marktmacht des Lebensmitteleinzelhandels, welcher dem Großteil der Unternehmen der Lebensmittelproduktion und -logistik die Geschäftskonditionen diktieren kann. 

Versorgung mit frischen Produkten würde bei einer Energiekrise schon nach...
Im Falle einer Energiekrise bricht schon nach einem Tag die Versorgung mit frischen Produkten zusammen.
Quelle: Daderot, Wiki Commons

Weiterhin üben sie durch günstige Handelsmarken (z. B. ja! von Rewe) Druck auf die Hersteller aus und führen Rabatt- sowie Treueaktionen durch. In Summe entsteht so ein sehr komplexes Geflecht aus Geschäftsbeziehungen, Abhängigkeiten und strategischen Entscheidungen sowie die zugehörigen Prozesse und Strukturen, das den „alltäglichen Wahnsinn“ (z. B. Lieferschwierigkeiten durch schwierige Verkehrssituationen, Lieferausfälle durch mangelnde Produktqualität, stark schwankende Nachfrage der Kunden, geringe Margen) außerordentlich gut beherrscht, aber sehr empfindlich auf störende Ereignisse größeren Ausmaßes reagiert (eindrucksvoll z. B. bei der EHEC-Krise 2011 zu beobachten). 

Diese Verletzlichkeit gilt auch für (derzeit glück­licherweise noch hypothetische) Krisenfälle und ergibt sich vor allem aus der sehr engen Taktung der Prozesse und Strukturen der jeweiligen Akteure, die sich erfolgreich innerhalb sehr enger Grenzen der Wirtschaftlichkeit bewegen müssen; da bleibt nur wenig Raum, um Ressourcen für Krisenbewältigung aufzubauen. 

Drei wesentliche Aspekte der sich daraus ergebenden Verletzlichkeit sind Lagerreichweiten sowie die Abhängigkeiten von Strom und Informationen.

Zwar ist das oft zitierte „Just-In-Time“-Prinzip der Logistik (Produkte sind genau dann verfügbar, wenn sie benötigt werden) in der Lebensmittelkette weitgehend ein Mythos, die Lagerreichweite (die Zeit, für welche bei regulärem Verkauf ein Produkt – ohne Nachlieferung! - in der Filiale verfügbar wäre) ist dennoch eine wesentliche Stellschraube für Wirtschaftlichkeit. Zu geringe Reichweite, und der Kunde steht plötzlich vor leeren Regalen. Zu hohe Reichweite, und es wird zu viel ­Kapital gebunden. 

Dies führt zu einem spannenden Wechselspiel aus Lagerflächen, Lieferfrequenzen und Bestellmengen, welches beherrscht werden muss, wenn ein Unternehmen erfolgreich sein will. Je nach Unternehmensstrategie und Produkt(gruppe) ergeben sich daher unterschiedliche Ausprägungen von bspw. 1,5 Tagen für Frischobst und -gemüse bis zu 8 - 10 Tagen für Molkereiprodukte und dem Trockensortiment von 15 - 18 Tagen. Dementsprechend kann Lebensmittelversorgung längerfristig nicht ohne regelmäßige Nachlieferungen aufrechterhalten werden.

Energieabhängigkeit

Mit der Abhängigkeit vom Strom findet sich eine der wesent­lichen Säulen einer modernen Gesellschaft als mögliche Achillesferse auch in der Lebensmittelkette. Neben der Produktion, die fast ausnahmslos auf Strom angewiesen ist, und der Logistik sind es vor allem die Zentrallager des Lebensmitteleinzelhandels, die neuralgische Elemente darstellen. Denn diese Zentrallager werden auf Grund der möglichen Effizienzgewinne immer stärker automatisiert.

Automatische Förderanlagen und Regalbediengeräte verbringen Produkte in Hochregallager, die tausende Paletten zwischenlagern und verwalten können. Oftmals wird zudem die chaotische Lagerhaltung angewandt, sodass eine sehr hohe Effizienz und Effektivität realisiert werden kann – besonders große Lager können ganze Bundesländer mit Lebensmitteln versorgen. Klassische Lagerfacharbeiter sind immer seltener zu finden, der Bedarf nach hochspezialisierten Experten (z. B. Instandhaltungsingenieure) steigt. 

