Tagesgeschäft und Stabsarbeit – ein Widerspruch?

Roland Lutz

Feuerwehr Reutlingen

Strukturierte Prozesse und schnelle Entscheidungen noch während eines Notrufs in der Leitstelle auf der einen und ein kompliziertes Stabsmodell mit schwer erlernbaren Belegflüssen (z. B. Vierfachvordruck) sowie einer eher strategischen, sehr individuell auf die jeweilige Lage ausgerichteten Vorgehensweise in den Stäben auf der anderen Seite – natürlich ist dies zunächst nicht nur ein Widerspruch, sondern ein vollständiger Bruch in der Arbeitsweise. Auch aus Sicht der Technik sind die Unterschiede teilweise eklatant – auf Seite der Leitstellen meist hochverfügbare Systeme in ­gesicherten Netzen, auf Seiten der Stäbe Zettel und Stift. Oder – wenn mit IT-Unterstützung gearbeitet wird – einige Notebooks, die oft nur ein- bis zweimal im Jahr zum Einsatz ­kommen und das Stiefkind der IT-Betreuung sind, also auch sehr selten ­aktualisiert werden, z. B. hinsichtlich der notwendigen Betriebs­system-Updates.

Sind in den Leitstellen kreisfreier Städte oft auch die Stabs­räume mit untergebracht und profitieren so von der räumlichen Nähe zur Leitstelle, den Leitstellenmitarbeitern und der technischen Ausstattung der Leitstelle, verschärft sich das Problem bei Kreis- oder Regionalleitstellen in den meisten Fällen noch: Hier sind die Stabsräume oft weit entfernt von der Leitstelle, ­technisch allenfalls wie ein Besprechungsraum ausgestattet und auf operativ-­taktischer Ebene wird ein Führungsstab bzw. eine ­technische Einsatzleitung gerne auf Basis eines ELW 2 (Einsatz­leitwagen) mobil betrieben.

Für Krisensituationen jeder Art, vom Amoklauf bis zur Unwetterlage, gilt aber natürlich die Devise: Kommunikation ist alles. Das gilt insbesondere auch für den koordinierten Umgang mit den Medien. Nun lassen sich räumliche Gegebenheiten nur schwer oder sehr langfristig im Rahmen von Neubauten verändern, aber auf fachlicher und technischer Ebene kann die ­Situation auch mit überschaubaren Maßnahmen erheblich ­erbessert werden.

Aus fachlicher Sicht ist die Kombination des Erfahrungsschatzes erfahrener Leitstellenmitarbeiter und ebenso erfahrener, strategisch denkender Mitarbeiter der Stäbe ideal für die Bewältigung von Großereignissen und Großschadenslagen. Statt den Widerspruch zu leben, können durch eine enge Zusammenarbeit und Vernetzung Synergien genutzt und Fähigkeiten ergänzt werden. D. h., die Leitstellen müssen ein fester Bestandteil auch der Stabsarbeit sein, z. B. mit Sonderlageplätzen, die dem Stab ­zuarbeiten. Technisch kann dies auch mit abgesetzten Arbeitsplätzen realisiert werden, wenn Leitstelle und Stab räumlich getrennt sind.

Um den Informationsfluss zu verbessern, sollte durchgängig mit IT-Unterstützung gearbeitet werden und die klassische „Zettelwirtschaft“ in den Stäben nur noch als letzte Rückfallebene ­betrachtet werden. Auch Stabsräume lassen sich mit geringem Aufwand so ausstatten, dass die IT weitgehend ausfallsicher betrieben werden kann (Stromversorgung/USV, Netzwerke) und erst bei dauerhaftem Ausfall z. B. des Stromnetzes auf Notbetrieb umgestellt werden muss wie es z. B. auch bei einem Komplett­ausfall des Einsatzleitsystems in Leitstellen praktiziert wird.

Computer alleine sind aber nicht die Lösung – sie stellen nur die Grundlage dafür bereit, dass Informationen schnell und ohne zu großen Interpretationsspielraum fließen können. Hierfür müssen mindestens über entsprechende Arbeitsplätze oder ­Displays Informationen aus der Leitstelle in den Stäben und ­natürlich auch umgekehrt aus den Stäben in der Leitstelle ­dargestellt werden können, ggf. unterstützt durch den Aus­tausch von Personal im Sinne von Fachberatern.

