Nicht erst seit den Übergriffen in der Silvesternacht 2015 sind Möglichkeiten und Grenzen von Gefahrenabwehr und Strafverfolgung wörtlich „im Fokus“ der öffentlichen Diskussion. Sicherheitskräfte und Datenschützer ringen um den Preis der Sicherheit auf Kosten der Freiheit. Der preußische Staatsmann Wilhelm von Humboldt (1767 - 1835) wird gern zitiert, um einen offensichtlich eindeutigen Impuls für staatliche Überwachungsschwerpunkte zu geben: „Ohne Sicherheit ist alle Freiheit nichts“.
Aber selbst eine große Zustimmung zur Humboldt’schen These kann nicht abschließend zufrieden stellen, schließlich sollten nach seiner Ansicht Staatstheorie, gemeinschaftlich mit Bildungsphilosophie und Sprachwissenschaft, den preußischen Staat aus der seinerzeitigen Krise führen. Sicherheit spielte lediglich als staatlicher Rückzugsraum eine Bedeutung (s. „Wilhelm von Humboldt – Die Vergötterung“, ZEIT Nr. 26/2017, Heinz-Elmar Tenorth).
Ausweitung der Videobeobachtung?
Die gesellschaftliche Empörung nach der benannten Silvesternacht belebte aber tatsächlich auch das Thema Videobeobachtung im öffentlichen Raum neu. Die damalige Rot-Grüne-Landesregierung in NRW beschloss bereits im Januar 2016 ein „Maßnahmenpaket für mehr Innere Sicherheit und bessere Integration vor Ort“ (s. Land NRW, Maßnahmenpaket der Landesregierung für mehr Innere Sicherheit und bessere Integration vor Ort, Stand: 14. Januar 2016), den sogenannten 15-Punkte-Plan. Unter Punkt sieben findet sich: „Ausweitung der Videobeobachtung. Wir werden in Ballungsräumen die Videobeobachtung an Kriminalitätsbrennpunkten (z. B. auf den Kölner Ringen) auf der Basis unseres Polizeigesetzes verstärken, um Straftäter abzuschrecken oder Straftaten besser nachweisen zu können.“
Hier finden sich wesentliche Aussagen, die einen kurzen Ausflug in die Rechtstheorie ermöglichen. Die Aufgaben der Polizei regelt der Landesgesetzgeber. Neben Zuständigkeitsregelungen enthält das Polizeigesetz NRW (PolG NW) Befugnisse und Grenzen für das polizeiliche Handeln. Und, wie beruhigend, polizeiliches Handeln ist nach wie vor an Recht und Gesetz gebunden. Demnach sind auch Gefahrenabwehr (z. B. die Verhütung von Straftaten, Prävention) und Strafverfolgung (die Verfolgung von Straftaten, Repression) dort abschließend geregelt.
Der Anforderungskatalog des § 15 a PolG NW zur Datenerhebung durch den offenen Einsatz optisch-technischer Mittel (Videobeobachtung) ist eindeutig. Videobeobachtung ist nur zulässig an öffentlich zugänglichen Orten. Es muss sich um belegbare „Kriminalitätsbrennpunkte“ handeln, also Orte mit deutlich messbarer Kriminalität. Zudem brauchen wir die Prognose, dass an diesen Orten auch weiterhin Straftaten begangen werden, ohne durch die Videobeobachtung nur von dort in die nächste Straße verdrängt zu werden.
Das ist bereits anspruchsvoll. Aber wenn sich die offen erkennbaren Kameras nur so auswirken, dass die Raubdelikte ab jetzt außerhalb des Schwenkbereichs begangen werden, verbietet sich deren Einsatz. Wie sieht das in der polizeilichen Praxis aus?
Videobeobachtung ist nicht neu
Mönchengladbach hat bereits im Jahr 2004 mit Maßnahmen begonnen. Mittlerweile zählen Düsseldorf (seit 2006), Köln, Duisburg, Essen und seit 2017 Aachen dazu. Dortmund startete im Dezember 2016 mit dem Realbetrieb.
Erfahrungen sind auch aus anderen Bundesländern und dem benachbarten Ausland vorhanden. Gern genanntes Beispiel ist die Metropole London, wo es anscheinend kaum möglich ist, im öffentlichen Raum einer Kamera zu entgehen. Aber hier werden doch auch noch Straftaten verübt. Wo ist der Nutzen?
