05.07.2021 •

Europäisches Forschungsprojekt eNotice

Vernetzung von ziviler und militärischer CBRN-Gefahrenabwehr

Sylvia Pratzler-Wanczura, Wolfgang Karl-Heinz Reich, Oliver Nestler

Feuerwehr Dortmund

Gefahrenlagen mit chemischen, biologischen oder radiologischen Gefahrstoffen (CBRN) stellen Einsatzkräfte, unabhängig von ihrer Organisationszugehörigkeit, vor große Herausforderungen: ob im Rahmen von Transportunfällen (Straße / Schiene), verarbeitender Industrie, Altlasten oder vor terroristischem Hintergrund. Einsatzlagen mit Beteiligung von CBRN-Gefahren zeichnen sich in der Regel durch eine hohe Komplexität aus und erfordern eine entsprechend umfassende Vorbereitung der Einsatzkräfte.

In Deutschland steht ein bewährtes, gestuftes System der CBRN-Gefahrenabwehr zur Verfügung, das von den ersteintreffenden Einsatzkräften der lokalen Feuerwehr bis hin zu Spezialressourcen wie den ABC-Zügen der Kreise und kreisfreien Städte, der Analytischen Task Force (ATF), dem Transport-Unfall-Informations- und Hilfeleistungssystem (TUIS) oder den ABC-Abwehrkräften der Bundeswehr reicht. Um den spezifischen Gefahren eines CBRN-Einsatzes zielgerichtet begegnen zu können, ist insbesondere eine umfassende Aus- und Fortbildung aller in diesen Einheiten eingesetzten Einsatzkräfte notwendig. Gleichzeitig muss das System der CBRN-Gefahrenabwehr laufend an neue wissenschaftliche und technische Erkenntnisse sowie aktuelle Entwicklungen angepasst werden. Gerade dies stellt die beteiligten Organisationen aber sehr schnell vor große Herausforderungen. Welcher Aufwand ist mit der Suche nach geeigneten Trainingsmöglichkeiten verbunden, wenn die zu übenden Szenarien die verfügbare Infrastrukturausstattung und Expertise übersteigen? Wo ist es möglich, an die Nutzer bzw. Anwender zu kommen, um die eigenen Produkte bzw. Konzepte anhand realer Szenarien zu überprüfen oder in realistische Übungen einzubinden und so die Praxistauglichkeit zu testen?

Diese Probleme sind nicht nur für den zivilen, sondern auch für den militärischen Bereich akut. Zwar verfügt die Bundeswehr mit ihren ca. 2.000 Soldaten und zivile Mitarbeiter umfassenden ABC-Abwehrkräften1 über eine – durchaus auch im internationalen Vergleich – schlagfertige Truppengattung, die überdies mit modernem Gerät und gut ausgebildetem Personal das gesamte Spektrum der ABC-Abwehr abzudecken vermag, gleichwohl gilt es auch hier im Rahmen der subsidiären Unterstützung bei Krisen- und Katastropheneinsätzen, die Verfahren zu praktizieren, zu trainieren und wo immer möglich in einem ganzheitlich vernetzten Ansatz interoperabel zu beüben. Hierbei gilt es, die bereits strukturell in den 16 Landeskommandos der Bundeswehr abgebildeten ABC-Melde- und Warndienste mit den jeweiligen zivilen Fähigkeiten auf Landes- und kommunaler Ebene zu koordinieren, um so ein einheitliches ABC-Lagebild zu generieren und eine zielgerichtete ABC-Abwehrberatung zu gewährleisten.

