Telemedizin in der präklinischen Notfallversorgung

Überblick und Systemvergleich

Volker Julius, Simon Little, Philipp Walther

PantherMedia / HayDmitriy

Der Einsatz von Telemedizin in der prähospitalen Notfallversorgung eröffnet neue Möglichkeiten und ist gleichzeitig mit diversen Herausforderungen verbunden. Dieser Beitrag gibt zunächst ein Überblick und einen Systemvergleich von sich im Einsatz befindlichen Telenotarzt-Systemen. Im Rahmen von Experteninterviews werden die zentralen Anforderungen an ein Telenotarzt-System definiert. Hierzu zählen neben einem standardisierter Einsatzablauf und der Wahl eines passenden Ortes für den Telenotarzt-Arbeitsplatz nicht zuletzt der Einsatz geschulter und kompetenter Notärzte.

Die deutsche rettungsdienstliche Versorgung steht vor einer Reihe von Herausforderungen. Hierzu zählt insbesondere, die bedarfsgerechte notärztliche Versorgung der Bevölkerung sicherzustellen. Einerseits gilt es, die rettungsdienstliche Versorgung mit ärztlichem und nichtärztlichem Personal als Daseinsvorsorge für die Bevölkerung aufrechtzuerhalten. Andererseits soll im Notfall der Arzt zum Patienten kommen. Da die Einsatzzahlen und Aufgabengebiete im Rettungsdienst seit Jahren konstant ansteigen und insbesondere in ländlichen Regionen Schwierigkeiten bei der Besetzung des Notarztdienstes herrschen, bedarf es Alternativen, um die angesprochenen Herausforderungen zu lösen. 

Eine mögliche Alternative stellt die Telemedizin dar, hierbei vor allem das Konzept des Telenotarztes (TNA). Eine solche telemedizinische notärztliche Versorgung kann zum einen für bestimmte Krankheitsbilder den physisch anwesenden Notarzt (NA) ersetzen und zum anderen das therapiefreie Intervall bis zum Eintreffen eines Notarzt­einsatzfahrzeuges (NEF) durch telemedizinische Unterstützung verkürzen. Solche TNA-Systeme haben somit Auswirkungen auf die rettungsdienstliche Versorgungsqualität.

Übersicht Telenotarztsysteme in Deutschland

In Deutschland werden aktuell verschiedene TNA-Systeme im Regelbetrieb oder in Projektphasen durchgeführt.

So kann der TNA aus dem Bereich Aachen angeführt werden, der als Wegbereiter für ein holistisches TNA-Konzept angesehen werden kann. Auf eine Evaluation der ländlichen Versorgung zielt das Projekt TNA aus Straubing ab. Es soll aufgezeigt werden, ob ein solches System zu einer verbesserten ärztlichen Versorgung und einer verbesserten Verfügbarkeit in ländlichen Regionen führt. Im Projekt der Landkreise Gießen, Marburg-Biedenkopf und dem Vogelsbergkreis soll ein schlankes TNA-Modell ohne Videoanbindung, das auf einem bestehenden und etablierten Callback-System aufbaut, auf Wirksamkeit und Nutzen überprüft werden. Im Landkreis Vorpommern-Greifswald soll im Rahmen des Gesamtprojektes Land|Rettung die Versorgungssituation der Bevölkerung gesichert und möglichst verbessert werden. Dem TNA kommt eine tragende Rolle zu, um die ärztliche Expertise frühzeitig an den Notfallort zu bringen und die steigenden Einsatzzahlen für bodengebundene NEF zu kompensieren.

Tabelle zeigt einen Vergleich der Telenotarztsysteme.
Tabelle zeigt einen Vergleich der Telenotarztsysteme.
Quelle: Grafik: Volker Julius

Eine andere Notwendigkeit für den Einsatz von TNA besteht im Bereich der Off-Shore-Versorgung von medizinischen Notfall­patienten. Da konventionelle NA im Regelfall zu entlegenen Stellen, wie Windparks, per Rettungshubschrauber (RTH) eingeflogen werden müssen, kommt dort der Verkürzung eines therapiefreien ärztlichen Intervalls eine besondere Bedeutung zu. Hierbei kann die ärztliche Expertise beim telemedizinischen Zentrum des ­Klinikums Oldenburg angefordert werden und die Patientenbehandlung mit telemedizinischer Unterstützung bis zum Eintreffen des RTH erfolgen.

