25.05.2022 •

Corona-Protestgeschehen in Nordrhein-Westfalen

Einschätzung des NRW-Verfassungsschutzes

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Der nordrhein-westfälische Verfassungsschutz hat die Protestbewegungen gegen die Corona-Schutzmaßnahmen und die entsprechenden Verschwörungsmythen seit März 2020 intensiv im Blick. Im Laufe der Zeit haben sich Teile der Protestbewegungen weiter radikalisiert, grenzen sich nach wie vor nicht vom Rechtsextremismus ab und zeigen zunehmend demokratiefeindliche Tendenzen. Dabei verfolgt die Szene allerdings kein deckungsgleiches gemeinsames ideologisches Weltbild. Bei den Demonstrationsteilnehmern handelt es sich vielmehr um eine überaus heterogene Gruppierung von Corona-Leugnern, Impfverweigerern, Verschwörungsmythikern, Esoterikern, vereinzelt bekannten Rechtsextremisten bis hin zu Personen aus der bürgerlichen Mitte mit ideologisch schwer greifbaren Argumentationsmustern. Insgesamt ergibt sich das Bild eines zersplitterten und in sich nicht geschlossenen Corona-­Protestmilieus mit einer teils widersprüchlichen politischen oder gesellschaftlichen Agenda.

Für den Verfassungsschutz sind in Nordrhein-Westfalen etwa 300 Personen relevant. Einige davon sind nicht nur Mitläufer, sondern als Aktivisten oder Verantwortungsträger bekannt. Sie tragen beispielsweise über öffentliche Auftritte und Beiträge wesentlich zur Organisation und zum Fortgang des Protestgeschehens bei. Zum Umfeld der Corona-Protestszene zählen allerdings tausende Personen.

Sowohl das Mobilisierungspotenzial als auch der Gegenstand der Proteste sind dabei immer eng an aktuelle politische Entwicklungen geknüpft. Die Diskussionen um eine mögliche Verschärfung der Corona-Schutzmaßnahmen sowie eine potenzielle Impfpflicht sind emotional hoch aufgeladen. Das hat in jüngster Zeit zu einer weiteren Radikalisierung innerhalb der Szene geführt. Besondere Sorge macht, dass nach wie vor Rechtsextremisten versuchen, auf die Szene Einfluss zu nehmen und es immer weniger Abgrenzungsreflexe in diese Richtung gibt. In Teilen der Szene sind Tendenzen zur Relativierung des Nationalsozialismus und des Holocaust erkennbar- Maßnahmen zur Bekämpfung der Pandemie werden mit dem Terror des NS-Regimes gleichgesetzt. Die fortschreitende Radikalisierung kann immer auch ein Nährboden für Gewalt sein.

Seit Dezember 2021 hat es eine Vielzahl von Protesten mit hohen Teilnehmerzahlen in Nordrhein-Westfalen gegeben, die bislang weitestgehend störungsfrei verlaufen sind. Auffallend dabei ist, dass sich häufig mehr Teilnehmerinnen und Teilnehmer beteiligt haben, als zuvor von den Organisatoren angegeben wurden. Eine deutliche Zunahme ist bei den unangemeldeten Demonstrationen feststellbar, die auch häufig mit sogenannten „Spaziergängen“ verharmlosend umschrieben werden. Teile des Corona-Protestmilieus entfernen sich von der Mehrheit der Gesellschaft. Mittlerweile nutzt Szene fast ausschließlich den Messenger-Dienst Telegram, um zu kommunizieren, sich untereinander zu vernetzen und die nächsten Demonstrationen zu planen.

Seit Anfang dieses Jahres gibt es vermehrt Gegenkundgebungen aus der bürgerlichen Mitte gegen die radikalisierten Corona-­Proteste. Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer dieser Demons­trationen fordern, die demokratischen Grundregeln einzuhalten – ohne Hass, Drohungen und Gewalt zu schüren und anzuwenden. Sie machen erfreulicherweise deutlich, dass Demokratie und Rücksichtnahme in der Pandemie gewahrt bleiben sollten.