Die im zivilen und militärischen Bereich zu bewältigenden Heraus­forderungen in der CBRN-Gefahrenabwehr und die derzeit in Europa sehr verstreut vorliegenden Potenziale zum Training solcher Szenarien führten zu einem europäischen Forschungsprojekt, an dem die Feuerwehr Dortmund, das NATO „Joint Chemical, Biological, Radiological and Nuclear Defence Centre of Excellence“ und elf weitere internationale Partner aus acht Ländern beteiligt sind. Das 2017 gestartete Projekt „eNotice“ (European Network of CBRN Training Centres – Europäisches Netzwerk der Schulungszentren für die CBRN-Gefahrenabwehr) hat eine Laufzeit von fünf Jahren und ist durch einen starken Netzwerk-Charakter geprägt. In diesem Netzwerk spielen insbesondere europäische CBRN-Gefahrenabwehr-Trainingszentren als Ausbildungs- und Trainingseinrichtungen eine zentrale Rolle als „Gastgeber“ für eine Plattform, mit der sich die Sicherheitsakteure – Vertreter der BOS, Anbieter innovativer Lösungsansätze und andere Stakeholder, wie etwa wissenschaftliche Einrichtungen – künftig dauerhaft vernetzen, um den gesamten Zyklus der Einsatzbewältigung (Training, Vorbereitung, Durchführung, Nachbereitung) im Bereich CBRN-Gefahrenabwehr anwenderorientiert zu optimieren.

Struktur des Projektes eNotice.
Struktur des Projektes eNotice.
Quelle: Feuerwehr Dortmund

Warum ist die Schaffung von zivil-militärischen Netzwerken gerade im Bereich CBRN nicht nur sinnvoll, sondern insbesondere auch nötig? Bisher existiert eine sehr marginale Verbindung der Trainingszentren untereinander und mit den weiteren Akteuren aus den Bereichen „Forschung“, „Industrie“ und „Anwender“ mit der entsprechenden Expertise im Bereich der CBRN-Gefahrenabwehr in Europa. Die dort durchgeführte Aus- und Fortbildung beschränkt sich größtenteils auf die eigenen Kräfte, der Zugang Dritter (d. h. externer Akteure – seien es Vertreter der Industrie, Forschung oder auch weiterer Behörden und Organisationen mit Sicherheitsaufgaben) ist nicht vorgesehen bzw. wird derzeit nicht verfolgt. Dies führt dazu, dass dort bestehende Kapazitäten, das Wissen und die Expertise nicht in einem Umfang „abgerufen“ werden, wie es möglich wäre. Aber erst durch einen intensiven Austausch der drei Bereiche „Forschung“, „Industrie“ und „Anwendung“ – und zwar sowohl auf der zivilen als auch militärischen Ebene – kann die Entwicklung innovativer Technologien und Werkzeuge, Produkte und Dienstleistungen gefördert und somit ein zukunftsfähiges System geschaffen werden. Dies ist eine wesentliche Voraussetzung, um den immer weiter und komplexer werdenden Herausforderungen im Bereich der Gefahrenabwehr entgegenwirken zu können.

Aus diesem Grund setzt das eNotice-Projekt genau an dieser Stelle an und führt eine kontinuierliche Ermittlung und Auflistung der zivilen und militärischen CBRN-Gefahrenabwehrtrainingszentren und der Test- und Demonstrationsstandorte in der EU durch. Die Einrichtungen werden hinsichtlich ihrer Fähigkeiten, Infrastruktur, Besonderheiten und geografischer Lage sowie ihrer beruflichen, wirtschaftlichen und rechtlichen Verbindungen kartiert. Diese Kartierung stellt dann den Rahmen für die Kategorisierung der Zentren und für die Ausarbeitung eines Kapazitäts- / Qualitätssiegels, um die Zentren nach außen hin bzgl. ihrer Rahmenbedingungen zu öffnen und somit den Austausch zu fördern.

Da es sich bei dem eNotice-Netzwerk um ein offenes Netzwerk handelt, sollen auch über die Projektpartner hinaus weitere interessierte Zentren zur Beteiligung an dem Netzwerk eingeladen werden. Hierzu wird im Projekt eine gründliche Analyse und Identifizierung der jeweiligen Bedürfnisse und Erwartungen für Prozess- und Technologieinnovationen durchgeführt, um eine Roadmap mit Faktoren, Kriterien und Motivationen zu erstellen, welche die Mitgliedschaft weiterer Interessenten in diesem Netzwerk initiieren.