Aus den angeführten Beispielen ergibt sich die Fragestellung, ob zum einen ein TNA-Einsatz grundsätzlich zur Steigerung der Qualität in der präklinischen Versorgung beitragen kann. Und zum anderen die Frage, welche grundlegenden Merkmale solcher Konzepte für die Erfüllung der gestellten Qualitätsansprüche in der präklinischen Versorgung notwendig sind und welches TNA-Konzept hierfür am geeignetsten erscheint.

Anforderungen an TNA-Systeme aus Expertensicht

Nach Studienlage zur Telemedizin in der präklinischen Notfallversorgung kann zunächst festgehalten werden, dass der Einsatz eines holistischen TNA-Systems zur Steigerung aller Qualitäts­dimensionen im präklinischen Bereich dient und ökonomisch günstiger ist, als die Etablierung weiterer NEF-Standorte. Jedoch können trotz TNA keine NEF-Standorte eingespart werden, da für manuelle oder komplexe Tätigkeiten NA vor Ort notwendig sind. Im Gegensatz zu herkömmlichen NA können TNA nicht jede Einsatzsituation vollumfänglich bearbeiten und abdecken.

Um die Anforderungen aus Expertensicht zu definieren, wurden standardisierte schriftliche Experteninterviews durchgeführt. Der Eruierung der infrastrukturellen Gegebenheiten sowie der Ausstattung der Einsatzmittel und des TNA-Arbeitsplatzes wird ein hoher Stellenwert beigemessen. Ebenso muss eine detaillierte Schulung der Beteiligten erfolgen. Ferner werden als notwendige vorbereitende Maßnahmen, um einen möglichst reibungslosen Ablauf in einem TNA-System zu gewährleisten, ein standardisierter Einsatzablauf, die Wahl eines passenden Ortes für den TNA-­Arbeitsplatz sowie die Wahl von kompetenten TNA gesehen. 

Die befragten Experten sehen die Vorteile in einer höheren Verfügbarkeit des konventionellen NA, in einer rechtssicheren und ärztlich fundierten Transportentscheidung und einer Verkürzung des therapiefreien Intervalls. Ebenso werden positive Aspekte bei einer bedarfsgerechten Lenkung des Patientenstroms in den geeigneten Versorgungssektor sowie in einer kollegialen Supervision gesehen. Als Nachteile wurden angegeben, dass ein TNA-System zur Demotivation und demzufolge zu einer Kompetenzverschlechterung des nichtärztlichen Personals führen könnte.

Tabelle zu den Auswirkungen einer TNA-Einführung.
Tabelle zu den Auswirkungen einer TNA-Einführung.
Quelle: Grafik: Volker Julius

Demzufolge konnten zur Frage nach der idealen Konzeption von TNA-Systemen aufgezeigt werden, dass insbesondere die Kompetenzerhaltung des nichtärztlichen Personals mit einer kollegialen Kommunikation auf Augenhöhe, gepaart mit ausreichend Schulung und einem standardisierten Einsatzablauf, als notwendig angesehen wird.

Als möglichen Arbeitsplatz für TNA wurden in der Befragung drei möglicher Orte angegeben. Diese sind der Tabelle zu entnehmen.

Tabelle zum Arbeitsplatz des TNA.
Tabelle zum Arbeitsplatz des TNA.
Quelle: Grafik: Volker Julius

Hierbei wurden insbesondere die infrastrukturelle Anbindung und direkte Einsatzkenntnisse in einer Rettungsleitstelle als Vorteil gesehen. Für den Platz in der Klinik spricht eine konsistente Weiterbehandlung nach dem Eintreffen der Patienten in der Klinik. Für eine möglichst flexible und kostengünstige Alternative könnte eine ortsungebundene TNA-Konzeption sprechen. Grundlegend wurde auch durch die befragten Experten eine Verbesserung der Patientenversorgung durch Einsatz eines TNA-Systems gesehen.

