PSNV: Bedürfnisse von Kindern noch kaum erforscht

Melanie Prüser

PantherMedia /Bambulla

Das Forschungsprojekt "Kind und Katastrophe" (KIKAT) widmet sich den aufgeworfenen Fragen mit dem Ziel, wissenschaftlich fundierte Antworten darauf zu geben, welche Unterstützungsangebote für Kinder und Jugendliche in der akuten Phase komplexer Gefahren- und Schadenslagen hilfreich sind und vorgehalten werden können. Im Interview mit CP zieht Professor Karutz eine Bilanz nach Abschluss des Projektes.

CP: Gibt es einen generellen Konsens bei den Erfahrungen der in der PSNV tätigen Kollegen?

Prof. Karutz: Ja, den gibt es. Einig sind sich alle Befragten darin, dass größere Schadenslagen mit vielen Kindern sehr belastende, herausfordernde Ereignisse sind, auf die eine intensive Vorbereitung erfolgen muss. Einigkeit besteht auch in den Handlungszielen für die psychosoziale Akuthilfe: Es muss darum gehen, den individuellen Bedarfen und Bedürfnissen von Kindern gerecht zu werden. Dazu gehört insbesondere, Schutz und Sicherheit zu vermitteln, kindgerechte Informationen zu vermitteln, die Selbstwirksamkeit zu stärken und vor allem auch die erwachsenen Bezugspersonen so rasch wie möglich einzubeziehen.

Bestimmte Probleme werden ebenfalls von fast allen Kolleginnen und Kollegen gleich eingeschätzt: Beispielsweise ist es unglaublich schwierig, Kinder und ihre Familien an weiterführende Hilfen zu vermitteln. Psychosoziale Akuthelfer, also Notfallseelsorger oder die Mitglieder von Kriseninterventionsteams, sind nur in den ersten Stunden und Tagen zuständig. Mehr kann - gerade im Bereich des Ehrenamtes - auch kaum geleistet werden. Unterstützungsangebote sind aber oftmals über einen längeren Zeitraum angebracht. Hier haben wir in Deutschland wirklich ein strukturelles und auch ein Ressourcenproblem.


Betreuung vor Ort durch Notfallsanitäter
Betreuung vor Ort durch Notfallsanitäter
Quelle: Bildagentur PantherMedia / Arne Trautmann

CP: Wie kann pädagogisch ausgebildetes Personal im Notfallmanagement sinnvoll unterstützend in Deutschland eingesetzt werden?

Prof. Karutz: Durch unsere Studie können wir recht gut belegen, dass Notfallseelsorger und Kriseninterventionsteams mit hohem Engagement richtig gute Arbeit leisten. Uns ist aber auch deutlich geworden, dass die etablierten Systeme und Akteure der PSNV bei größeren Unglücksfällen mit vielen beteiligten Kindern rasch an ihre Leistungsgrenze kommen. In diesen Fällen wird man zunächst einmal auf überregionale Zusammenarbeit angewiesen sein. 

Darüber hinaus schlagen wir in der Tat vor, Ergänzungs- und Verstärkungskräfte auszubilden, gerade für länger andauernde Schadenslagen wie z. B. Evakuierungssituationen oder eine Überschwemmung. In den USA gibt es „disaster child care volunteers“. Das sind überwiegend Kräfte aus dem Erziehungs- und Bildungsbereich, die eine notfallbezogene Zusatzausbildung absolviert haben. Ihre Aufgabe besteht darin, Kindern und Jugendlichen in Notunterkünften durch ganz einfache Maßnahmen der Psychischen Ersten Hilfe Halt und Sicherheit zu vermitteln. Pools von solchen Fachkräften könnte ich mir für größere Lagen auch in Deutschland vorstellen. Natürlich müssen sie dann auch in Einsatzpläne eingebunden sein, d. h. sie müssen "alarmierbar" sein, sie müssen im Bedarfsfall tatsächlich zur Verfügung stehen. Sie müssen zügig zur Einsatzstelle kommen können usw.


CP: Was wäre Ihr Vorschlag, um die Betreuungslücke nach dem Schadensereignis zu verhindern?

Prof. Karutz: Neben der Ausbildung von Ergänzungs- und Verstärkungskräften sollten aus unserer Sicht „Brückenfunktionen“ geschaffen werden. Wir benötigen Hilfsangebote, die mittelfristig verfügbar sind: Dann, wenn die psychosoziale Akuthilfe nicht mehr greift, ein Therapieangebot aber längst noch nicht verfügbar ist. Im Ruhrgebiet wird gerade ein entsprechendes Pilotprojekt geplant, bei dem Kinder und ihre Familien noch bis zu einem Jahr lang psychosoziale Unterstützungsangebote erhalten sollen – bis hin zur Vermittlung in eine Traumatherapie, sofern diese erforderlich ist. In München wird ein ähnliches Konzept bereits seit einigen Jahren sehr erfolgreich umgesetzt. 


