In den überwiegenden Fällen erfordern Bevölkerungsschutz und MANV-Einsätze einen hohen Grad an Flexibilität. Einsatzlagen verändern sich oftmals in kürzester Zeit und müssen dennoch schnell und professionell bewältigt werden – eine besondere Herausforderung an Mensch und Material. Gerade Einsätze wie beispielsweise im vergangenen Jahr während und lange nach den Starkregenereignissen in Rheinland-Pfalz haben dies in beeindruckender Weise gezeigt. So waren beispielweise Johanniter aus Niedersachsen und Bremen für vier Wochen in Spitzenzeiten mit 130 Helfern gleichzeitig und bis 45 Fahrzeugen vor Ort im Einsatz und haben die sanitätsdienstliche und medizinische Versorgung der Bevölkerung und Helfer sichergestellt. Die hausärztlichen Strukturen waren nach der gewaltigen Flutwelle in Ahrweiler nicht mehr vorhanden oder stark eingeschränkt.
Nicht zuletzt der Einsatz in Ahrweiler hat gezeigt, dass es notwendig ist, auf Veränderungen adäquat zur reagieren. Den sich stetig ändernden Herausforderungen im Bevölkerungsschutz ist die Johanniter-Unfall-Hilfe e. V. (JUH) in Niedersachsen und Bremen schon mit einem neu entwickelten Gerätewagen Sanität Johanniter (GW-San JUH) begegnet. Eine erste Feuertaufe hat das Fahrzeug neuen Typs in Ahrweiler und bei weiteren Einsätzen bestanden. Auf den ersten Blick unterscheidet sich der neue GW-San JUH in erster Linie lediglich durch ein kleineres Führerhaus. Anstelle einer sechssitzigen Truppkabine findet dort nur der Fahrer samt Beifahrer Platz. Doch der Zehntonner auf Basis eines MAN-Fahrwerks mit den Maßen 7,9 Meter Länge, 2,3 Meter Breite und 2,75 Meter Höhe hat es in sich.
Zehntonner mit optimiertem Innenleben
„In den zurückliegenden Jahren haben wir ein Fahrzeug mit einem neuen und flexiblen Beladungskonzept entwickelt. Dieses spezielle Konzept fußt auf den Erfahrungen vieler Einsatzkräfte, die in den vergangenen Jahren gemacht worden sind“, sagt Thorsten Ernst, Geschäftsbereichsleiter Einsatzdienste der Johanniter im Landesverband Niedersachsen/Bremen.
Sowohl ehrenamtliche Bevölkerungsschützer als auch hauptamtliche Rettungsdienstler waren an der Entwicklung des Fahrzeugkonzeptes beteiligt. Die materielle Bestückung folgt den Vorgaben der Konzeption des Landes Niedersachsen für den Katastrophenschutz, angelehnt an die Materialausstattung der Gerätewagen Sanität Bund.
In zwei Jahren von der Planung zum fertigen Fahrzeug
Insgesamt wurden in den vergangenen Monaten zwölf dieser Fahrzeuge neuen Typs in den Dienst gestellt. Erste Planungsgrundlagen wurden bereits 2018 gelegt.
„Im Wesentlichen ging es uns um ein effektives Beladungskonzept und die Optimierung des „Personalbedarfs“, sagt Thorsten Ernst. Grundlage für das Lastenheft des neuen GW-San JUH waren die umfangreichen Erfahrungen der Johanniter-Bevölkerungsschützenden aus diversen Einsätzen. Da der Markt kein geeignetes Fahrzeug zu bieten hatte, haben sich die Johanniter für eine Neuentwicklung entschieden. Zusammen mit der Firma Freytag Karosseriebau in Elze (Landkreis Hildesheim, Niedersachsen) haben die Johanniter das neue Konzept auf die Straße gesetzt. Nach zahlreichen Planungsgesprächen mit dem Fahrzeugbauer konnte Ende 2019 ein erster Entwurf präsentiert werden. Nach weiteren Optimierungsrunden rollte im Juli 2020 der erste Prototyp aus den Werkshallen in Elze – ein Ergebnis voller individueller Lösungen, die überwiegend in Handarbeit gefertigt worden sind. Besonders erfreulich, so Thorsten Ernst, sei die Tatsache, dass sich die Überlegungen vom Reißbrett als effektiv herausgestellt hätten. „Es ist das Eine, in der Theorie etwas zu entwerfen. Am Ende muss die Praxis zeigen, dass das Konzept funktioniert“, sagt Ernst.
Einsatztaktische Vorteile durch neues Beladungskonzept
Am Ende des Entwicklungs- und Produktionsprozesses steht jetzt ein Gerätewagen Sanitätsdienst, der sich an vielen Stellen von den bisher am Markt verfügbaren Modellen unterscheidet. Das Material ist thematisch auf Rollwagen verlastet nach Bereichen wie beispielsweise Infusion, Trauma und Atmung geordnet. Dazu kommen Rollcontainer bestückt mit Zelt- und Sanitätsmaterial sowie alles für die Sauerstoffversorgung. Die bis zu 259 Kilogramm schwer beladenen Rollwagen können von nur einer Person bewegt und abgeladen werden. Die sechs Rollwagen finden im hinteren Teil des Fahrzeuges Platz.
Ein Teil der Rollwagen ist wie die bekannten „Notfallwagen“, bekannt aus Notaufnahmen und Intensivstationen, aufgebaut. Den Einsatzkräften wird somit eine schnelle Orientierung unter anderem durch Farbkennungen im Einsatz ermöglicht. Abgeladen können die Notfallwagen als gesamte Einheit an einem Behandlungsplatz eingesetzt werden. Das Material steht schnell zur Verwendung bereit. Zur Vereinfachung der Abläufe wurde eine zentrale Sauerstoffversorgung der Patienten geplant und umgesetzt.
