Nicht nur die installierte Technik entscheidet in einer Leitstelle über Einsatzerfolge, sondern vor allem die Arbeit im Team ist mitverantwortlich dafür, ob Einsätze effektiv und immer zum Wohle des oder der Betroffenen abgewickelt werden. Gravierende Veränderungen in der Leitstellenarbeit, wie z. B. die Gabe von Hilfehinweisen im Notrufdialog oder wachsende Leitstellengrößen mit immer mehr Disponenten in einem Betriebsraum, erfordern auch ein Umdenken in den Kommunikationsstrukturen. Es gilt vor allem, Kommunikationsstrategien zu etablieren, die die Arbeit im Team strukturieren, den ständigen Informationsaustausch sicherstellen und die optimale Einsatzabwicklung garantieren. Denn der größte Teil aller (Entscheidungs-) Fehler wird durch den Menschen verursacht werden.
Die Arbeit in einer Leitstelle der Behörden und Organisationen mit Sicherheitsaufgaben ist bei vielen Einsatzlagen von einem hohen Entscheidungsdruck und einer hohen Entscheidungsdichte geprägt. Die zu treffenden Entscheidungen basieren meist auf einer dünnen Informationsdecke, wobei die Angaben auch noch von einem feuerwehrtechnischen, medizinischen oder polizeilichen Laien per Telefon kommuniziert werden. Kritische und komplexe Situationen treten in der Regel geballt auf. Nach einer Phase der Ruhe wird es plötzlich hektisch, dann flaut das Einsatzaufkommen genauso schnell wieder ab. Aber exakt in den Phasen der Anspannung kommt es auf den gezielten Austausch von Informationen im Team an. Heutzutage kann ein einzelner Disponent unmöglich alle Fakten und Abläufe im Kopf haben, sowie diese dann aus dem Gedächtnis korrekt reproduzieren und fehlerfrei abwickeln.
Problemlösungen befinden sich immer im Raum
Fehlentscheidungen in der Leitstelle haben nicht nur Auswirkungen auf die Leitstelle selbst. Sie bereiten nachhaltige und meist nicht mehr nachträglich kompensierbare Probleme bei der Abwicklung der Einsatzlage. Ein typisches Beispiel dafür sind fehlerhafte Alarmierungen, insbesondere bei Fällen, in denen zu wenig Einsatzmittel und Einsatzkräfte eingesetzt werden. Die verlorene Zeit ist nicht mehr einholbar, wichtige und vielleicht auch lebensrettende Maßnahmen sind aufgrund fehlender Geräte oder nicht ausreichenden Personals für die Lage nicht umsetzbar. Nachalarmierungen brauchen Zeit, die aber nicht zur Verfügung steht. War die Einsatzentscheidung des Disponenten falsch, bestünde jetzt die Möglichkeit, aus diesem Fehler zu lernen.
Vielleicht lag es einfach am Zusammenspiel des Teams in einer kritischen und komplexen Situation? Leider fehlen für Leitstellen der BOS tragfähige Untersuchungen und Aussagen zu den Themen „Lernen aus Fehlern“ und „Teamkommunikation“. Heute gehört die Leitstelle eindeutig in den Bereich der Organisationen, die bei hohem potenziellem Risiko besonders zuverlässig und achtsam handeln müssen, sogenannte Hochsicherheits-Hochrisiko-Organisationen, oft auch als „High Reliability Organisations (HRO)“ bezeichnet. Zu den HRO zählen zum Beispiel auch Notaufnahmen, der OP-Bereich eines Krankenhauses oder Piloten eines Verkehrsflugzeuges. Aus all diesen Bereichen ist bekannt, dass bis zu 70 % der Fehler auf Probleme im Bereich der „Human Factors“ zurückzuführen sind. Sowohl die Medizin als auch die Luftfahrt haben daraus die Erkenntnis gewonnen, dass die Teamkommunikation maßgeblich am Erfolg oder Misserfolg einer Handlung beteiligt ist und entsprechende Konsequenzen für Ausbildung und regelmäßiges Teamtraining, auch mit Simulationen, gezogen.
