Realitätsnahe Fahrausbildung

Reinhard Landmann

Matthias Kriegesmann

So wie jeder Verkehrsteilnehmer sollen auch Polizeibeamte ein Verkehrssicherheitstraining nach den Richtlinien des Deutschen Verkehrssicherheitsrats (DVR) absolvieren. Die Teilnahme an einem solchen Sicherheitstraining reicht nicht aus, um ein Einsatzfahrzeug auch in kritischen lagebedingten Situationen sicher zu beherrschen. 

Dies gilt besonders für Einsatzkräfte in besonderer Verwendung wie Spezialeinsatzkommandos (SEK), Mobile Einsatzkommandos (MEK) und Personenschutzkräfte der Bundes- und der Länderpolizeien sowie des Bundeskriminalamtes und der Feldjägertruppe der Bundeswehr. 

Diese Einsatzkräfte müssen zusätzlich in die Lage versetzt werden, auch unter extremer Einsatz- und Stressbelastung einsatzrelevante Gefahren rechtzeitig zu erkennen und mit dem Einsatzfahrzeug situationsbezogen und risikominimierend zu reagieren. 

Dieses Ziel kann jedoch nur durch eine realitätsnahe aufgabenorientierte Fahrausbildung erreicht werden, wenn innovative Trainingsfahrzeuge eingesetzt und dementsprechende Ausbildungsmethoden angewendet werden. Diesen Anforderungen entspricht das neuentwickelte patentierte Trainingsfahrzeug mit einlenkbaren Hinterrädern und optional mit ausfahrbaren Auslegern mit Stützrädern zur Verhinderung des Kippens oder Überschlagens in fahrdynamischen Grenzbereichssituationen „System Landmann-Joa‘‘. 

Der Experimentier- und Versuchstyp des Trainingsfahrzeuges wurde am 27. September 2013 einem fachkundigen Publikum und den Medien und am 18. März 2014 Lizenznehmern und Umsetzern des DVR-Sicherheitstrainingsprogramms auf dem Betriebsgelände der Armaturenfabrik Dornbracht in Iserlohn präsentiert. Während der Fachkonferenz der Deutschen Hochschule der Polizei zum Thema „Erneuerung der Polizeitechnik und -ausrüstung“ am 9. September 2014 in Leipzig wurde das Trainingsfahrzeug in einem Referat über „Neue Wege zur realitätsnahen Fahrausbildung“ vorgestellt. Der Prototyp des Trainingsfahrzeuges wird voraussichtlich Anfang 2016 fertig gestellt sein.

Fahrer, Fahrzeug, Straße

Der Fahrer als Risikofaktor 

Fahrer, Fahrzeug und Verkehrsumwelt bilden zusammen ein komplexes System, in dem Ereignisse und Risikofaktoren unterschiedlicher Generierung vernetzte Interaktionen herstellen. Sicherheitswert ist dabei die menschliche Zuverlässigkeit im Umgang mit der jeweils aktuellen Verkehrssituation und dem benutzten Fahrzeug. Geprägt ist diese Zuverlässigkeit des Fahrers durch Sicherheitsstandards und unterschiedliche Anforderungsprofile. 

Diese Anforderungsprofile sind Grundlage der allgemeinen Ausbildung, des Sicherheitstrainings und der aufgabenspezifischen Fahrausbildung für Fahrer in besonderer Verwendung. Zwischen diesen Anforderungsprofilen gibt es allerdings Sicherheitslücken, die in ihrer manchmal tödlichen Konsequenz bisher noch nicht vollständig beseitigt werden konnten. Zu nennen sind in diesem Zusammenhang beispielsweise das in fahrdynamischen Grenzbereichssituationen trotz elektronischer Stabilisierungsprogramme (ESP) plötzliche Ausbrechen und Schleudern eines Fahrzeuges. 

