Corona-Pandemie und ihre Auswirkungen

Die Corona-Pandemie unter dem Blickwinkel strategischer Entscheidungen

Wolfgang Würz

Alberto Giuliani, CC BY-SA 4.0, Wiki Commons

Ende Dezember 2019 berichtete man im chinesischen Wuhan, einer Stadt in der Provinz Hubei mit elf Millionen Einwohnern, erstmals über eine mysteriöse Lungenkrankheit. Rasch stellten chinesische Wissenschaftler die Ursache fest: ein neues Coronavirus. Inzwischen sind sechs Monate vergangen, in denen sich mehr als elf Millionen Menschen mit dem Virus infiziert haben. Die Corona-Pandemie hat sich zur schlimmsten Gesundheitskrise des Jahrhunderts entwickelt. Weltweit sind mehr als 600 000 Menschen (Stand Mitte Juli) infolge einer Infektion gestorben. Die Weltgesundheitsorganisation WHO hat die Verbreitung des Virus als Pandemie eingestuft.1

Regierungen und EntscheiderInnen greifen in dieser bedrohlichen Situation reflexhaft zur Kriegsmetapher, wenn es darum geht, die Anstrengungen zu beschreiben, die jetzt gegen das neuartige Corona-Virus nötig sein werden: „Sars-CoV-2 ist unser gemeinsamer Feind. Wir müssen diesem Virus den Krieg erklären. Das bedeutet, dass die Länder die Verantwortung haben, mehr zu tun, sich zu rüsten und sich zu verstärken.“2 Die drastische Wortwahl transportiert offensichtlich für viele Menschen die existenzielle Notwendigkeit von ungewöhnlich einschränkenden Entscheidungen, die ihnen die Krise abverlangt: Der Ernst der Lage wird beschworen und die Notwendigkeit betont, gegen eine Bedrohung von außen zusammenzustehen. Aber wir, die Verantwortlichen, haben die Kontrolle in dieser dramatischen Lage, wir entscheiden und handeln. Dabei sind risikoreiche und strategische Entscheidungen zu treffen.

Hohe Instabilität ausgelöst durch den Virus

Mit dem Virus leben wir derzeit in einer von hoher Instabilität geprägten Situation unter Bedingungen von Unsicherheit und Zeitdruck. Viele Menschen suchen in der Auseinandersetzung mit einer schlagartig ungeordneten, aus den Fugen geratenen Umwelt nach einem geordneten Denken, nach einfachen ­Lö­sungen und nach einem sicheren Anker für ihr Leben. So ist es nachzuvollziehen, dass die EntscheiderInnen auf eine Kriegsrhetorik zurückgreifen, deren Wirksamkeit sich jahrtausendlang in Perioden von Kampf und Krieg im menschlichen Bewusstsein epigenetisch einprägte und damit versuchen, ihre Entscheidungen als alternativlos und legitim zu framen, um den Menschen Sicherheit zu suggerieren. Doch auch dieser rhetorische Kunstgriff verhindert in heutiger Zeit nicht, dass die Öffentlichkeit schnell jede(n) EntscheiderIn auf den Prüfstand allgemeiner Erörterungen stellt und ihre Entscheidungen kritisch hinterfragt. Der Entscheidungsprozess wird dabei in Zeiten hoher Instabilität noch komplexer und schwieriger. Doch wie sollen EntscheiderInnen damit umgehen?

Im Lichte dieser Betrachtung erscheint es in der aktuellen Diskussion notwendig, einen Schritt zurückzutreten und sich Erkenntnisse über strategische Entscheidungen und ihre Grundlagen in Erinnerung zu rufen.

