26.01.2022 •

BWI-Projekt: Künstliche Intelligenz sieht in Zukunft durch Wände

Heiko Reiter

BWI GmbH

Krisenbewältigung und Katastrophenhilfe spielen für die Bundeswehr eine wichtige Rolle. Auch und gerade Großschadensereignisse wie die Hochwasserkatastrophe im Juli 2021 stellen die Rettungskräfte der Bundeswehr vor große Herausforderungen. Innovative IT-Lösungen können in solchen Notsituationen helfen, noch schneller und effektiver zu agieren. In Zukunft könnte dabei künstliche Intelligenz (KI) helfen. Die BWI GmbH entwickelt als Digitalisierungspartner der Bundeswehr derzeit dafür eine konkrete Anwendung.

Fraunhofer-Institut für Hochfrequenzphysik und Radartechnik (FHR), Wachtberg, 7. Oktober 2021: In einem Laborraum bewegen sich drei Personen auf einem „Zauberquadrat“. Sie stehen, gehen und sitzen im Wechsel. Viele kennen das mit neun Zahlen versehene Feld aus der Grundschule. So haben früher Kinder Mathe gelernt – doch heute dient die Übung dem Unterrichten einer Maschine.

Im Rahmen des BWI-Innovationsexperiments „Mit KI durch Wände sehen“ simuliert ein dreiköpfiges Team im FHR-Labor aberhunderte von Bewegungen. Diese werden mithilfe eines VR/AR-­Sensor-Systems via optischer Marker getrackt und als 3D-Lokalisationsdaten aufgezeichnet. An einer Seite des mit weiß-rotem Klebeband umrandeten Quadrats steht eine hüfthohe Mauer aus Lehmziegeln – dahinter ein Stativ mit Radar. Mit den Radardaten und den aus dem Testfeld generierten 3D-Lokalisationsdaten wird dann im nächsten Projektschritt eine KI „gefüttert“. Der intelligente Algorithmus wird aus Millionen von Daten lernen, wie sich der Mensch bewegt, und später können, was dieser nicht kann – durch Hindernisse wie Wände „sehen“.

Die Probanden tragen optische Marker an Stirn, Hüfte und Knie. An der Messkampagne im FHR-Labor nahmen unter anderem die Ideen-
geber von der... Lorenz Mindner (Atos) und Francisco Molina Martel (Fraunhofer IOSB)
simulieren... Trainieren eines KI-Modells in Phase 1 Das Student-Teacher-Modell in der Phase 1 Dr.-Ing. Reinhold Herschel: „Die Radartechnologie ist sozusagen das Auge
des...

Innovationskraft durch Partnerschaft

Die Idee für die KI-basierte Lösung stammt von innoX, einer der Innovationseinheiten der BWI GmbH, dem Digitalisierungspartner der Bundeswehr. Hier untersuchen Innovationsexpert*innen den Markt auf digitale Trends und Technologien, die sich für Bundeswehr und Bund eignen. Sie entwickeln daraus Ideen für konkrete Lösungen und erproben diese gemeinsam mit potenziellen Nutzer*innen in Form von agilen Experimenten.

„Mit KI durch Wände sehen“ wird von der BWI in Kooperation mit der Atos Information Technology GmbH, dem Fraunhofer-Institut für Hochfrequenzphysik und Radartechnik (FHR) und dem Fraunhofer-Institut für Optronik, Systemtechnik und Bildauswertung (IOSB) entwickelt und erprobt. Die Einsatzszenarien der KI-basierten Lösung sind vielfältig. Denkbar ist sowohl der Einsatz im zivilen wie auch im militärischen Bereich.

Handlungsfähigkeit im Fokus

Wie die Flutkatastrophe in Nordrhein-Westfalen und Rheinland-Pfalz im Sommer 2021 gezeigt hat, entscheiden in manchen Situationen Minuten, wenn nicht Sekunden, über Leben und Tod. Wenn Menschen in beispielsweise durch Rauchentwicklung schwer zugänglichen und nichteinsehbaren Bereichen wie Schuttbergen oder Gebäuden eingeschlossen sind, könnte KI mittels Datenverarbeitung helfen, Entscheidungen besser und schneller zu treffen. Sie erkennt dann, wo sich Betroffene befinden, sodass diese deutlich schneller als bisher gerettet werden könnten.

Im militärischen Bereich ist die Bundeswehr ebenfalls in vielen Situationen auf eine optimale Aufklärung angewiesen. Beispielsweise könnte diese Lösung bei einer Rettungsmaßnahme wie einer Geiselbefreiung im Ausland helfen, Personen hinter Wänden zu orten. So können sich Einsatzkräfte besser auf eine Erstürmung vorbereiten. Zusammen mit den potentiellen Bedarfsträgern aus der Bundeswehr wurden mögliche Anwendungsfälle aus dem Bereich „Nahaufklärung“ erarbeitet, so dass die KI-Lösung künftig auch hier unterstützen könnte.

