Medizinische Sauerstoffversorgung in der Notfallmedizin

Timothy J. Boulton

Fritz Stephan

Im späten achtzehnten Jahrhundert wurde das zweithäufigste Element der Erde, Sauerstoff, von den Wissenschaftlern Priestley und Scheele entdeckt und beschrieben. Die erste dokumentierte Anwendung von Sauerstoff in der Human­medizin erfolgte ein Jahrhundert später, im Jahr 1885, als ein Patient mit Pneumonie behandelt wurde. Der lebensnotwendige Sauerstoff ist mit einem Anteil von 20,9 % einer der Bestandteile unserer Umgebungsluft. Fast alle Lebewesen benötigen Sauerstoff zum Leben, der allerdings in hohen Konzentrationen für die meisten Lebewesen giftig ist.


Sauerstoff in der Medizin

Sauerstoff ist das im Krankenhaus am meisten verwendete Arzneimittel. Verletzungen und viele Erkrankungen der Lunge sowie einige Herzkrankheiten und insbesondere Schockzustände können zu einem Sauerstoffmangel (Hypoxie) in den Schlagadern (Arterien) und im Gewebe lebenswichtiger Organe führen. Aus diesem Grund wird Patienten in der Notfall- und Intensivmedizin sehr häufig zusätzlicher Sauerstoff verabreicht. Bei selbstständig atmenden Patienten wird die Umgebungsluft mithilfe verschiedener Sonden und Masken mit Sauerstoff angereichert, bei künstlich beatmeten Patienten wird der Sauerstoff im Beatmungsgerät zugemischt. Der Effekt der Sauerstoffanreicherung im Blut ist mithilfe der Pulsoxymetrie oder anhand von Blutgasanalysen messbar. 

Sauerstoff-Standards

Für die medizinische Anwendung wird die Qualität in zwei Monografien im europäischen Arzneibuch beschrieben. Beim konventionellen, kryogenen Herstellungsverfahren (Oxygenium, Monografie 417) wird der Sauerstoff industriell durch fraktionierte Destillation aus verflüssigter Luft gewonnen. Dieser Sauerstoff wird entweder flüssig in Tanks oder gasförmig in Druckgasflaschen geliefert. Flüssigsauerstoff (LOX) wird in die zentrale Gasversorgungsanlage des Krankenhauses eingespeist. Sauerstoff in Druckgasflaschen findet sowohl bei der Versorgung von zentralen Gasanlagen als auch bei mobilen medizinischen Versorgungseinheiten zur Erstbehandlung Anwendung.  

Mit einem alternativen Verfahren wird medizinischer Sauerstoff als ‚Konzentratorsauerstoff‘ vor Ort durch Druckwechseladsorption an einem Molekularsieb hergestellt (Oxygenium 93 per centum, Monografie 2455) und bedarfsgesteuert in die zentrale Gasversorgungsanlage eingespeist oder mittels ölfreiem Sauerstoff-Hochdruckverdichter in Druckgasflaschen abgefüllt. Bei diesem Verfahren entfällt die Lieferkette. Es wird lediglich elektrischer Strom und Umgebungsluft benötigt. 

Internationale Normen definieren daher zwei Arten von Sauerstoff zur medizinischen Verwendung: Sauerstoff 93 % und Sauerstoff 99,5 % (EU, in den USA 99,0 %). Der einzige Unterschied bei der Definition beider Produkte ist die Konzentration des Sauerstoffs selbst. Arten und Mengen der erlaubten Fremdstoffe sind bei USP und PH.EUR gleich.

Trotz Einführung von konzentratorbasierten Versorgungssystemen Ende der 1960er Jahre gibt es noch immer Diskussionen über Vor- und Nachteile der verschiedenen Sauerstoffkonzen­trationen. Der Grund hierfür sind hauptsächlich unterschied­liche wirtschaftliche Interessen.