Was ist CRM?
Am 28. Dezember 1978 um 17:14 Uhr Ortszeit befindet sich der United Airlines Flug 173, eine Douglas DC-8-61, von New York (JFK) kommend, im Landeanflug auf den Flughafen von Portland im Bundesstaat Oregon. Zu diesem Zeitpunkt verfügt die Maschine noch über Kraftstoffreserven für etwa 60 Minuten Flugzeit. Nach Ausfahren des Fahrwerks stellt der Pilot fest, dass nur eine der drei grünen Fahrwerksanzeigen leuchtet. Dieses Problem geht einher mit einem undefinierten Rumpeln im Fahrwerkschacht. Das Flugzeug kreist in der Nähe des Flughafens Portland, während die Mannschaft versuchte das bestehende Problem zu analysieren. Um 18:15 Uhr geht dem Flugzeug der Kraftstoff aus und es stürzt in einem dünn besiedelten Gebiet ab. Es sterben 10 Passagiere und 24 der 189 Insassen werden schwer verletzt. Die Untersuchung ergibt, dass das Fahrwerk vollständig ausgefahren war und lediglich zwei Geber der Kontrollleuchten beschädigt wurden. Eine Landung wäre ohne Probleme möglich gewesen.
Gefesselt durch das angebliche Fahrwerksproblem beschäftigte sich die gesamte Crew, bestehend aus zwei erfahrenen Piloten und einem Bordtechniker, mit der Fehlersuche und vergaß die regelmäßige Kraftstoffkontrolle. Ein folgenschwerer und vermeidbarer Unfall, der dazu führte, dass die Kommunikation im Cockpit auf den Prüfstand gestellt und in Regeln gefasst wurde. Im Jahre 1978 entstanden die ersten Ansätze des „Crew Ressource Management“, das sich wie folgt zusammensetzt.
Crew: Der Begriff „Crew“ bezeichnet zunächst einmal die Besatzung eines Transportmittels, aber ist auch anwendbar auf das Team in der Leitstelle, ebenso wie in der Medizin.
Ressource: Ressourcen sind alle Personen, Geräte und Verfahren, die zum Schutz und Wohl des Patienten, in der Leitstelle zur optimalen Abwicklung eines Einsatzes eingesetzt werden können. Dabei ist die eigene (!) Person ebenso wichtig wie alle Teammitglieder. In diesem Sinne geht CRM über das reine Team Management hinaus.
Management: Das Management dieser Ressourcen auf hoher kognitiver Ebene unter den Bedingungen eines Zwischen- oder Notfalles wird dann als CRM bezeichnet. Methoden des CRM, unter Routinebedingungen angewandt, tragen zur primären Vermeidung von Zwischenfällen oder unnötiger Stressbelastung bei der Einsatzbearbeitung bei.
Auch für die Arbeit in Leitstellen ist anzunehmen, dass die Optimierung der Zusammenarbeit im Team und die Reflektion eigener Verhaltensweisen in kritischen und komplexen Situationen zu spürbar besseren Einsatzentscheidungen führen dürfte. Noch fehlen eindeutige Messgrößen, jedoch wären Techniken und Verfahren, welche die menschliche Zuverlässigkeit fördern und damit helfen die „menschlich bedingten“ Fehler zu reduzieren, bereits in einer Leitstelle einsetzbar.
CRM zu leben und anzuwenden bedeutet, das Wissen, was getan werden muss, auch unter den ungünstigsten und unübersichtlichsten Bedingungen der Realität eines Zwischenfalls, in effektive Maßnahmen mit einem Team umzusetzen.
CRM-Leitsätze
Die Autoren Rall & Gaba (in Miller 7th Edition 2009 ff ) veröffentlichten 15 CRM-Leitsätze die nachfolgend, leicht auf die Verhältnisse in einer Leitstelle angepasst, dargestellt sind. Diese Grundsätze sind geeignet, die Teamkommunikation in der Leitstelle zu trainieren, auszuwerten und auch in der täglichen Einsatzrealität einzusetzen.