Was auf der einen Seite ein wahrgewordener Traum der Wirtschaftlichkeit ist, ist auf der anderen Seite ein Albtraum für Krisenmanager. 

Hochautomatisierte Lager sind ohne Strom nicht arbeitsfähig: Weder können die Anlagen betrieben noch spezifische Produkte überhaupt lokalisiert werden. Die erforderlichen Strommengen sind zu groß, als dass der Einsatz von Notstromaggregaten möglich wäre, eigene Kraftwerke sind aber nicht vorhanden.

In der Folge ist ein hochautomatisiertes Zentrallager ohne Strom wie ein Safe mit unbekanntem Inhalt: Es ist weder klar, welche Produkte wo zu finden sind noch sind die Produkte erreichbar. Eine manuelle Entnahme von Paletten ist in der Regel schwer bis unmöglich. Wenn ein Zentrallager ausfällt, sind zudem bis zu mehrere hundert Filialen gleichzeitig betroffen, Probleme der Verfügbarkeit von Lebensmitteln sind vorprogrammiert.

Ohne IT läuft nichts

Zusätzlich zu Strom sind Informationen bzw. eine funktionierende IKT-Infrastruktur elementar für das Funktionieren der regulären Geschäftsprozesse. Nahezu jede Handlung in einer modernen Produktions-, Liefer- und Distributionskette basiert auf oder verarbeitet Informationen: Im Falle der Lebensmittelkette sind besonders Bestelldaten und -mengen, Steuerungsdaten der Logistik (z. B. Lieferzeiten) sowie die Anbindung der Filialen (z. B. Übertragung von Kassendaten, Abgleich von Daten bei Kartenzahlung) von Bedeutung. 

Eine Unterbrechung des Informationsflusses, sei es durch Stromausfall, Überlastung der Datennetze, Beschädigung von Kabeln durch Bauarbeiten oder andere Ereignisse, beraubt große Teile der Lebensmittelkette ihrer Planungsgrundlage. 

Dadurch entstehen Verzögerungen in der ganzen Kette von der Filiale bis zum Produzenten, welche sich zu ernsthaften Lieferschwierigkeiten aufschwingen können.

Daneben bestehen noch weitere Faktoren, welche für den Betriebserfolg ausschlaggebend sind bzw. sein können, aber die Verfügbarkeit der zentralen Betriebsmittel Strom und Informa­tionen sind von herausragender Bedeutung für eine funktionierende Lebensmittelversorgung. In Summe ergibt sich dadurch eine Situation, in der die außerordentliche Leistungsfähigkeit der Akteure im Normalfall eine hohe Anfälligkeit gegenüber Störungen, Notfällen und Krisen verdeckt. 

Auf Grund der Verknüpfungen und Abhängigkeiten entsteht zudem die Notwendigkeit, die gesamte Lebensmittelkette und nicht nur einzelne Akteure oder Akteursgruppen zu stabilisieren wenn in Krisenfällen die Lebensmittelversorgung aufrechterhalten werden soll.

Wie entsprechende ganzheitliche Ansätze zur Steigerung der Krisenfestigkeit aussehen können, hat unter anderem das vom Bundesministerium für Bildung und Forschung geförderte Projekt NeuENV (Neue Strategien der Ernährungsnotfallvorsorge) aufgezeigt, welches eine Vielzahl unterschiedlicher Maßnahmen, von der Erhöhung der üblichen Lagerbestände über die stärkere Zusammenarbeit auf Kommunikationsebene bis hin zu einer Zertifizierung der Krisenfestigkeit, vorschlägt. 

Die Umsetzung derartiger Maßnahmen ist schleppend, da das Tagesgeschäft des Lebensmitteleinzelhandels und der gesamten Lebensmittelkette in der täglichen Versorgung von mehr als 80 Millionen Menschen mit Lebensmitteln besteht, nicht aber im Aufbau von krisenfesten Strukturen. So kommt es, dass eine der wichtigen Säulen gesellschaftlicher Ordnung derzeit nur eine geringe Krisenfestigkeit aufweist und der Zusammenbruch der Lebensmittelversorgung in größeren Krisen (z. B. Pandemie) ein viel zu gewisses Szenario ist.

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