Der Nebel der Ungewissheit

Die Bewältigung von Krisen verlangt von den Verantwortlichen, Entscheidungen unter Zeitdruck und Unsicherheit zu treffen, also eine Handlung aus mindestens zwei vorhandenen potenziellen Handlungsalternativen unter Beachtung der übergeordneten Ziele zu wählen. Der Zeitdruck resultiert aus dem Umstand, dass für eine zu treffende Entscheidung oftmals tatsächlich oder vermeintlich nur ein begrenztes Zeitfenster existiert, also die Pufferzeit grenzwertig wird und die Bemühungen für die Entscheidung forciert werden müssen, um den angestrebten Erfolg nicht zu gefährden. Darüber hinaus haben gerade bei Entscheidungen unter Zeitdruck kognitive Fehlleistungen verheerende Auswirkungen und verursachen Kollateralschäden. Sie sind allgegenwärtige und ständige Fallstricke in Entscheidungsprozessen und sollten daher durch ständige systematische Überprüfungen mittels begleitender Beobachtung auf ein Minimum reduziert werden. Gravierender noch als Zeitdruck ist gemeinhin der Umstand der Unsicherheit, wobei wiederum dieser verschärft wird durch den Mangel an Zeit, um notwendige Informationen zu beschaffen und damit den Umstand der Unsicherheit zu mildern. 

Für die meisten Alltagssituationen, sei es geschäftlicher, dienstlicher oder privater Natur, gilt der Umstand, dass Entscheidungen unter Sicherheit und ausreichender Zeit getroffen werden, also die eintretende Situation mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit bekannt ist. Diese Sicherheit und ausreichende Zeit zum Überlegen verschafft den meisten Menschen einen ausreichenden oder auch hohen Grad an Handlungssicherheit der Bewältigung ihres Lebens. Dies gilt gerade für Krisensituationen nicht. Hier sind Entscheidungen unter Unsicherheit zu treffen, bei denen gerade nicht mit Sicherheit bekannt ist, welche Umweltsituation eintreten wird. 

Man kann dabei – sehr stark vereinfachend – unterscheiden: Entscheidungen unter Risiko und Entscheidungen unter Ungewissheit. Bei Risikoentscheidungen können die Wahrscheinlichkeiten für möglicherweise eintretende Umweltsituationen bzw. alle möglichen Konsequenzen jeder einzelnen Entscheidung mittels Erfahrungswerte errechnet werden. Das Risiko eines Erfolgs oder Misserfolgs kann also abgeschätzt werden. Bei Entscheidungen unter Ungewissheit kann die möglicherweise eintretende Umweltsituation, nicht aber deren Eintrittswahrscheinlichkeit, vermutet werden, es gilt das Prinzip vom unzureichenden Grund oder Indifferenzprinzip, bei dem jeder Option die gleiche Wahrscheinlichkeit zugeordnet wird.3

Die mathematisch-wissenschaftliche Beschäftigung mit Wahrscheinlichkeit hat nicht zuletzt durch die grundlegenden Arbeiten des amerikanischen Ökonomen Frank H. Knight (1885-1972)4 über die Unterscheidung von Entscheidungen unter Risiko und „der eigentlichen Ungewissheit, deren Ergebnisse und Wahrscheinlichkeiten sich jeglicher Analyse entziehen“, eine überragende Bedeutung in allen quantitativ arbeitenden Wissenschaften, vor allem auch der Prognose- und Entscheidungsforschung erlangt.

Es ist der Zufall, der in Zeiten der Instabilität und Krisen alle Erkenntnisse, Berechnungen, Analysen, Planungen und Theorien zu Makulatur werden lässt, wenn man der Illusion aufsitzt – hier sei wiederum auf die oben bereits erwähnten kognitiven Fehler hingewiesen – man könne den Zufall auf ein vernachlässigbares Maß reduzieren.

Strategische „Corona – Entscheidungen“

Im Lichte der in sehr geraffter Form vorgestellten Fallstricke strategischer Entscheidungsprozesse stellt sich die Frage, wie sich die weltweiten, gleichwohl jedoch sehr unterschiedlichen regionalen und nationalen strategischen Entscheidungen nach etwa einem halben Jahr nach Ausbruch der Pandemie auswirkten und noch immer auswirken. Wie erfolgreich waren welche Maßnahmen? Welche Begleitschäden verursachen die Maßnahmen? Welche Besonderheiten sind erkennbar?

Zunächst scheint auffällig, dass mit dem ersten Auftreten des Virus in Wuhan im Dezember 2019 und den in der Provinz Hubei zunächst zögerlich beginnenden, dann jedoch ab etwa dem zehnten registrierten Todesfall stringent durchgesetzten hohen Eindämmungsmaßnahmen bis hin zu totaler Kontaktsperre, die Brisanz der dortigen Ereignisse bei den Entscheidungsträgern in anderen Ländern nur bedingt wahrgenommen und die jeweils eigene medizinische Infrastruktur als ausreichend stark und gut gewappnet eingeschätzt wurde. 