Derzeit formieren sich eine Vielzahl von Kleinstgruppen, die sich überwiegend über soziale Medien vernetzen und auch überregional an Veranstaltungen von Impfgegnern teilnehmen. Der NRW-Verfassungsschutz prüft fortlaufend, ob es bei diesen Gruppierungen Überschneidungen mit der rechtsextremistischen Szene gibt. Alle rechtsextremistischen Gruppierungen greifen die Corona-­Proteste auf, mobilisieren dazu in den sozialen Medien und nehmen auch selber an Versammlungen teil. Aber sie haben bislang in der Regel keinen steuernden Einfluss. Dabei ist erkennbar, dass einige dieser Gruppierungen durch Verschleierungs­taktik zum Beispiel mit vorgeblicher Kapitalismuskritik versuchen, Aufmerksamkeit zu erzeugen, um darüber gesellschaftlich anschlussfähig zu werden.

Die Sicherheitsbehörden stellen darüber hinaus fest, dass aus der Protestszene die Bedrohungen gegen vermeintliche Befürworter der Corona-Schutzmaßnahmen zunehmen. Dazu rechnet die Szene insbesondere Politikerinnen und Politiker, Journalistinnen und Journalisten, sowie Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler. Vor allem Politikerinnen und Politiker werden immer wieder eingeschüchtert und bedrängt. Dies reicht von unangemeldeten Protesten vor den Wohnanschriften bis hin zu Einschüchterungen, Bedrohungen und Mordaufrufen. Neu ist, dass auch Ärztinnen und Ärzte immer öfter zum Feindbild stilisiert, angegriffen und bedroht werden. Letztere spielen deshalb eine besondere Rolle, weil sie sehr enge Kontakte zu den Bürgerinnen und Bürgern haben und sie Vertrauens- und Überzeugungspersonen sind.

Auf der anderen Seite gibt es aber auch Medizinerinnen und Mediziner, die sich an Desinformationskampagnen der Corona-Protestszene beteiligen. Im November vergangenen Jahres wurden in Köln zum Beispiel Flyer des Vereins „Mediziner und Wissenschaftler für Gesundheit, Freiheit und Demokratie e. V.“ gefunden. Diese Flyer greifen Argumente der Corona-Protest- und der Querdenker-Szene auf. So wird etwa behauptet, dass der Grund für die 2G-Regelung nicht die Bekämpfung der Pandemie sei, sondern, um „30 Millionen Ungeimpfte […] zur Impfung zu zwingen“. Weiter heißt es, die 2G-Regelung sei „eine besonders verwerfliche Art der Diskriminierung“, gleichgestellt mit „Rassismus“ und eine „Menschenjagd auf Ungeimpfte“. Dagegen solle man sich – so diese Gruppe – mit „allen zur Verfügung stehenden friedlichen Mitteln“ wehren. Die nordrhein-westfälischen Sicherheitsbehörden sehen und beobachten solche Initiativen sehr genau und stimmen sich insoweit eng mit dem Gesundheitsministerium ab.

Vor dem Hintergrund der dynamischen Entwicklung ist in den nächsten Wochen mit einem mindestens gleichbleibenden Zulauf für angemeldete und unangemeldete Protestveranstaltungen zu rechnen. Dabei müssen aktuelle politische Entscheidungen im Zusammenhang mit der Pandemie individuell miteinbezogen werden. Aufgrund solcher Entscheidungen können sowohl die Dynamik und Mobilisierung, als auch die Emotionalisierung stark zunehmen. Wir müssen damit rechnen, dass auch die festgestellte Radikalisierungstendenz von Einzelpersonen oder Kleinstgruppen weiter anhält. Situative gewalttätige Verläufe müssen immer einkalkuliert werden.

Der NRW-Verfassungsschutz erwartet, dass sich die gewachsene Corona-Szene immer wieder Themen suchen wird, mit denen sie die Gesellschaft beeinflussen und staatliche Institutionen delegitimieren will. Das könnten in Zukunft etwa hohe Strom- oder Spritpreise sein oder andere staatliche Maßnahmen zur Eindämmung des Klimawandels. Solche Krisen gepaart mit hohen Emotionen sind für die Corona-Protestszene ein idealer Nährboden, auch für Gewalt. Die Sicherheitsbehörden in Nordrhein-Westfalen werden die Lage weiter intensiv im Blick behalten, die Szene fortlaufend und aufmerksam beobachten und die Öffentlichkeit weiter darüber aufklären


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