Als essenziell für eine Steigerung der Qualität in der Prozess- und Ergebnisdimension wird allgemein eine Verbesserung der Kompetenzen der NA und NotSan ­gesehen. Hierbei kann der TNA in Form der Supervision eine unterstützende Rolle spielen. Jedoch wird mit unterschiedlicher Begründung auf eine eindeutige Kompetenzklärung des nichtärztlichen Personals hingewiesen und eine bessere Qualifizierung, insbesondere bei der EKG-Diagnostik und Kommunikation, für NA gefordert. Eine Qualifikation des Personals im Bereich des Crew-­Ressource-Managements wird für notwendig erachtet, um eine Qualitätsverbesserung bei einer TNA-­Einführung zu gewährleisten.

Die Frage nach dem idealen Arbeitsumfeld kann nicht abschließend beantwortet werden. Hierzu müssten die jeweiligen Kosten für die drei angeführten Örtlichkeiten evaluiert werden. Jedoch können in einer engen Verzahnung mit der Leitstelle Vorteile für die Prozessqualität gesehen werden, denn die Leitstelle kann als „Knotenpunkt der Informationssammlung“ angesehen werden. Die Befragten sehen durch den TNA jedoch wenig Mehrwert bei der eigentlichen Patienten­anmeldung in den Kliniken. Es könnte sogar durch die TNA als eine weitere Stelle im Anmeldeprozess zu weiteren Verzögerungen und Problemen kommen.

Diskussion

Somit werden die Notwendigkeiten nach einer sicheren infrastrukturellen Anbindung bei der Konzeption von TNA-Systemen durch die Befragung erhärtet. Neben der Sicherstellung der technischen Kommunikation muss ebenso die persönliche Kommunikation – insbesondere wegen des fehlenden persönlichen Kontakts bei der Unterstützung durch TNA – beachtet werden. Hierzu könnten neben der in der Literatur erwähnten Schulung des beteiligten Personals noch weitere Maßnahmen zum Crew-­Ressource-Management und zum wertschätzenden zwischenmenschlichen Umgang stattfinden. Auf diese Weise könnten die Qualität und Kompetenzen des eingesetzten ärztlichen und nichtärztlichen Personals gesteigert werden. 

Die von Felzen et al. (Leitung von TNA – Aachen) geforderten Qualifikationen für TNA werden im Allgemeinen durch die Expertenbefragung gestützt und sollten für zukünftige TNA-Projekte als Mindeststandard gelten. So erscheint es notwendig, dass TNA Fachärzte für Anästhesiologie sind, die über eine Erfahrung von mehr als 500 NA-Einsätzen verfügen sowie Zusatzfortbildungen für Reanimation, Traumaversorgung, usw. absolviert haben und die Zusatzbezeichnung Notfallmedizin tragen. Dem kann noch angefügt werden, dass zukünftige TNA besonders eine sichere EKG-Interpretation beherrschen sollten.

Die bisherigen Untersuchungen und Vergleiche zwischen der Behandlungsqualität in TNA-Systemen zeigen, dass diese mit konventionellen NA gleichwertig sind und die Delegation von ärztlichen Maßnahmen sicher und umsetzbar ist. Dies verlangt jedoch auch eine hohe Kompetenz des eingesetzten nichtärztlichen Personals, da dieses die angewiesenen Handlungen sicher ausführen und beherrschen muss.

Darüber hinaus kann ein TNA-System ebenfalls zu einer Verminderung von Patiententransporten in die ohnehin stark ausgelasteten Notaufnahmen der stationären Versorgung führen, da durch die telemedizinische Konsultation der Patient an die für die medizinische Versorgung effizienteste Stelle verwiesen oder überführt werden kann.