Diese Wahrnehmung änderte sich rasch mit dem jeweiligen Auftreten der ersten Todesfälle und der raschen Ausbreitung von infizierten Menschen im eigenen Zuständigkeitsbereich sowie der Erkenntnis, dass allein „in Wuhan 14 Behelfskliniken und 50.000 zusätzliche Ärzte nötig waren, um den Ansturm der Patienten, sowohl der Corona-Infizierten als auch all jener mit anderen Erkrankungen, bewältigen zu können.“5 Von nun an dominierten Virologen und Gesundheitsadministratoren die seitens der Politik umgesetzten strategischen Entscheidungen. Bald traten immer mehr Spezialisten mit unterschiedlichen Expertisen und Einschätzungen auf den Plan mit der Folge einer stetig wachsenden Unsicherheit über Ursache, Umfang und Folgen der Pandemie, sowie über die Sinnhaftigkeit und Erfolgsaussichten der angeordneten Maßnahmen.

Unterschiedlichste Reaktionen auf Corona-Pandemie

Die Reaktionen der Regierungen auf Corona zeigen folglich eine hohe Bandbreite und signifikante Unterschiede bei vielen Einzelentscheidungen6. Zu den gängigen Maßnahmen gehören Schulschließungen, Reisebeschränkungen, Verbote öffentlicher Versammlungen, Maskenpflicht, Notfallinvestitionen in Gesundheitseinrichtungen, neue Formen der Sozialfürsorge, Kontaktverfolgung und andere Maßnahmen zur Eindämmung der Ausbreitung des Virus, zur Verbesserung der Gesundheitssysteme und Hilfen zur Bewältigung von wirtschaftlichen Folgen. 

Die Regierungen haben jedoch erhebliche Unterschiede in den von ihnen ergriffenen Maßnahmen und in der Geschwindigkeit ihrer Umsetzung an den Tag gelegt: In Europa beispielsweise agierten Schweden, das Vereinigte Königreich und die Niederlande relativ langsam. In der Frühphase ihrer Epidemien setzten alle drei Länder Strategien zur »Herdenimmunität« um, die nur wenige Maßnahmen beinhalteten oder solche, die auf Freiwilligkeit beruhten. Später gingen Großbritannien und die Niederlande jedoch zu aggressiveren Reaktionen über, einschließlich landesweiter Sperren. Deutschland und Österreich wiederum hoben sich zwischenzeitlich als Nationen hervor, die aggressive und frühzeitige Bekämpfungsstrategien einsetzten im Vergleich zu Italien, Frankreich und Spanien, die zwar ähnliche Maßnahmen eingeführt haben – aber deutlich später. Bislang verzeichnen Deutschland und Österreich pro Kopf im Vergleich mit den anderen Ländern nur einen Bruchteil der Todesfälle in Folge von Corona. Dieser vergleichsweise erfolgreiche Umgang mit der Pandemie ist bereits ebenfalls Gegenstand weitergehender Untersuchungen.7

Auch war im weltweiten Vergleich zu beobachten, dass beispielsweise ärmere Länder im Verhältnis zur Schwere ihrer Ausbrüche tendenziell strengere Maßnahmen einführten als reichere Länder. So erzwang zum Beispiel die karibische Nation Haiti bei der Bestätigung ihres ersten Falls eine Abriegelung, während die Vereinigten Staaten (USA) mit der Anordnung von Kontaktsperren bis mehr als zwei Wochen nach ihrem ersten Todesfall warteten, mit dem Ergebnis rasanter Steigerungsraten von infizierten Personen und Todesfällen.

Selbst bei konkreten Einzelmaßnahmen wie beispielsweise Schulschließung sind signifikante Unterschiede zu erkennen: An einigen Orten wurden alle Schulen geschlossen; an anderen Orten schlossen die Universitäten zu einem anderen Zeitpunkt als die Grundschulen. Wiederum an anderen Orten bleiben die Schulen nur für Kinder von wichtigen Arbeitnehmern geöffnet. Gerade an diesem Beispiel zeigt sich deutlich, dass jede Entscheidung, jede Intervention in hohem Maße von lokalen, politischen und sozialen Kontexten abhängig ist.

