Im BMBF-geförderten Projekt PRAKOS[1] hat die Christian-Albrechts-Universität zu Kiel (CAU) ein Fortbildungsmodul zur Schulung von Einsatzkräften der Behörden und Organisationen mit Sicherheitsaufgaben (BOS) im Umgang mit Spontanhelfenden entwickelt. Die Lehr- und Lerninhalte des Moduls haben sich aus Ergebnissen verschiedener Erhebungen des Lehrstuhls für Technologiemanagement (CAU) ergeben: Schwerpunkt der Analyse bildeten zahlreiche Interviews mit Einsatzkräften und Spontanhelfenden zu sechs komplexen Einsatzlagen (Starkregen in Münster (2014), Sturm Ela in Essen (2014), Tornado in Affing (2015), Flüchtlingslage in München (2015), Flüchtlingslage in Kiel (2015) und Hochwasser in Simbach (2016)).
In einer zusätzlichen großen Online-Umfrage unter Feuerwehr- und THW-Einsatzkräften wurden Probleme und Erfolge der Bewältigung einer Lage mit Spontanhelfenden erfasst. Ergänzend sind mehrere Fokusgruppen mit Einsatzkräften zu Herausforderungen in der Bewältigung von Schadenslagen durchgeführt worden. Des weiteren ist die Facebook-Kommunikation ausgewählter Spontanhilfenetzwerke analysiert worden.
Lehrziele des Moduls sind:
- mehr Offenheit gegenüber Spontanhelfenden, um deren Potentiale wahrnehmen und nutzen zu können (flexible Handlungskompetenz),
- eine Haltungsänderung bei Einsatzkräften – von Skepsis und Konkurrenzdenken hin zu Anerkennung und Partnerschaft sowie
- die Förderung der kommunikativen und sozialen Kompetenzen für den Umgang und die Kooperation mit Spontanhelfenden
um so noch mehr Handlungssicherheit in der Lage zu behalten/zu gewinnen.
Im vorliegenden Beitrag werden ausgewählte Inhalte des Moduls vorgestellt.
Wie funktioniert Spontanhilfe? Welche Konflikte entstehen?
Spontanhilfe entwickelt sich zum (größten) Teil aus Nachbarschaftshilfe. Haben sich Helfende zusammengefunden, entwickelt sich schnell ein „Gemeinsam-schaffen-wir-das!“-Gefühl. Spontanhelfende bringen oft durch ihren beruflichen Hintergrund verschiedene Kompetenzen mit in die Lage, die sie auch gern einbringen möchten. Sie haben Interesse an einer schnellen Verbesserung der Situation. In bestimmten Lagen ist die Wahrscheinlichkeit für Spontanhilfeengagement besonders hoch.
Das Engagement ist abhängig von der Dringlichkeit, der eigenen Kompetenz, der wahrgenommenen Kompetenz und Priorisierung der BOS und der zeitlichen Verfügbarkeit der Spontanhilfe.
Der Aufbau und die Gliederung der verschiedenen BOS ist für viele Spontanhelfende nicht transparent. Auch die Kommunikationsform, Dienstwege und Schutzmaßnahmen sind nicht für alle direkt verständlich. Im Zweifel wird z. B. der Verweis an andere Personen als „Hinhalte-Taktik“ interpretiert, Hinweise zu notwendiger Schutzkleidung können als ein „die wollen uns hier nicht“ verstanden werden. Entsteht bei den Spontanhelfenden der Eindruck, dass BOS-Einsatzkräfte sie von oben herab behandeln, sie herumkommandieren oder ihnen ihre „Einsatzstelle“ wegnehmen wollen, kann das zur Ablehnung der BOS-Einsatzkräfte führen.
Aus den untersuchten Fällen wurde deutlich, dass beim Auftreten von Spontanhelfenden in einer Schadenslage
(a) verstärktes Medieninteresse an diesem Phänomen herrschen kann und, dass
(b) Spontanhilfe unter Umständen in der Berichterstattung stärker (lobend) hervorgehoben wird als das Engagement der Einsatzkräfte bei der Bewältigung einer Lage.