Luftaufnahme vom EGV neben der Fregatte Lübeck.
Luftaufnahme des EGV (Einsatzgruppenversorger) Berlin neben der
Fregatte Lübeck, beide Bundesmarine.
Quelle: Bundesmarine

Sauerstoffanwender

Viele Jahrzehnte lang wurde konzentrierter Sauerstoff zur medizinischen Verwendung aus zentralisierten Quellen bezogen. Der Transport des Produkts zum Einsatzort erforderte immer eine geeignete Logistik zur Gewährleistung von Sicherheit sowohl der Versorgung als auch des Transports und der Lagerung des potenziell gefährlichen Flüssig- oder Hochdrucksauerstoffs. 

Ein Ergebnis dieser logistischen Herausforderung ist, dass die Versorgung unsicherer und der Preis höher wird, je schwieriger sich der Transport gestaltet. 

Diese Schwierigkeiten können durch äußere Einflüsse wie Geografie, Infrastruktur, politische Situation oder Konflikte und Kriege noch verstärkt werden. 

Seit der Einführung von konzentratorbasierten Sauerstoff-Versorgungssystemen vor vier Jahrzehnten ist die Technik zunehmend kompakter und effizienter geworden. 

Wegen der beschriebenen logistischen Herausforderungen sind heute Sauerstoffkonzentratoren die Basis der medizinischen Versorgung der Streitkräfte auf der ganzen Welt. Diese Versorgung reicht von kleinen Geräten für den Einsatz an vorderster Front bis hin zu fest verbauten Anlagen in Krankenhäusern und auf Schiffen der Marine. Die Bundeswehr nutzt bereits Konzentratorsauerstoff, sowohl im Grundbetrieb, im Einsatz und der Einsatzfolgeversorgung, auf Schiffen der Marine und in Patiententransportmitteln. Die Versorgung der BW ISAF-Truppen in Afghanistan wird seit 2006 ausschließlich auf dieser Basis gesichert.

Auch in der Notfall- und Rettungsmedizin wird zunehmend auf Konzentratoren zur unabhängigen Sicherung der medizinischen Sauerstoffversorgung zurückgegriffen. Die heute gültigen Investitionsrichtlinien der Weltgesundheitsorganisation (WHO - “­Guide to Infrastructure and Supplies at Various Levels of ­Healthcare Facilities”) empfehlen, die Sauerstoffversorgung auf diese Basis zu stellen.

Ein Sauerstoffkonzentratoren-Container in Modulform.
Sauerstoffkonzentratoren-Container in Modulform für ein ziviles
Krankenhaus in Accra/Ghana.
Quelle: Fritz Stephan

Klinische Erfahrung

Die breite internationale Akzeptanz von konzentratorbasierter Sauerstoffversorgung Anfang der 1990er Jahre führte zu einer Vielzahl an Veröffentlichungen zu klinischen (und wirtschaftlichen) Folgen der Verwendung von Sauerstoff 93 % in der Medizin.

Die umfassendste Untersuchung der klinischen Erfahrungen mit Sauerstoff 93 % wurde 1996 in Kanada durchgeführt, wo Geographie und Infrastruktur (große Entfernungen/dünne Besiedlung) schon immer eine große Herausforderung für eine verlässliche Sauerstoffversorgung in der Medizin darstellten. Der erklärte Zweck war es, zehn Jahre Erfahrung bei der Verwendung von Sauerstoffkonzentratoren zu dokumentieren. Die Bewertung der Behandlung von über 300.000 Patienten kam zu dem Schluss, dass “die Installation eines Sauerstoffkonzentrators … eine sichere, verlässliche, kostengünstige Primärquelle für die Sauerstoffversorgung einer Klinik bietet.”

Die klinische Erfahrung bei Sauerstoffkonzentration in Höhenlagen wurde ausführlich in der Veröffentlichung „General Anaesthesia: The oxygen concentrator is a suitable alternative to oxygen cylinders in Nepal” im Jahr 2001 beschrieben, bei dem die erfolgreiche Behandlung von über 4.000 Fällen dokumentiert wurde.