Zudem ist in einem „Schnellauszug“ auf der Fahrerseite das Material zur Absicherung der Einsatzstelle für einen zügigen Zugriff durch den Fahrzeugführer zu finden. Zudem haben dort Stromaggregat, Kabeltrommeln, Scheinwerfer, Scheinwerferstative, Pylone und mehr Platz gefunden.
Auf der Beifahrerseite befindet sich einer weiterer „Schnellauszug“ mit notfallmedizinischem Material und Gerät – Sauerstoff, Beatmungsgeräte, Defibrillator, EKG, Notfallrucksäcke verschiedenster Ausführung für Infusionen, die Intubation und weitere. Zudem sind ergänzendes Material für den Patiententransport dort griffbereit verstaut. Eine schnelle Versorgung von Verletzten ist somit ebenfalls umsetzbar. Durch ein angepasstes Einschubsystem ist weiteres Material von der Seite des Fahrzeuges unkompliziert zugängig.
Zusammen mit einem weiteren Einsatzzug und Ergänzungskomponenten ist die Einrichtung und der Betrieb eines so genannten Betreuungsplatz 500 möglich. Dies bedeutet, die Einsatzkräfte versorgen und betreuen bis zu 500 betroffene Personen nach einem Schadenereignis. Sieben der zwölf Fahrzeuge sind in die Struktur der Behandlungsplätze 500 des Niedersächsischen Katastrophenschutzes eingebunden, die in den Johanniter-Regionalverbänden Weser-Ems und Südniedersachsen aufgebaut worden sind. Vier Fahrzeuge werden in Niedersachsen und Bremen im kommunalen Bevölkerungsschutz eingesetzt und ein weiteres Fahrzeug steht an der Johanniter-Akademie Niedersachsen/Bremen in Hannover.
„Mit dem neuen GW-San haben wir ein effektives und modernes Einsatzfahrzeug, an dem unsere angehenden Gruppen- und Zugführer ihre praktische Ausbildung absolvieren“, sagt Heiner Mansholt Fachbereichsleiter Bevölkerungsschutz, Einsatzdienst und Breitenausbildung. „Somit können wir unseren Helfern eine moderne, und zeitgemäße Ausbildung bieten,“ so Mansholt.
Gerätewagen Sanität als zusätzliche Logistikkomponente
Das Fahrzeug und das Material des Gerätewagens Sanität ist insgesamt so konzipiert und ausgelegt, dass nach Alarmierung der GW-San mit zwei Einsatzkräften zum Einsatzort ausrücken kann, um das Material abzuladen und aufzubauen. Durch diese umfassende Neukonzeption des GW-San JUH kann eine Patientenablage mit deutlich weniger Personal (auch fachfremd) eingerichtet werden. Das Personal für die Versorgung von Patienten fährt die Einsatzstelle mit einem Mannschaftstransportwagen (MTW) an.
Das Fahrzeug selbst ist für den Betrieb der Patientenablage nicht notwendig und kann als zusätzliche Transportkomponente in der Einsatzlogistik eingesetzt werden. Durch das komplett neu gestaltete Beladungskonzept ist umfangreicher, zusammenhängender Stauraum mit Ladebordwand im hinteren Teil des Fahrzeugs geschaffen worden mit Platz für mehrere Europaletten mit Material.
„Mit den Gerätewagen Sanität haben wir Johanniter ein flexibles und neuartiges Einsatzmittel in den Dienst gestellt, das speziell auf unsere Einsatzbedürfnisse abgestimmt ist. Somit sind wir Johanniter Vorreiter, was den neuen Fahrzeugtyp GW-San angeht“, so Ernst.
Die Investition in die Zukunft des Bevölkerungsschutzes in Niedersachsen und Bremen hat ein Volumen von rund 2,64 Millionen Euro.
Über die Johanniter-Unfall-Hilfe
Die Johanniter-Unfall-Hilfe ist mit rund 25.000 Beschäftigten, mehr als 40.000 ehrenamtlichen Helferinnen und Helfern und 1,2 Millionen Fördermitgliedern eine der größten Hilfsorganisationen in Deutschland und zugleich ein großes Unternehmen der Sozialwirtschaft. Die Johanniter engagieren sich in den Bereichen Rettungs- und Sanitätsdienst, Katastrophenschutz, Betreuung und Pflege von alten und kranken Menschen, Fahrdienst für Menschen mit eingeschränkter Mobilität, Arbeit mit Kindern und Jugendlichen, Hospizarbeit und anderen Hilfeleistungen im karitativen Bereich sowie in der humanitären Hilfe im Ausland.
Hinweis Interschutz:
Die Johanniter-Unfall-Hilfe e.V. präsentiert sich auf der Interschutz, der internationalen Leitmesse für Brand- und Katastrophenschutz, Rettung und Sicherheit, in Hannover vom 20. bis 25. Juni in Halle 26, Stand C29 auf einem über 800 Quadratmeter großen Stand.
Crisis Prevention 1/2022
Thorsten Ernst
Geschäftsbereichsleiter Einsatzdienste der Johanniter im Landesverband Niedersachsen/Bremen
Jan Klaassen
Fachbereichsleiter Externe Kommunikation/Pressesprecher im Landesverband Niedersachsen/Bremen
E-Mail: Medien.nb@johanniter.de