Passau, an einem Dienstagmorgen Ende November, 8 Uhr. Vier Malteser in Einsatzkleidung machen sich auf den Weg zum Hauptbahnhof, Gleis 8. Sie sollen den nächsten Zug mit etwa 600 Flüchtlingen nach Düsseldorf begleiten. Es ist kalt, der Wind fegt über den Bahnsteig. „Ein bisschen mulmig war mir ja schon, denn so etwas hatte ich noch nie gemacht“, erzählt Joachim, Ehrenamtlicher bei den Maltesern Würzburg, rückblickend. Viele Einsätze hat er schon hinter sich, auch Erfahrung im Ausland in Flüchtlingscamps kann er vorweisen. Aber diese Art Einsatz ist anders als ein Katastrophenalarm, anders als ein geplanter Sanitätsdienst.
Wie würden die Menschen, die eine lange Flucht hinter sich haben, auf Hilfe reagieren? Wie wird die Verständigung gelingen? Wie geht man mit möglichen Konflikten um? Was für Menschen kommen überhaupt in den Zug? Aus welchen Ländern stammen sie? Werden Familien mit Kindern dabei sein oder mehr alleinreisende Männer? Und vor allem: Wie wird es sein, mit so vielen Menschen einen ganzen Tag in einem Zug zu verbringen?
Solche Fragen gehen dem 46-Jährigen durch den Kopf, während er mit den anderen zwei Helferinnen und einem Helfer den Zug vorbereitet für die Fahrt. Sie laden Getränke und Lebensmittel ein, Babynahrung und Windeln. Sie richten ein „Personalabteil“ her, stellen sich den Mitarbeitern von Bahn AG und Security vor. Punkt für Punkt arbeiten sie die Aufgaben ab aus dem „Einsatzbefehl“ des Gemeinsamen Einsatz- und Lagezentrums der Hilfsorganisationen in Bayern (GELZ). „Mit der Übernahme und Durchführung von Zugbegleitungen leisten wir im Rahmen unserer gemeinsamen Tätigkeiten im Asyleinsatz einen wesentlichen Beitrag zur Sicherstellung unserer humanitären Aufgaben“, erklärt Frank Drescher, Abteilungsleiter Notfallvorsorge beim Malteser Hilfsdienst e. V. in der Landesgeschäftsstelle Bayern und Stellvertretender Leiter des GELZ.
Im September 2015 hatte der Einsatzstab Flüchtlingsverteilung des Bundes die Weiterverteilung der an der österreichisch-deutschen Grenze ankommenden Flüchtlinge durch Züge und Reisebusse in die anderen Bundesländer beschlossen. Seitdem übernehmen neben den Maltesern auch Helfer des Deutschen und Bayerischen Roten Kreuzes und der Wasserwacht, vom Arbeiter Samariter Bund und von der DLRG die Zugbegleitungen.
Fast 800 Züge mit durchschnittlich 400 Flüchtlingen an Bord waren seitdem in Deutschland unterwegs. Von wo nach wo die Züge fahren, wird je nach Lage entschieden. Auch die Würzburger Gruppe erfuhr erst drei Tage vor Einsatzbeginn die Fahrtroute. Neben dem Rettungsassistenten Joachim, der das Team leitet, sind die ehemalige Kinderkrankenschwester Brigitte und der Rettungssanitäter Johannes dabei. Vierte im Bunde ist Monika. Sie bringt keine medizinischen Fachkenntnisse mit, dafür aber fließendes Englisch und viel internationale Lebenserfahrung. Alle vier haben sich freiwillig gemeldet, tun diesen Dienst ehrenamtlich. „Hauptsächlich sind es Ehrenamtliche, bei Engpässen ergänzt durch hauptamtliche Mitarbeiter der Organisationen“ bestätigt Frank Drescher.
Eskortiert von Polizeibeamten kommen die Flüchtlinge auf den Bahnsteig. Völlig übermüdet und erschöpft, viele Familien mit kleinen Kindern, ein paar junge Männer sind auch dabei. „Man hat ihnen die Strapazen der Flucht schon von weitem angesehen“, erinnert sich Monika. „Wie diszipliniert sie in den Zug eingestiegen sind, war sehr beeindruckend“.