Sicherheitsverhalten des Fahrers 

Ein Fahrzeug bricht aus und schleudert. Unangepasste Kurvengeschwindigkeit, plötzliches Ausweichen oder schneller Spurwechsel – insbesondere auf glatter Fahrbahn – können dafür die Ursache sein. Der Fahrer verliert dadurch die Kontrolle über sein Fahrzeug. Ein Unfall bahnt sich an. Der Fahrer wird meistens vom Ausbrechen seines Fahrzeuges überrascht. Seine Fahrfertigkeiten reichen dann oftmals nicht aus, das Fahrzeug rechtzeitig abzufangen und unter Kontrolle zu bringen. Er ist auf das plötzliche Ausbrechen seines Fahrzeuges mental und fahrpraktisch nicht vorbereitet. Ihm fehlen Handlungsprogramme für die notwendigen Fahrmanöver, um korrigierend eingreifen zu können. 

In den letzten Jahren wurde vermehrt die Frage gestellt, was im Sicherheitstraining getan werden müsste, um einen Fahrer in die Lage zu versetzen, ein plötzlich ausbrechendes Fahrzeug abzufangen und wieder in einen stabilen Fahrzustand zurückzuführen. 

Fahrübungen um ein Auto auch in unerwarteten Situationen richtig handhaben zu...
Das rechte Stützrad hat Fahrbahnkontakt, der linke Ausleger mit Stützrad ist nicht ausgefahren. Die Hinterräder sind ferngesteuert eingelenkt.
Quelle: Matthias Kriegesmann

Realitätsnaher Trainingseffekt 

Mit dem von Reinhard Landmann und Dirk Joa, unterstützt durch Matthias Dornbracht, entwickelten Trainingsfahrzeug „System Landmann-Joa“ können reale Schleudersituationen erzeugt sowie das Abfangen und Stabilisieren eines Fahrzeuges trainiert werden. Die beschriebenen Ausbildungsdefizite können weitgehend kompensiert werden. 

Im Gegensatz zum Training auf der Verschiebeplatte kann der Ausbilder bei jeder Trainingsgeschwindigkeit als Beifahrer oder über eine Fernsteuerung völlig unerwartet für den Fahrer einen instabilen Fahrzustand herstellen. 

Der Fahrer ist darauf nicht vorbereitet. Ein Vorgang, der in allen Verkehrssituationen eintreten kann. Beim Durchfahren einer Kurve kann der Ausbilder durch Einlenken der Hinterräder in Richtung Außenkurve das Trainingsfahrzeug übersteuern, extrem ausbrechen oder durch Einlenken in Richtung Innenkurve untersteuern lassen. Er hat die Möglichkeit, das Trainingsfahrzeug beim Ausweichen nach einer Gefahrenbremsung oder beim schnellen Spurwechsel in einem instabilen Fahrzustand zu bringen. 

Der Neuigkeitswert des Trainingsfahrzeuges „System Landmann-Joa“ besteht auch darin, dass der Ausbilder auch während eines Schleudervorganges durch Ansteuerung der einlenkbaren Hinterräder fortlaufend Einfluss auf die Fahrstabilität nehmen und die Anforderungen entsprechend dem Leistungsvermögen des Fahrers variieren kann. 

Ein Verkehrssicherheitstraining oder eine aufgabenspezifische Fahrausbildung mit dem Trainingsfahrzeug kann auf jeder geeigneten Fläche oder beliebigen Straßenführung außerhalb des öffentlichen Verkehrsraums durchgeführt werden. Die Nutzung einer Verschiebeplatte, auf die sich der Fahrer mental und fahrpraktisch vorbereiten kann, ist nicht erforderlich. 

Vorrichtung zum Einlenken der Hinterräder 

Das Einlenken der Hinterräder erfolgt durch Abbremsen eines Hinterrades, dessen aus einem zweiten Bremssattel oder einer modifizierten Trommelbremse bestehende zusätzliche hydraulische Bremsvorrichtung über eine Pedalerie auf der Beifahrerseite oder über eine Fernsteuerung von außerhalb des Trainingsfahrzeuges angesteuert wird. Durch das Abbremsen eines der lenkbar gehaltenen Hinterräder entsteht ein Einlenkwinkel, der über eine Spurstange auf das andere Hinterrad übertragen wird. 

Während der Wirkzeit der zusätzlichen Bremsvorrichtung ist die Einwirkung des ESP auf das jeweilige Hinterrad nicht oder nur bedingt möglich. Wenn die zusätzliche Bremsvorrichtung nicht mehr auf das jeweilige Hinterrad einwirkt, wird das ESP wieder aktiv und verhindert ein weiteres unkontrolliertes Ausbrechen des Fahrzeughecks. Die Rückführung der Hinterräder in die Geradeauslauf-Position erfolgt durch verstellbare Rückholfedern, die auf die in der Geradeauslauf-Position arretierbare Spurstange einwirken. Bei einer anderen Ausführungsform wird die Spurstange zusätzlich angesteuert.