Unsichtbares wird sichtbar

Das Innovationsexperiment der BWI basiert auf der Sensordatenanalyse und dem Ansatz des maschinellen Lernens (Machine Learning = ML). Die von Menschen durch Hindernisse hindurch reflektierten Radiodaten werden digital aufbereitet und mit KI-Methoden ausgewertet. Ein KI-basiertes System stellt dreierlei fest: die Anwesenheit von Personen, ihre Anzahl und die Art ihrer Bewegungen. Befindet sich ein Mensch hinter einer Sichtbarriere, wird dieser von der KI visualisiert.

Das Experiment wurde bisher in zwei Phasen durchgeführt. In der Phase 1 wurde ein handelsüblicher Radiowellen-Sendeempfänger „Walabot“ verwendet. Für die Ermittlung von Ground-Truth-Daten, also von Referenzdaten, die zur eindeutigen Positionsbestimmung der Personen im Raum dienen, kam eine herkömmliche Webcam zum Einsatz. Mit Hilfe eines sogenannten Student-Teacher-Modells wurde dann – basierend auf Signaldaten (Student) und den dazugehörigen Videodaten (Teacher) – die KI trainiert, um Menschen hinter Wänden zu erkennen.

Die Grundlagen aus Phase 1 des Experiments wurden beim 2. Data Analytics Hackathon der BWI im November 2020 ­präsentiert. Bei dem Event haben 50 Teilnehmer*innen aus Bundeswehr und BWI eine Woche lang verschiedene KI-Anwendungen programmiert und weiterentwickelt. Die im Hackathon erzielten Ergebnisse wurden im Januar 2021 beim 5. Leitungsboard Digitalisierung der Bundesverteidigungsministerin vorgestellt. Ausgestattet mit sehr positivem Feedback wurde die Phase 2 eingeleitet und das FHR unter anderem für ein leistungsstärkeres Radarmodul mit ins Boot geholt. In den vergangenen Monaten wurde das Experiment zusammen mit potenziellen Bedarfsträgern aus der Bundeswehr unter dem Projektnamen „Mit KI durch Wände sehen II“ weiterentwickelt. Jetzt geht es unter anderem darum, ein neues Machine-Learning-Model zu konzipieren und zu trainieren.

Bewegung als Hauptindikator

Bewegungen spielen bei der Technologie eine Schlüsselrolle. Denn: Bei der radar-basierten Personendetektion ist weniger die Stärke des Signals als seine Änderung essenziell. Hier kann die KI nicht nur Gang- beziehungsweise Laufmuster, sondern auch den Puls und die Atmung erkennen. Sie kann beispielsweise zwischen Brust- und Bauchatmung unterscheiden und feststellen, ob eine oder mehrere Personen sitzen, stehen oder gehen.

In der Phase 2 erhält die Maschine die Bewegungen mittels Radardaten und als 3D-Lokalisationsdaten (Raumzeit-Koordinaten), damit sie beides abgleichen kann und dann künftig auch ohne Bilder wie in Phase 1, sondern nur mit Radar-Situationen korrekt interpretiert.

Wie kann die KI einen Menschen erkennen?

Dr.-Ing. Reinhold Herschel, Teamleiter 3D-Sensorsysteme am FHR:

 „Wir sind auf sensorische Erfassung und Auswertung der Signale spezialisiert. Was wir sehr gut messen können, sind charakteristische Bewegungen von Menschen, die wir detektieren. Aufgrund von Bewegungsabläufen und -geschwindigkeiten können wir verschiedene Merkmale wie Puls oder Atmung extrahieren und dadurch unterscheiden, was die Person macht. Für die Detektion einer sitzenden oder liegenden Person ist die Atemfrequenz signifikant, bei einer stehenden Person sind es vor allem die natürlichen Schwankungen ihres Körpers. Das künstliche neuronale Netzwerk der KI selbst ist zwar lediglich mit dem neuronalen Netzwerk einer Maus beziehungsweise eines Insektes vergleichbar. Sie kann allerdings ‚dressiert‘ werden und die konkrete angelernte Entscheidung schnell und effizient fällen.“

Von der Idee zum Einsatz

Die im Oktober am Wachtberger Fraunhofer-Institut erfolgreich durchgeführte Messkampagne war ein wichtiger Schritt im Projekt. Denn: Hier wurden unter Laborbedingungen essenzielle Daten erfasst, aus denen das KI-System lernen kann. Nun steht die Erprobung unter realen Bedingungen an. Im Praxiseinsatz wird dann getestet, wie robust und alltagstauglich die Technologie bereits ist. Dabei werden unter anderem verschiedene Baumaterialien und der Einfluss von Wetter und Erschütterungen von vorbeifahrenden LKWs getestet.

Die digitale Transformation ist ein wesentliches Element für die Zukunftsfähigkeit der Bundeswehr und praxistaugliche KI-Lösungen können die Digitalisierung der Truppe beschleunigen. Denn: Innerhalb der Bundeswehr werden Entscheidungen von enormer Tragweite und oft unter Zeitdruck getroffen. Gemeinsam mit den deutschen Streitkräften entwickelt die BWI innovative KI-Anwendungen, um auch und gerade in extrem komplexen Lagen besser und schneller entscheiden zu können. Als Digitalisierungspartner und Innovationstreiber der Bundeswehr erprobt die BWI noch in weiteren Experimenten hochmoderne KI-Technologien – von der ersten Idee bis zum praktischen Einsatz. 


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