Eines jedoch zeigt die Krise in aller Klarheit: Entscheidungen werden maßgeblich von EntscheiderInnen und von deren individuellen strategischen Fähigkeiten, Mut, Führungswillen und Charakterstärke geprägt, was offensichtlich seitens der Bevölkerung erkannt und honoriert wird.

Weltweite Reaktionen auf die Pandemie
Weltweite Reaktionen auf die Pandemie

Wie gehen wir mit der Pandemie zukünftig um?

Die im Verlaufe der Pandemie beobachteten Entscheidungsprozesse haben eine notwendige öffentliche Diskussion ausgelöst. Öffentlichkeit, politische Entscheidungsträger und Wissenschaftler überdenken intensiv das Ausmaß der Maßnahmen, die verfolgt werden sollten und diskutieren kontrovers, wie schnell sie umgesetzt oder rückgängig gemacht werden können. Dabei ist es eine der drängendsten Fragen, die Wirksamkeit der Maßnahmen und ihre Auswirkungen auf alle gesellschaftlichen Lebensbereiche herauszufinden, sowie den Experten und EntscheiderInnen die Ergebnisse so schnell wie möglich, also im besten Fall in Echtzeit, zur Verfügung zu stellen.8

Internationale Wissenschaftler und Forscher hoffen, dass sie letztlich genau vorhersagen können, wie sich das Durchsetzen und Lockern von Kontrollmaßnahmen auf die Übertragungsraten und Infektionszahlen auswirken. Diese Informationen sollen für Regierungen von entscheidender Bedeutung sein, wenn sie Strategien entwickeln, um das Leben wieder zu normalisieren und gleichzeitig die Übertragung gering zu halten, um zweite Infektionswellen zu verhindern: “Hier geht es nicht um die nächste Epidemie. Es geht darum, ›was wir jetzt tun‹“!9

Vor zu viel Euphorie wird auch bei diesem Forschungsansatz dringend gewarnt:

„Nicht was wir gedacht haben, sondern vielmehr wie wir es gedacht haben, betrachten wir als unseren Beitrag zur Theorie.“ (Clausewitz) 

Anmerkung: Siehe hierzu u.a. auch CP 2/2020 „Sonderteil Covid-19“; „International news about the pandemic from the Scientific American network of magazines“ https://sciam.international/coronavirus/; https://coronavirus.jhu.edu/map.html

António Guterres in einem Gastbeitrag für die Süddeutsche Zeitung, 15.03.2020

Siehe vertiefend u.a. Nassim Nicholas Taleb, „Narren des Zufalls“, 2013; „Der Schwarze Schwan“, 2015; „Antifragilität“, 2018; Albrecht Knaus Verlag, München

Frank H. Knight, „Risk, Uncertainty and Profit“, Boston/ New York 1921

Der Tagesspiegel, Nr. 24 127, 18. März 2020

Eigene Darstellung. Nach: Nature, nach Daten von Oxford Coronavirus Government Response Tracker; Gibney, E.: Whose coronavirus strategy worked best? Scientists hunt most effective policies. Nature 581, 2020; dt. Bearbeitung: Spektrum der Wissenschaft (Ausschnitt), abrufbar unter: https://www.spektrum.de/news/wessen-coronavirus-strategie-hat-am-besten-funktioniert/1733730

Siehe hierzu: https://www.tagesschau.de/inland/ghs-index-deutschland-corona-101.html

Siehe hierzu insbesondere: https://www.bsg.ox.ac.uk/research/research-projects/coronavirus-government-response-tracker#data ; https://covid19.who.int/?gclid=Cj0KCQjwgJv4BRCrARIsAB17JI4k8DoRNwPlWKOgwTqQi7vmBfkIPR9B9mklGQUCbDp90VOpJvmwT3UaAvnoEALw_wcB

Rosalind Eggo, eine mathematische Modelliererin an der London School of Hygiene and Tropical Medicine (LSHTM); https://www.spektrum.de/news/wessen-coronavirus-strategie-hat-am-besten-funktioniert/1733730?utm_medium=newsletter&utm_source=sdw-nl&utm_campaign=sdw-nl-daily&utm_content=heute


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