Der richtige Ort
Das PolG NW fordert den richtigen Ort. Kein „Angstraum“, der mit subjektiver Kriminalitätsfurcht belegt ist, sondern Brennpunkt. Einer der hergebrachten Grundsätze der Polizeidienstkunde (heute: Einsatzlehre) lautet:
Wo die Polizei Brennpunkte erkennt, setzt sie ihre Schwerpunkte.
Und tatsächlich gibt es Orte, die sich der Begehung von Straftaten nahezu anbieten, oft nicht die, die sich zuerst aufdrängen. Die gesamte Dortmunder Nordstadt, ein Multiproblemviertel und insgesamt ein kriminogener Raum, müsste sorgfältig bewertet werden. Das steht noch aus.
Aber die Dortmunder Brückstraße erfüllt als Partyachse tatsächlich die engen Anforderungen. Hier sind Lokale, die zum Essen und Trinken einladen, dazu bekannte Feiergastronomie, und somit wuchs ein Magnet für Stadt und Region. Dieser Magnet zieht unweigerlich Täter an, die vermeintlich wehrlose Opfer suchen. Und auch wenn das zechbedingte Torkeln nicht sehr zielstrebig wirkt, konzentriert es sich oft im Bereich der Brückstraße. Solange potenzielle Opfer dort zu finden sind, wird es Täter geben, die sie genau dort suchen. Hier ist die Videobeobachtung zulässig und erfolgversprechend. Zechanschlussdelikte, Taschendiebstähle etc. sollen verhindert oder besser verfolgt werden.
Hinsehen und Handeln
Oft unbemerkt in der öffentlichen Diskussion bleibt, dass die Polizeibehörden nicht einfach nur ein neues Spielzeug hinzugewonnen haben.
Befugnis und Ermächtigung staatlichen Handelns bedeuten auch immer Übernahme von Verantwortung.
So ist die Videobeobachtung nicht bloße Aufzeichnung und ggf. spätere Auswertung. Nein, sie geht einher mit einer erheblichen personellen Investition zusätzlich zur technischen Ausstattung.
Zu tatrelevanten Zeiten (u. a. Wochenenden, Nächte vor Wochenfeiertagen und an Feiertagen) beobachtet tatsächlich die Leitstelle in Echtzeit den ausgewählten Bereich. Also mit der Nutzung der Videobeobachtung entscheidet sich eine Polizeibehörde, in bereits einsatzbelasteten Zeiten noch zusätzliches Personal einzusetzen. Doch ein Beobachter ist nicht genug.
Die örtlich zuständige Polizeiinspektion ist aufgefordert, ebenfalls zusätzliche Einsatzkräfte zu stellen. Diese sogenannten Interventionskräfte sollen sicherstellen, dass bei erkannter Vorbereitungshandlung, versuchter oder sogar vollendeter Straftat schnelles polizeiliches Einschreiten möglich ist.
Diese Art der Anwendung mag teuer sein, ist aber kaum anders vorstellbar. Man stelle sich vor, Angehörigen von Opfern schwerwiegender Straftaten erklären zu wollen, dass quasi „unter den Augen“ (Kamera) der Polizei das Opfer zu Schaden kam und dabei auf die Möglichkeit polizeilichen Handelns bewusst verzichtet zu haben.
Wer möchte in dieser Situation sein?
Was es bringt
Auch in der Polizei NRW ist keine Projektplanung mehr ohne eine Evaluationsplanung denkbar. Hier hat aber schon der Gesetzgeber eine Überprüfung nach einem Jahr vorgesehen. Da ist es ausnahmsweise dankbar, von einem Ort mit messbarer Kriminalität ausgehen zu können.
Die Polizei in Dortmund zieht eine positive Bilanz. Ende des letzten Jahres hatte im Vergleich zu 2016 die Anzahl gefährlicher Körperverletzungen um 43 % abgenommen. Raubdelikte haben sich halbiert. Aus Opfersicht zählt jede verhinderte Straftat. Ein zählbarer Strich entsteht allerdings für die Messung der präventiven Wirksamkeit nicht.
Und natürlich steht die Videobeobachtung nicht allein im Raum. Der Dortmunder Polizeipräsident Gregor Lange betonte: „Videobeobachtung ist im Rahmen unserer umfassenden Präsenz- und Sicherheitskonzepte ein sinnvoller Baustein zur Bekämpfung der Kriminalität.“ (s. WDR Nachrichten, Bilanz Videoüberwachung Brückstraße, 15.12.2017). So ist die Videobeobachtung nur ein Element im polizeilichen Präsenzkonzept City.