Neben den genannten Vorteilen sind ebenso die Herausforderungen für einen TNA-Einsatz zu erwähnen. Insbesondere muss eine Redundanz für ausgelastete TNA sichergestellt sein. Des Weiteren ist zu evaluieren, ob die hohe Qualität von TNA auch bei parallelen Einsätzen gewährleistet ist, oder wie stark die Prozessqualität bei der Bearbeitung von Duplizitätseinsätzen mit deren Anzahl gegebenenfalls abnimmt. Weiterhin ist es den TNA nicht möglich, manuelle Maßnahmen vor Ort durchzuführen und dadurch die NotSan direkt zu unterstützen, wobei eine solche Unterstützung vom nichtärztlichen Personal erwartet wird.

Grundsätzlich konnten durch die Expertenbefragung und die Studienlage folgende Tätigkeitsschwerpunkte für TNA herausgearbeitet werden, die zu einer Verbesserung der Qualität in der Präklinik führen können:

  • Unterstützung und rechtssichere Entscheidung bei Transportverweigerungen
  • Rechtssichere Anweisung von Opiaten bei der Medikamentenapplikation
  • Supervision bei schwierigen Entscheidungen
  • EKG-Diagnostik, insbesondere bei STEMI-Verdacht
  • Unterstützung bei der Einsatzorganisation in besonderen Fällen
  • Maßnahmendelegation, die über Algorithmen für das nichtärztliche Personal hinausgehen

Zusammenfassung und Ausblick

Um bei präklinischen lebensbedrohlichen Notfällen eine ärztliche Expertise schneller zur Verfügung stellen zu können und die Ressource der NA zu schonen, wurde in einigen telemedizinischen Projekten ein TNA eingeführt und diese Versorgungsform evaluiert. In diesen Studien wurden oft Teilbereiche untersucht, die durch eine TNA-Einführung beeinflusst wurden. Jedoch wurde weder abschließend geklärt, ob die Qualität durch TNA positiv beeinflusst wird, noch welche Ausgestaltungsmerkmale eines TNA-Systems am besten geeignet erscheinen. 

Auf Grundlage der Experteninterviews kann die Frage nach einer Qualitätssteigerung in allen drei Dimensionen positiv beantwortet werden. Jedoch sollten bei der Konzeption und Einführung von TNA-Systemen die angeführten Kernelemente berücksichtigt werden. Demnach ist eine sichere infrastrukturelle Gestaltung ebenso unabdingbar wie eine durchgängige Organisation des Rettungsdienstes für den Einsatz von TNA. Darüber hinaus spielen sowohl die Qualifikation der beteiligten Berufsgruppen als auch die Kommunikation zwischen diesen eine Schlüsselrolle für einen langfristigen Erfolg des TNA-Systems.

Eine weitere, noch nicht abschließend geklärte Fragestellung betrifft den möglichen Ort des TNA-Arbeitsplatzes. Ein möglicher Indikator dafür könnte zum einen die Auslastung eines solchen TNA-Systems sein und analog zur Bedarfsplanung von Rettungsmittelnotwendigkeiten in Rettungsdienstbereichsplänen berechnet werden. Zum anderen muss bei ortsungebundenen TNA die technische Verbindung gewährleistet sein. Ebenso sollten, falls der TNA in einer Klinik ansässig ist, die personellen Ressourcen sichergestellt sein und von Einplanungen in andere klinische Bereiche abgesehen werden.

Unabhängig davon sollte die gleichzeitige Nutzung der verschiedenen Mobilfunknetze für ein TNA-System obligatorisch sein, um eine möglichst sichere Verbindung zwischen Einsatzstelle und TNA zu gewährleisten und die Bandbreite der Datenübertragung zu maximieren. Abschließend sollte die rechtliche Situation der TNA überprüft und bei Bedarf geregelt werden, damit es für das eingesetzte Personal zu keinen Unsicherheiten bei der Delegation oder Durchführung von Maßnahmen kommt. Es sollte eine gesetzliche Verankerung von Delegationen an nichtärztliches Personal und anderen Tätigkeiten der TNA stattfinden.


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