Vorrichtung zum Verhindern des Drehens um die Längsachse 

Hierbei handelt es sich um eine patentierte Erfindung, die optional auch implementierter Bestandteil des Trainingsfahrzeuges „System Landmann-Joa“ sein kann.  Zum Verhindern des Kippens oder Überschlagens eines Kraftfahrzeuges bei extremen Testfahrten und bei Fahrsicherheitstrainings mit Fahrzeugen, die auf Grund ihrer Bauart in bestimmten fahrdynamischen Grenzbereichssituationen zum Kippen oder Überschlagen neigen, werden bereits an dem Fahrzeug befestigte starre Ausleger mit Stützrädern eingesetzt. 

Ein gravierender Nachteil dieser Konstruktion liegt darin, dass sie die Breite des Fahrzeuges erhöht. Zudem wird das Fahrverhalten durch das Gewicht der außerhalb der Karosserie liegenden Teile der starren Ausleger, insbesondere beim extremen Ausweichen und beim schnellen Spurwechsel mit Rückführung auf die Ausgangsspur („Elchtest“), nachteilig beeinflusst. 

Die fahrdynamischen Abläufe und Prozesse entsprechen nicht mehr denen eines normalen Fahrzeuges. Ein realitätsnahes Fahrtraining und die Vorbereitung auf eine Bewältigung von fahrdynamischen Grenzbereichssituationen sind somit nur bedingt möglich. Davon ausgehend, stellte sich für die vorliegende Erfindung die Aufgabe, einen Pkw mit einfachen und zuverlässigen Bauteilen auszurüsten, die seine Fahreigenschaften nicht beeinträchtigen und ein Kippen oder Überschlagen in extremen fahrdynamischen Grenzbereichssituationen verhindern. 

Die Lösung für diese Aufgabe ergibt sich dadurch, dass die beiden Ausleger mit Stützrädern ausfahrbar sind. Im Normalbetrieb befinden sie sich innerhalb der Karosserie. Lediglich die Stützräder liegen außerhalb der Karosserie an.

Dadurch werden die fahrdynamischen Abläufe und Prozesse nicht oder nur unwesentlich beeinträchtigt. Vor einem möglichen Kippen oder Überschlagen des Fahrzeuges werden die Ausleger automatisch ausgefahren. Die Stützräder setzen auf dem Boden auf und stabilisieren das Fahrzeug. Die Vorrichtung kann in jedes Trainingsfahrzeug eingebaut werden.

Stützräder zur Übung mit Neigungswinkeln des Fahrzeuges
Das rechte Stützrad hat Fahrbahnkontakt. Die Stützfunktion tritt
erst bei einem definierten Neigungswinkel ein.
Quelle: Matthias Kriegesmann

Fazit

Ziel bei dem Sicherheitstraining und der aufgabenspezifischen Fahrausbildung mit dem Trainingsfahrzeug „System Landmann -Joa“ ist nicht, dass der Fahrer das Verhalten seines Fahrzeuges in fahrdynamischen Grenzbereichssituationen kennen lernt, sondern dem Fahrer Gelegenheit zu geben, seine Wahrnehmungs- und Entscheidungskompetenz in kritischen, stressbelasteten Situationen zu erweitern und sein fahrpraktisches Reaktionsverhalten zu verbessern. Dadurch kann er einen Beitrag zu seiner und zur Sicherheit anderer Verkehrsteilnehmer leisten. 

Die Verwendung des Tainingsfahrzeugs ist dementsprechend vielseitig und individualzentriert. Die hier angestrebte Sicherheitsausbildung ist für Polizeibeamte, insbesondere für Einsatzkräfte in besonderer Verwendung, aber auch für sicherheitsbewusste Verkehrsteilnehmer zu empfehlen. Ein weiterer Vorteil besteht darin, dass ein handelsübliches Fahrzeug vergleichsweise kostengünstig umgerüstet werden kann.  

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