Eine Benchmark-Studie zu den Auswirkungen der Verwendung von zwei verschiedenen Sauerstoffkonzentrationen bei der tatsächlichen Sauerstoffzufuhr durch ein Beatmungsgerät, ebenfalls in Kanada im Jahr 2010 durchgeführt, kam zu dem Schluss, dass “... es keine klinisch relevanten Unterschiede zwischen den Geräteeinstellungen und der tatsächlich gemessenen Sauerstoffkonzentration bei Verwendung eines Sauerstoffkonzentrators als primäre Versorgungsquelle gibt“.

Vor Kurzem schlossen führende deutsche Experten auf dem Gebiet der Anästhesie und der Intensivmedizin, dass „ ….der Verwendung von Sauerstoff 93 in deutschen Krankenhäusern keine medizinischen Einwände entgegen [stehen]..“. Das deutsche Militär bestätigt dies durch die Erfahrungen mit Sauerstoff 93 %, der seit 1995 im Einsatz ist: “ ... In der bisherigen Praxisanwendung hat sich der Unterschied von einer 93 %- zu einer 100 %-Konzentration nicht bemerkbar gemacht oder einschränkend gewirkt. Eine Störung von betriebenen Respiratoren durch die Verwendung von Sauerstoff-Konzentratoren bestand bisher ebenso nicht. Aus wehrmedizinischer Sicht ist der Einsatz von Sauerstoff-Konzentratoren nicht nur bei der Bundeswehr etabliert und nahezu unverzichtbar”.

Dies sind nur einige Beispiele von vielen Studien, die zum Thema Sicherheit und Wirtschaftlichkeit bei der Verwendung von Sauerstoffkonzentratoren als primäre Sauerstoffversorgungsquelle sowohl in Industrie- als auch in Entwicklungsländern durchgeführt wurden. Sie zeigen, dass im Allgemeinen in Ländern, in denen die Gegebenheiten die Verfügbarkeit von Sauerstoff in flüssiger Form oder in Sauerstoffflaschen erfordern, der Einsatz von Sauerstoffkonzentratoren die Kosten der Sauerstoffversorgung um 25 % bis 75 % reduzieren und gleichzeitig die Sicherheit erhöhen kann. Für die Patientensicherheit ist es jedoch von höchster Wichtigkeit, dass diese Systeme alle international anerkannten Normen erfüllen.

Fazit

Das Produkt der konzentratorbasierten Sauerstoffversorgungssysteme wird in der europäischen und in der US-amerikanischen Pharmakopöe als Sauerstoff 93 % +/- 3 % definiert. Die Erfahrungen von Ärzten/Spezialisten bestätigten, dass kein nachgewiesener Unterschied bei den klinischen Ergebnissen durch die Verwendung höchster Sauerstoffkonzentrationen erreicht werden kann.

Es gibt keine klinischen Nachweise, die zeigen, dass signifikante Verbesserungen bei Behandlungsergebnissen durch die Verabreichung von Sauerstoffkonzentrationen über 90 % erreicht werden können. 

Die heute akzeptierten Definitionen und Normen machen die Diskussion der medizinischen und technischen Notwendigkeit höherer Sauerstoffkonzentrationen überflüssig. 

Internationale Normenausschüsse arbeiten zurzeit an einer Aktualisierung ihrer Richtlinien für die Zweckbestimmungen von Medizinprodukten, um diese Tatsachen abzubilden. Mit der Fertigstellung dieser Verbesserungen werden weitere Diskussionen zur Verwendung von Sauerstoff aller Konzentrationen beendet.

Konzentratorbasierte Systeme gelten heute als wirtschaftliche Alternativquelle für unabhängigen Sauerstoff medizinischer Qualität ohne die Probleme der Lieferkette und die mit einer Zentralversorgung verbundenen Risiken.

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