Die Spontanhilfe profitiert vom „Medienrummel“ – da es dadurch leichter wird, noch mehr Menschen anzusprechen und für die Tätigkeiten zu gewinnen. Gelingt BOS-seitig eine gute Abstimmung mit Spontanhilfe, kann der Medienrummel auch positiv für BOS genutzt werden.
Welche Organisationsformen von Spontanhilfe gibt es?
Wir können zwischen drei Formen der Organisation von Spontanhilfe unterscheiden:
Lose Spontanhelfende
Als Reaktion auf eigene Betroffenheit bzw. eigener Beobachtung oder einem Aufruf über soziale oder klassische Medien folgend, finden sich einzelne Helfende am Einsatzort ein und bieten ihre Hilfe an. Sie sind weder in einer Gruppe noch in einem Netzwerk organisiert. Sie gehören keiner klassischen Hilfsorganisation an. Diese Spontanhelfenden benötigen in der Regel eine BOS-seitig eingerichtete Anlaufstelle, wo sie erfahren, wie sie am besten helfen und in den Einsatzablauf integriert werden können. Wird so ein zentraler Ort nicht eingerichtet, suchen sich die Spontanhelfenden zum Teil selbst ein Betätigungsfeld.
Spontanhilfegruppe
Eine Spontanhilfegruppe hat bereits eine bestehende Struktur, wie örtliche Vereine, kirchliche Organisationen oder ansässige Unternehmen. Häufig wird der Einsatz einer Gruppe durch eine Führungsperson (z. B. Trainer, Chorleiter, Geschäftsführerin) koordiniert. In der Gruppe gibt es festgelegte Kompetenzbereiche, es ist klar, wer zur Gruppe gehört. Die Führungsperson nimmt häufig eine gewisse Aufsichtspflicht wahr.
Spontanhilfenetzwerk
Spontanhilfenetzwerke sind in der Regel über einen Social-Media-Kanal vernetzt und zum Teil auch über diesen organisiert. Netzwerke haben zunächst keine festgelegte Struktur oder Kompetenzbereiche. Die Teilnehmenden an einem Netzwerk teilen zumindest ein gemeinsames Interesse. Ein Netzwerk hat im Gegensatz zu einer Gruppe keine klaren „Grenzen“. Es ist möglich, dass BOS-Einsatzkräfte auf eine kleine „Gruppe“ Spontanhelfender treffen und sich im Zuge des Gesprächs herausstellt, dass die „Gruppe“ Teil eines Netzwerks ist. Insbesondere in Flächenlagen ist es wahrscheinlich, dass sich kleine Gruppen bilden, die an bestimmten Orten aktiv werden.
Wie funktionieren Spontanhilfenetzwerke?
Spontanhilfenetzwerke sind häufig aus einer Social-Media-Gruppe, zum Beispiel in Facebook entstanden. Facebook hat eine große Reichweite, aber wird schnell unübersichtlich. Aus diesem Grund entwickelte sich in den untersuchten Fällen schnell ein kleiner Kreis aktiv koordinierender Personen, die sich auch über andere Kanäle als Facebook abstimmten (WhatsApp, Telefon, persönlicher Austausch). Facebook wurde dann nur noch als Sprachrohr für die vielen Spontanhelfenden eingesetzt.
Im weiteren Verlauf zeigten sich folgende Entwicklungen:
- Etablierung von Koordinierungsprozessen und -strukturen durch Zentralisierung und Professionalisierung
- Bildung einer Struktur mit definierten Verantwortungs- und Aufgabenbereichen
- Benennung und Markierung von Ansprechpersonen für BOS und Spontanhilfe
- Einrichtung zentraler Orte (virtuell und/oder real)
- Bildung von Teams
- Etablierung von Regelwerken und Kommunikationsketten
- Etablierung von Informations- und Entscheidungsprozessen
- Übergabe und Dokumentation von Informationen
- Crowd-Prinzip: Verteilung auf möglichst viele Köpfe – aber keine „Jeder entscheidet mit“-Kultur
In den untersuchten Fällen mit Spontanhilfenetzwerken haben Personen mit einer ausgeprägten Organisationskompetenz – z. B. mit Erfahrung im Eventmanagement – die Koordinierung der Spontanhilfe übernommen. Spontanhelfende haben zunächst keine Routinen und keine Regeln für die Bewältigung einer Lage. Das führt oft dazu, dass Spontanhelfende nach dem „Trial-and-Error“-Prinzip vorgehen. Es wird probiert und experimentiert bis ein Ansatz gefunden wird, der erfolgversprechend ist. Sie finden dabei kreative Lösungen, wie Kooperationen mit Unternehmen, Einsatz von Avataren, Einbindung von Trollen etc. Spontanhilfe funktioniert, weil die Menschen helfen wollen und zusätzlich durch das Gemeinschaftsgefühl während der Hilfe hoch motiviert sind.