Noch besser ist natürlich eine medienbruchfreie Vernetzung der Systeme, d. h. die Informationsflüsse werden automatisiert und erfordern ­keine oder nur wenig Eingriffe durch Mitarbeiter der Stäbe oder der Leitstelle. So können z. B. Einsatzinformationen aus der Leitstelle kontinuierlich in eine Stabssoftware (z. B. metropolyBOS) übernommen und dort weiterbearbeitet werden – damit wird es den Stäben ermöglicht, „vor die Lage“ zu kommen und die ­richtigen strategischen Entscheidungen zu treffen, denn die ­aufwendige doppelte Erfassung von Daten kann größtenteils entfallen. Umgekehrt benötigt die Leitstelle aber auch Informationen aus den Stäben. Sowohl was das konkrete, im Stab ­geführte Ereignis betrifft, als auch, was dessen mögliche ­Wechselwirkungen auf das Tagesgeschäft bzw. den Grundschutz ­betrifft, z. B. durch Absperrungen oder die Freisetzung und ­Ausbreitung von Gefahrstoffen.

Beispieldarstellung von einer Flächenlage
Hier die Beispieldarstellung einer Flächenlage
Quelle: GEOBYTE

In die Vernetzung eingebunden werden sollten aber auch mobile Komponenten, z. B. Einsatzleitwagen und Fachberater, die zwischen den Stäben (administrativ / organisatorisch – operativ / taktisch oder auch polizeilich – nicht polizeilich) ausgetauscht werden. So kann überall auf derselben Informationsgrundlage agiert werden und neue Informationen können leicht ergänzt und ohne Medienbruch verlässlich ausgetauscht werden.

Ist eine solche Vernetzung geschaffen, können auch Arbeits­weisen und neue etablierte Prozesse von der Stabsarbeit ins Tagesgeschäft übertragen werden. So können z. B. die Mitarbeiter in der Leitstelle Informationen von mobilen Führungseinheiten an der Einsatzstelle auch bei „Standardeinsätzen“ elektronisch erhalten, was den Funkverkehr entlastet und es den Lagedienstführern und Disponenten erleichtert, sich in der Leitstelle ein Bild von der Lage zu machen. 

Die vor Ort vorgenommene taktische Gliederung des Ereignisses in ­Ein­satz­abschnitte, eine elektronisch geführte Lagekarte und unmissverständliche Meldungen zur ­aktuellen Situation und den getroffenen Maßnahmen sind auch in der Leitstelle eine optimale Grundlage für schnelle und taktisch richtige Entscheidungen und lassen sich über eine vernetzte Systemlösung sehr viel einfacher übertragen als über Telefonate und Funksprüche.

Vernetzte Systeme sind auch eine ideale Basis für den fließenden Übergang zwischen Tagesgeschäft und Stabsarbeit, denn es gehen keine Informationen verloren und bei großen Einsätzen kann schon in der Leitstelle ergänzend zum Einsatzleitsystem mit denselben Werkzeugen gearbeitet werden, die später auch im Stab selbst zum Einsatz kommen. Hier können dann auch schon Stabsmitarbeiter als personelle Unterstützung in der Leitstelle herangezogen werden.

Die zunehmende Häufigkeit an lokal sehr ausgeprägten Unwetter­ereignissen, die allgemeine Bedrohungslage mit ­erhöhtem Schutzbedarf auch bei bisher unkritischen Groß­ereignissen und auch der zunehmend schwierige Umgang mit den Medien, die Schadenslagen gern medial „ausschlachten“, erfordert ein Umdenken in der Abarbeitung von Einsätzen und Ereignissen. Dies setzt eine Verbesserung der Stabsarbeit im ­Allgemeinen – hin zu schnelleren Entscheidungen – und eine effiziente Zusammenarbeit zwischen der Einsatzleitung vor Ort, der Leitstelle und den Stäben voraus.

Seitens der Technik sind die notwendigen IT-Technologien, Standards und auch geeignete Produkte zum Aufbau ganzheitlich vernetzter Lösungen am Markt verfügbar. Widersprüche lassen sich aber nicht durch Technik auflösen, sondern nur durch ein Umdenken der handelnden Personen. Sehr oft erfolgt dieses Umdenken aber erst dann, wenn eine Kommune oder ein Kreis selbst von einem Ereignis erheblicher Dimension ­getroffen wurde – mitunter mit durchaus tragischen Konsequenzen.

 Im Sinne der Prävention und der Gefahrenabwehr wäre es aber vielmehr angebracht, aus den Erfahrungen anderer zu ­lernen und für den eigenen Zuständigkeitsbereich schon vor der Katastrophe die richtigen Entscheidungen zu treffen.

Sicherheit kostet Geld – ohne Investitionen in die Infrastruktur von Stabsräumen und Leitstelle, ohne entsprechende Aus­bildung der jeweiligen Mitarbeiter und die Bereitstellung der notwendigen personellen und technischen Ressourcen geht es nicht. Wo wie eingehend beschrieben tatsächlich erhebliche Widersprüche zwischen der Arbeitsweise im Tagesgeschäft und in der Stabsarbeit bestehen, gehören diese dringend aufgelöst.

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