Der Zug fährt langsam aus dem Bahnhof Passau heraus, und die vier Malteser machen ihren ersten Gang durch die Waggons. Sie zählen die Passagiere, eruieren die Menge der Kleinkinder und Säuglinge, verteilen Getränke, nehmen vorsichtig Kontakte auf. Es wird klar, dass die geladene Säuglings- und Kindernahrung nicht ausreichen wird. Joachim meldet die Zahlen ans GELZ und ordert gleichzeitig Lebensmittel nach. In Nürnberg hält der Zug daher außerplanmäßig, um die Essenrationen aufzustocken – nicht nur für die Babys. „Die Flüchtlinge waren ohne Frühstück gekommen und die Fahrt sollte ja den ganzen Tag dauern“, sagt der Würzburger. „Schlechte Stimmung aufgrund von Hunger lässt sich leicht vermeiden – durch genug Essen“, weiß er aus Erfahrung.
Während der gesamten Zugfahrt gehen die Malteser immer wieder durch den Zug. Dabei suchen sie das Gespräch, kommen in Kontakt mit den Fahrgästen. „Die Menschen waren unheimlich freundlich, voller Dankbarkeit und Hilfsbereitschaft “, so Monika. Die anfängliche Sorge zu möglichen Verständigungsproblemen erweist sich schnell als unbegründet: „Mit Händen und Füßen, auf Englisch oder mit Hilfe von Dolmetschern aus den Reihen der Flüchtlinge, und manchmal auch einfach mit einem freundlichen Lachen hat’s funktioniert“, erinnert sich Johannes an die unkomplizierte Art der Verständigung.
Meistens gehen die Gespräche über die zerstörte Heimat, über die Familie, über Berufe. Über die Flucht spricht kaum einer. Die vier Malteser erfahren ein bisschen von den Träumen und Plänen der Flüchtlinge. Oft fragen die Fahrgäste nach dem Ziel der Zugfahrt: Düsseldorf kennen allerdings die wenigsten. Eine Mutter mit vier Kindern erzählt, dass ihr Mann bereits in Deutschland sei. Wo genau, wisse sie aber nicht, außerdem sei ihr Handy defekt. Monika leiht ihres aus und erlebt, wie die Frau ihrem Mann unter Freudentränen mitteilt, dass sie und die Kinder ebenfalls in Deutschland in Sicherheit sind. „Das war mein ganz persönliches Highlight der Fahrt“, sagt die Malteserin immer noch berührt.
Eine andere Mutter bringt ihre Tochter mit hohem Fieber, Tendenz steigend. Joachim und sein Team überlegen. Sie könnten einen Arzt an den nächsten möglichen Bahnhof bestellen. Das kleine Mädchen würde zur weiteren Behandlung in ein Krankenhaus eingewiesen, mit höchstens der Mutter als Begleitung. Dadurch würde allerdings die mehrköpfige Familie getrennt werden. Die Malteser entscheiden sich daher dagegen, und Kinderkrankenschwester Brigitte erreicht mit regelmäßigen Wadenwickeln und ganz viel Flüssigkeitszufuhr, dass das Fieber sinkt und die kleine Patientin bis Düsseldorf mitreisen kann.
Dort angekommen ist es später Abend. Die Flüchtlinge steigen aus, werden weitergeleitet, auf verschiedene Notunterkünfte verteilt. Davon bekommen die Würzburger Malteser schon nichts mehr mit. Sie sitzen bereits wieder im Zug – diesmal in Richtung Süden, den Kopf voller schöner Erinnerungen an wertvolle und berührende Begegnungen.
Aufgrund fehlender Flüchtlinge an den deutschen Grenzen sind im April und Mai 2016 keine Züge mehr gefahren. Aber „sobald die Flüchtlingszahlen wieder ansteigen, werden auch wieder Züge eingesetzt werden“, so Frank Drescher vom GELZ. Und dann wären auch Joachim und die anderen Malteser sicher wieder als Zugbegleitung dabei. Denn als Malteser möchten sie den Flüchtlingen helfen, ihnen einen guten Start in Deutschland geben, ihnen zeigen, dass sie hier willkommen sind. „Und das ist uns zumindest auf dieser Fahrt ganz gut gelungen“ sind die vier Unterfranken zufrieden.
Crisis Prevention 2/2016
Christina Gold
Kommunikation und Social Marketing
Malteser Hilfsdienst e. V.
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