CRM-Leitsätze (nach Rall & Gaba in Miller 7th Ed. 2009)
- Kenne Deine Arbeitsumgebung (Technik und Organisation)
- Antizipiere und plane voraus
- Fordere Hilfe an – lieber früh als spät
- Übernimm die Führungsrolle oder sei ein gutes Teammitglied mit Beharrlichkeit
- Verteile die Arbeitsbelastung (10-für-10-Prinzip)
- Mobilisiere alle verfügbaren Ressourcen (Personen und Technik
- Kommuniziere sicher und effektiv – sag was Dich bewegt
- Beachte und verwende alle vorhandenen Informationen
- Verhindere und erkenne Fixierungsfehler
- Habe Zweifel und überprüfe genau (Double check; nie etwas vermuten)
- Verwende Merkhilfen und schlage nach
- Re-evaluiere die Situation immer wieder, wende das 10-für-10-Prinzip an
- Achte auf gute Teamarbeit, andere unterstützen und sich koordinieren
- Lenke Deine Aufmerksamkeit bewusst (Situation awareness)
- Setze Prioritäten dynamisch
Um diese CRM-Leitsätze mit Leben und Sinnhaftigkeit zu erfüllen, sind neben der intensiven Beschäftigung damit, vor allem praktische Übungen und die regelmäßige Anwendung notwendig. Die meisten der CRM-Prinzipien können am besten während realitätsnaher Leitstellensimulationen aufgezeigt und geübt werden. Denn speziell in kritischen und komplexen Situationen wird das Management der eigenen Fähigkeiten und des Teams besonders wichtig und damit für das Erkennen und Üben zugänglich. Wichtig ist auch, dass die Idee des CRM deutlich über das reine Teammanagement oder die Optimierung der Kommunikation hinausgeht. CRM enthält seit jeher neben den Team- und Kommunikationselementen auch wichtige Komponenten zur Optimierung der eigenen kognitiven Fähigkeiten. Dies betrifft unter anderem den Umgang mit Komplexität, Aufmerksamkeitsverteilung und die Vermeidung typischer „Human Errors“, wie z. B. möglicher Fixierungsfehler.
CRM-Training in der Leitstelle
Innerhalb der jährlichen Leitstellenfortbildung führen die Autoren mit dem Team der kooperativen Regionalleitstelle Nord, Harrislee mehrere „CRM-Trainings“ mit leitstellenspezifischen Ansätzen durch. Das Training erfolgt auf der Basis definierter Szenarien an ausgelagerten Einsatzleitplätzen in den Datensätzen des Einsatzbereiches, sodass das Arbeitsumfeld aus der täglichen Einsatzpraxis bekannt ist. Oberhalb der Betriebstische wurde eine Videoanlage (4 Eingangskanäle) installiert, die zum einen jeden Disponenten und zum anderen den gesamten Raum aufzeichnete.
Die Abnahme des Tons erfolgt über Sendermikrofone, die wiederum über einen Audiomischer zu jedem Videokanal gegeben wurden. Sowohl Video – als auch die Audioinformationen können im Nebenraum und im Schulungsraum live mitverfolgt werden. Die Einspielung der Szenarien erfolgt durch drei Teilnehmer aus einem gesonderten Raum, der normalerweise zur Notrufannahme bei Sonderlagen eingerichtet wurde. Die Regie übernimmt ein geschulter Simulationstrainer, der auch die Auswertung der Sequenzen moderiert. Mittlerweile wurden alle Schichtleiter und Praxisanleiter zu Simulationstrainern ausgebildet.