Umgang mit Spontanhilfe
Spontanhilfeaktivitäten können von BOS ignoriert werden. In den Fällen, in den Spontanhilfe ignoriert wurde, gab es zwar eine informelle Zusammenarbeit, aber auch viele Konflikte zwischen BOS-Einsatzkräften und Spontanhelfenden. Die Ressourcen wurden auf beiden Seiten nicht optimal genutzt. Aus der Praxis lassen sich zwei Ansätze in der offiziellen Zusammenarbeit von Einsatzkräften mit Spontanhelfenden beschreiben: der Integrations- und der Kooperationsansatz.
Der Integrationsansatz
Der Integrationsansatz sieht vor, dass Spontanhelfende zentral registriert werden, durch BOS-Einsatzkräfte konkrete Informationen zur Aufgabenbewältigung erhalten und ggf. eine Anleitung vor Ort erfolgt. Die Koordination der Spontanhilfe-Aktivitäten erfolgt damit durch BOS. Einsatzstrukturen für die Integration von Spontanhelfenden müssen frühzeitig (ggf. im Vorfeld) eingerichtet werden.
Der Integrationsansatz funktioniert eher in Lagen, die einem Kompetenzbereich der BOS (z. B. Hochwasserlagen) zuzuordnen sind. Bei einer Integration der Spontanhilfe in BOS-Strukturen entsteht die Erwartung, dass Spontanhelfende auch mitversorgt werden (Transport, Verpflegung, Schutzkleidung, Pausen).
Der Kooperationsansatz
Beim Kooperationsansatz kann es die Aufgabe der BOS sein, einen Rahmen für das Spontanhilfe-Engagement festzulegen. Die eigentlichen Aktivitäten organisieren Spontanhelfende selbständig. Die Abstimmung zu den Aufgaben erfolgt zwischen Ansprechpersonen seitens der BOS und Ansprechpersonen seitens der Spontanhilfe.
Empfehlungen für die Praxis
In Großschadenslagen können BOS-Einsatzkräfte davon ausgehen, dass sich Spontanhelfende freiwillig und hoch motiviert engagieren. Dahinter steht in erster Linie das Bedürfnis, Menschen in Not zu helfen. Spontanhelfende verfügen außerdem über verschiedene Kompetenzen, (Orts-)Kenntnisse und Kontakte. Es lohnt sich also oft, diese wertvolle Ressource für die Bewältigung einer Lage zu nutzen.
Integrieren oder Kooperieren?
Beide Ansätze sind mit bestimmten Erwartungen und Voraussetzungen verbunden, die nicht in allen Lagen erfüllt werden (können). Durch vorbereitende Maßnahmen können aber verschiedene Formen der gemeinsamen Bewältigung unterstützt werden. Spontanhelfende zu ignorieren scheint ein nicht-erstrebenswerter Ansatz zu sein. Ob und wie eine Zusammenarbeit von BOS-Einsatzkräften und Spontanhelfenden möglich ist, muss in Gesprächen geklärt werden, die von gegenseitiger Wertschätzung und Verständnis geprägt sein sollten, denn, die besten Argumente oder Vorschläge stoßen auf taube Ohren, wenn der Ton nicht stimmt. Schritte der erfolgreiche Gesprächsführung sind deshalb:
Kontakt suchen
Engagement wertschätzen
Ressourcen explorieren
Zusammenarbeit besprechen
Abbildung 1 zeigt den Gesprächsleitfaden für Einsatzkräfte mit Spontanhelfenden.