CP: Wirft eine Versorgung in dem Zwischenraum von Ereignis und Therapie neue Probleme auf? Stichwort: Fachkräftemangel beim Ehrenamt?

Prof. Karutz: Die mittelfristige Begleitung von Kindern und ihren Familien gehört definitiv nicht mehr zu den Aufgaben psychosozialer Akuthelfer, die ihren Dienst überwiegend ehrenamtlich leisten. Da sollte auch eine klare Grenze gezogen werden: Hier sind wir in einem Bereich, der von hauptamtlichen Kräften abgedeckt werden muss. Fraglich ist, wie solche Hilfsangebote dauerhaft bezahlt werden können. Die angesprochenen Projekte im Ruhrgebiet und in München werden aus Spenden und Stiftungsmitteln finanziert. Das ist im Grunde genommen aber unbefriedigend. 

Aus meiner Sicht handelt es sich auch bei sämtlichen psychosozialen Versorgungsangeboten nach Unglücksfällen um öffentliche Daseinsvorsorge und Angebote der Gesundheitsförderung. Daraus sollten sich eigentlich ganz andere Finanzierungskonzepte ableiten lassen. 

CP: Wie lange sollte die PSNV angeboten und aktiv verfolgt werden?

Prof. Karutz: Psychosoziale Notfallversorgung soll Betroffene dabei unterstützen, mit belastenden Erfahrungen angemessen umzugehen und so zu bewältigen, dass man mit ihnen weiterleben kann. Möglichst ohne, dass der Alltag dauerhaft überschattet wird und ohne, dass sich Traumafolgestörungen entwickeln. Welche Unterstützung konkret erforderlich ist, um diese Ziele zu erreichen, lässt sich pauschal jedoch nicht sagen. Wir wissen von Kindern, die zwar ein heftiges Unglück miterlebt haben, aber relativ gut damit zurecht gekommen sind und keinerlei negativen psychosozialen Ereignisfolgen davon getragen haben. 

Manche Kinder sind erstaunlich resilient, das heißt, sie verfügen über eine ausgeprägte Widerstandskraft. Zugleich haben wir Familien interviewt, in denen auch Monate nach einem Terrorakt noch ein absoluter Ausnahmezustand geherrscht hat. Eine Rückkehr zum Alltag war dort noch immer in weiter Ferne. Genau das kann aber auch wieder damit zu tun gehabt haben, dass diese Familien eben kaum Unterstützung bekommen haben und weitgehend auf sich allein gestellt geblieben sind. 

Wie mit Belastungsreaktionen umgegangen werden kann; welches Verhalten gegenüber einem psychisch hoch belasteten Kind hilfreich ist und welches nicht: Dazu hatten diese Familien nach dem Ereignis keinerlei Informationen bekommen. Und Traumatherapeuten sind über einen langen Zeitraum schlichtweg nicht verfügbar gewesen. Im Durchschnitt warten traumatisierte Kinder in Deutschland 17 Wochen, bis sie eine entsprechende Therapie beginnen können – das ist absolut unbefriedigend.


CP: Wie schätzen Sie die Entwicklungen für die Zukunft ein?

Professor Dr. Harald Karutz
Professor Dr. Harald Karutz
Quelle: Professor Dr. Harald Karutz

Prof. Karutz: Die Psychosoziale Notfallversorgung ist erst in den vergangenen 20 Jahren entstanden und hat sich in dieser kurzen Zeit enorm entwickelt. Inzwischen gibt es fast flächendeckend Hilfsangebote für Betroffene. Aufbauend auf den etablierten Strukturen sollte jetzt noch an einigen Stellschrauben gedreht werden, um die Versorgung weiter zu verbessern. Aus meiner Sicht gibt es noch viele Details, die optimiert werden können. Die Ausbildung von Einsatzkräften, die Etablierung von Elternkoordinatoren an größeren Einsatzstellen, die Schaffung von Fort- und Weiterbildungsangeboten für Erzieher, Lehrkräfte und Eltern sowie die Einrichtung kinderfreundlicher Schutz- und Spielräume nach Großschadenslagen gehört dazu.

Insgesamt haben wir in unserem Projekt 63 Handlungsempfehlungen erarbeitet, die in den kommenden Jahren von Einsatzorganisationen, Kommunen, Bundesländern und dem Bund umgesetzt werden sollten. Ich bin aber auch zuversichtlich, dass dies geschieht: Das Interesse an unseren Forschungsergebnissen ist enorm. In den kommenden Monaten bieten wir zudem Workshops an, um die Überarbeitung von Einsatzkonzepten zu unterstützen. Insofern bin ich fest davon überzeugt, dass die PSNV für Kinder und Jugendliche jetzt noch einmal einen deutlichen Entwicklungsschub bekommt.

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