Ein ganz konkretes Beispiel: Der Beobachter der Leitstelle sieht eine Person, die sich auffällig an eine andere Person annähert. Die Bewegungen deuten auf eine bevorstehende Straftat nach dem Modus Operandi „Antanzen“ hin. Dabei soll dem Opfer durch bewusste und überlagernde Berührungen an anderer Körperstelle etwas unbemerkt entwendet werden. Das ist nachvollziehbar einfacher, wenn das potenzielle Opfer zudem alkoholisiert ist. Die sofort handelnden Interventionskräfte bekamen den sich entfernenden Täter gemeldet und händigten dem verblüfften Opfer später das entwendete Smartphone wieder aus.
Die Videobeobachtung in der Brückstraße ist wieder um ein Jahr verlängert worden. Weitere Orte sind in der Prüfung.
Ist eine Videobeobachtung wirklich erforderlich?
An dieser Stelle bittet der Autor um Verständnis, wenn er sich auf die Verhältnismäßigkeitsprüfung zurückzieht, die bei jeder polizeilichen Maßnahme durchgeführt werden muss. Sie fragt den Anwender nach der Geeignetheit, Erforderlichkeit und der Verhältnismäßigkeit (i. e. S.).
Wie schlüssig beschrieben, ist die Videobeobachtung unstrittig geeignet, Straftaten zu verhüten oder beweissicher zu verfolgen.
Die Erforderlichkeitsprüfung fragt nach der Wahl des geringsten Mittels. Hier wird es schon anspruchsvoller. Wenn man aber davon ausgeht, dass man nur mit Kontrollkräften aus der Perspektive der Menge von Menschen ein annähernd gleiches Ergebnis erzielt und ein polizeilicher Beobachter in der untechnischen Übersicht gleichwertig anzusehen ist, gibt es wohl auch kein milderes Mittel.
Der engere Sinn der Verhältnismäßigkeit offenbart Segen und Fluch der Videobeobachtung zugleich. Schließlich haben die technischen Möglichkeiten in der aktuellen Entwicklung den Rahmen des Nötigen längst gesprengt. Die zukünftigen Entwicklungen werden in hohem Tempo voranschreiten. Es ist heute schon leicht vorstellbar, Kameratechnik mit einer Gesichtserkennungs-Software zu kombinieren.
Sollte es möglich sein, Gefährder zu erkennen und aufzuhalten, die unmittelbar zu einer terroristischen Gewalttat ansetzen?
Heute und in Zukunft wird es nötig sein, die Verhältnismäßigkeit staatlichen Handelns einer Rechtsgüterabwägung zu unterziehen. Schon jetzt ist es legitim, den Schutz von Leib, Leben und Gesundheit, den Schutz der Rechtsordnung an den Orten konkreter Videobeobachtung höher zu achten, als die kurzfristige Einschränkung der informationellen Selbstbestimmung.
Ein Ausblick
Nicht alles was möglich ist, ist auch nötig. Wir sind als Gesellschaft aufgefordert, über diese Notwendigkeiten zu entscheiden, gemeinschaftlich und mehrheitlich. Solange unsere Gesellschaft hohe Freiheitsansprüche aufrechthält, muss niemand mit Repression rechnen, der sich z. B. unter den „Augen“ polizeilicher Kameras einer Versammlung unter freiem Himmel anschließt. Unter engen Rahmensetzungen gilt es nur und ausschließlich, durch das Mittel der Videobeobachtung Straftaten zu verhüten und beweissicher zu verfolgen.
Durch die aktuelle politische Entwicklung ist dazu bereits der nächste Schritt erfolgt. Bei der Vorstellung des Koalitionsvertrages zwischen der CDU und der FDP in Nordrhein-Westfalen am 16.06.2017 fand sich eine gemeinsame Willenserklärung, die polizeiliche Videobeobachtung im öffentlichen Raum zu erleichtern (S. 58 des Koalitionsvertrages). Hierzu ist eine Änderung des PolG NW erforderlich. Am 26.04.2018 hat die NRW-Landesregierung ihren Änderungsentwurf zur ersten Lesung in den Landtag eingebracht.
Der Autor gibt mit dem Artikel seine höchstpersönliche Meinung wieder.
Crisis Prevention 2/2018
Thomas Fürst, Polizeioberrat
Landespolizei NRW, Polizeipräsidium Dortmund
Leiter der Führungsstelle einer Polizeiinspektion