Um eine Basis und Ausgang für das Netzwerk zu schaffen, finden seit 2017 in regelmäßigen Abständen gemeinsame Aktivitäten (so genannte „Joint Activities – JA“) der am Projekt beteiligten Partner statt. Seit Beginn des Projektes organisierten die Projektbeteiligten diverse Übungen, bei denen Möglichkeiten und Kapazitäten im Bereich der CBRN-Gefahrenabwehr demonstriert wurden. Parallel hierzu wurden die Übungsbeobachter eingeladen, potenzielles Entwicklungspotenzial während der Übungen zu identifizieren und basierend auf ihrer Expertise Empfehlungen in Bezug auf die Ausstattung und auch die Konzepte zu geben.

Verwendung von Augmented Reality bei Sicherheitsschulungen in einer Mine in...
Verwendung von Augmented Reality bei Sicherheitsschulungen in einer
Mine in Eskişehir, Türkei.
Quelle: Feuerwehr Dortmund

Die bereits durchgeführten Übungen fanden beim Service Départemental d'Incendie et Secours de Seine-et-Marne (SDIS77) in Gurcy-le-Châtel (Frankreich), der Scuola Interforze Per La Difesa NBC (SCNBC) in Rieti (Italien), dem Joint CBRN Defence Centre of Excellence in Vyškov (Tschechien), dem National CBRN Centre (Birmingham, UK) und bei der Feuerwehr Dortmund statt. Sobald die Situation es im nächsten Jahr zulässt, werden weitere Übungen stattfinden. Kommende Gastgeber sind u. a.: Campus Vesta (Belgien), CBRN Defence Training Centre, Faculty of Military Stud­ies, War Studies University (Polen).

Die Teilnahme an gemeinsamen Joint Activities verspricht nicht nur einen Blick über den eigenen Organisationszaun hinaus, sondern ist auch als Ideengeber für die eigene Ausbildungsgestaltung, insbesondere im Hinblick auf zivil-militärische Interoperabilität, von unschätzbarem Vorteil. Neben diesen praxisbezogenen, gemeinsamen Aktivitäten bieten die regelmäßig durchgeführten Policy-Meetings einen Rahmen, in dem grundsätzliche Belange der zivil-militärischen Zusammenarbeit auf politisch und strategischer Ebene angesprochen und diskutiert werden und deren Erkenntnisse in konkrete Ergebnisse zur Weiterentwicklung in diesem Bereich herangezogen werden können. Im Gegenzug erlaubt die Teilnahme von militärischen Partnern in diesem europäischen Flag-Ship Projekt auch der zivilen Seite Einblicke in militärisches Handeln, Denken und deren Fähigkeiten zu geben und so die in einigen Gesellschaften immer noch vorhandene Distanz zwischen dem Militärischen und dem Zivilen weiter abzubauen.

Gerade im Bereich der CBRN-Gefahrenabwehr ist dieses Aufweichen der oftmals noch sehr harten Grenzen zwischen der zivilen und militärischen Gefahrenabwehr zwingend notwendig. Die Gefahren von CBRN-Stoffen und die Abwehrstrategien dagegen orientieren sich nahezu ausschließlich an den naturwissenschaftlichen Parametern der beteiligten Gefahrstoffe und nicht an Organisationsgrenzen oder Zuständigkeiten. Die Herausforderungen, denen sich zivile und militärische Planer und Einsatzkräfte im Themenfeld der CBRN-Gefahrenabwehr gegenübersehen, besitzen deshalb gerade auch vor dem Hintergrund asymmetrischer Bedrohungslagen eine große gemeinsame Schnittmenge. Das gemeinsame Bewerten von Gefährdungen und Entwickeln von Handlungs- und Lösungsstrategien muss deshalb die Konsequenz sein.

eNOTICE ist somit nicht nur ein bestens geeignetes Projekt der nationalen und europäischen zivil-militärischen Zusammenarbeit, es ist darüber hinaus auch noch eines der wenigen EU-Projekte, die die politisch gewollte und in der JOINT NATO-EU Declaration manifestierte Absicht zur besseren Kooperation der beiden Organisationen mit konkreter, praktischer Umsetzung füllt: von der politisch-strategischen Ebene bis hin zur taktischen Umsetzung. 


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