Bewertung des Fortbildungsmoduls durch Einsatzkräfte
Das Fortbildungsmodul der CAU beinhaltet über die hier dargestellten Punkte noch eine Fallstudie für Einsatzkräfte, Interaktionsstrategien für die verschiedenen Formen der Spontanhilfe, Rollenspiele, einen Leitfaden zur deeskalierenden Kommunikation sowie Hinweise zur Vorbereitung auf Lagen mit Spontanhilfebeteiligung. In den im Herbst 2017 durchgeführten Pilotlehrgängen an der Bundesschule der Bundesanstalt Technisches Hilfswerk (THW), Standort Neuhausen a. d. F. (bei Stuttgart) sowie am Institut der Feuerwehr (Fw) in Münster wurden zudem von den PRAKOS-Partnern Inhalte zu Einsatzstrategien, zum rechtlichen Rahmen und Richtlinien sowie Vorgaben des Sicherheits- und Gesundheitsschutzes vermittelt. Die Teilnehmenden der Pilotlehrgänge wurden vor und nach der Veranstaltung zu ihrer Einschätzung des Fortbildungskonzepts und der Inhalte befragt.
Alle Teilnehmenden stimmten zu, dass eine derartige Lehrveranstaltung unbedingt weiter angeboten werden sollte oder würden es zumindest begrüßen, wenn eine solche Lehrveranstaltung weiter angeboten werden würde. Nach der Veranstaltung stimmten 72 % (Fw) bis 80 % (THW) zu, dass die mögliche Beteiligung von Spontanhelfenden von Beginn an bei der Einsatzplanung berücksichtigt werden sollte (von vor dem Kurs 30 % (Fw) bis 40 % (THW)). Vier Wochen nach der Fortbildung hatten schon zahlreiche BOS-Einsatzkräfte ihren Ortsverband/ihre Stadtverwaltung und weitere Stellen innerhalb ihrer eigenen BOS über Inhalte und Konzepte aus dem Kurs informiert.
Zusammenfassung
In komplexen Einsatzlagen kann ich als BOS-Einsatzkraft davon ausgehen, dass sich Spontanhelfende freiwillig und hoch motiviert engagieren. Dahinter steht in erster Linie das Bedürfnis, Menschen in Not zu helfen. Spontanhelfende verfügen außerdem über verschiedene Kompetenzen, (Orts-)Kenntnisse und Kontakte.
Spontanhelfende sind unterschiedlich stark organisiert: von einer Ansammlung loser freiwillig Helfender, die auf Anweisungen warten bis hin zu gut organisierter Spontanhilfe in Netzwerken, die selbständig Aufgabenbereiche identifizieren, deren Bewältigung koordinieren und übernehmen.
Die Kultur der Spontanhilfe wird wesentlich vom Prinzip der Freiwilligkeit getragen und eine schnelle Verbesserung der Situation ist hier das Hauptziel. Mitunter erachten Spontanhelfende dieses Ziel für dringlicher als die Einhaltung von Dienstwegen seitens der BOS.
Es lohnt sich oft, Spontanhelfende als wertvolle Ressource für die Bewältigung einer Lage zu nutzen. Ob und wie eine Zusammenarbeit von Einsatzkräften und Spontanhelfenden möglich ist, muss in Gesprächen geklärt werden, die von gegenseitiger Wertschätzung und Verständnis geprägt sein sollten. Gerade lose Spontanhelfende und Spontanhilfegruppen können in vielen Situationen durch Ansprache und Einweisung gut in den Einsatzablauf der BOS integriert werden. Bei Spontanhilfenetzwerken, die einen hohen Grad an Selbstorganisation aufweisen, ist eher eine Kooperation mit gegenseitiger Abstimmung zu den Aufgaben erfolgreich.
1 Informationen zum Projekt und zum Verbund unter vfdb.de.
Crisis Prevention 3/2018
Korrespondenzadresse:
Christine Carius
Professur für Technologiemanagement
Prof. Carsten Schultz
Christian-Albrechts-Universität zu Kiel
Westring 425
24118 Kiel
PRAKOS wurde mit Mitteln des Bundeministeriums für Bildung und Forschung gefördert. (Förderkennzeichen des Teilvorhabens CAU Kiel: 13N13326)