Anschließend werden die dokumentierten Abläufe mit Hilfe der Videosequenzen anhand der CRM-Leitsätze systematisch ausgewertet (selbstreflektiertes Lernen). Nach Abschluss des Trainings lässt sich jedes Mal feststellen, dass die Anwendung der CRM-Leitsätze in der täglichen Einsatzabwicklung hilfreich ist. Allerdings löst erst die filmische Unterstützung den erforderlichen Lernimpuls aus. Nur die videogestützte Auswertung bietet den Teilnehmern die Möglichkeit, sich selbst in komplexen und kritischen Situationen wahrzunehmen, zu analysieren und selbst Veränderungen im Verhalten vorzunehmen. Es darf in keinem Moment darum gehen, Teilnehmer vorführen zu wollen.
CRM-Umsetzung in der Leitstelle
Training ist ein guter Einstieg, aber wie kann die dauerhafte Anwendung in der Leitstelle sichergestellt werden? Daher das CRM keine angelernte Verhaltensweise ist und einen dynamischen Prozess darstellen soll, ist es idealerweise ein Stück gelebte Sicherheitskultur innerhalb der Leitstelle. CRM ist ein Prozess der Veränderung von Haltungen, Fähigkeiten und Wissen.
Viele der CRM-Leitsätze erfordern für deren Wirksamkeit in der Praxis ein Umfeld, in dem diese bekannt und breitflächig angewandt werden. Ein einzelner Mitarbeiter wird in der unter Umständen starren, hierarchisch verkrusteten Personalstruktur einer Leitstelle die CRM-Leitsätze allein nicht auf den Boden der Leitstellenrealität bringen. Andere Mitarbeiter müssen diese CRM-Prinzipien ebenso verstehen und versuchen umzusetzen. Idealerweise trifft CRM auf eine positive Sicherheitskultur mit starkem Engagement von Seiten der Leitstellenleitung. Erst wenn die Entscheidungssicherheit und die Entscheidungsqualität in der Leitstelle zu den wichtigsten Zielen allen Handelns werden und höchste Priorität genießen, kann man vom Beginn einer positiven Sicherheitskultur sprechen. Außerdem sollte die Förderung besserer Teamarbeit und Kommunikation die Regel sein. Davon sind wir in den Leitstellen leider noch ein wenig entfernt und es stellt sich sehr schnell die Frage nach dem „Warum“. Warum scheinen die CRM-Grundsätze in anderen „High Reliability Organisationen“ bereits gelebt zu werden, in den Leitstellen aber nicht? Das Bild "Vier Berufsgruppen" lässt erkennen, wo der wesentliche Unterschied in den vier Bereichen liegt.
Für den aufmerksamen Betrachter liegt die Lösung auf der Hand: drei der vier Berufsgruppen überleben ihre Fehler nicht, in der Leitstelle passiert das allenfalls dem Notfallpatienten, nicht aber dem Leitstellendisponenten. Es brennt nicht sein Haus bei einem zu geringen Mittelansatz ab, sondern meist das von fremden Menschen. Müssen Entscheidungen unter Zeitdruck getroffen werden, darf CRM keine „erlernte Technik“ sein. CRM muss gelebt und aus Überzeugung eingesetzt werden. Es darf kein Nachdenken erforderlich sein, um die Leitsätze anzuwenden, sondern es muss automatisch erfolgen. CRM als „automatisiertes Handlungskonzept“ ist das zu erreichende Ziel in jeder Leitstelle.
Literatur bei den Verfassern
Crisis Prevention 1/2020
Achim Hackstein
Leiter des kommunalen Teils der Kooperativen Regionalleitstelle Nord in Harrislee
Vorsitzender des Fachverbandes Leitstellen e. V.
Am Oxer 40
24955 Harrislee
Tel.: +49 (461) 999 30 530
achim.hackstein@leitstelle-nord.de
Michael Praetz
Rettungsdienst-Kooperation in Schleswig-Holstein (RKiSH) gGmbH
RKiSH-Akademie
Esmarchstr. 50
25746 Heide
m.praetz@rkish.de
Dr. med. Marcus Rall
Leitung InPASS - Institut für Patientensicherheit und Teamtraining GmbH
Friedrich-Naumann-Str. 13
72762 Reutlingen
Tel.: 07121 923807
E-Mail: institut@inpass.de