Freitag, 21. August 2015: im Thalys-Hochgeschwindigkeitszug von Brüssel nach Paris beginnt ein bewaffneter Marokkaner nach übereinstimmenden Zeugenaussagen, mit einer Kalaschnikow um sich zu schießen. Im anschließenden Handgemenge mit drei weiteren Passagieren (alle US-Bürger; ein U. S.-Luftwaffensoldat, ein Mitglied der U. S.-Nationalgarde, ein Zivilist) zückt der Marokkaner ein Teppichmesser und verletzt einen der U. S.-Amerikaner sowie einen weiteren Passagier. Der Attentäter wird überwältigt und den Behörden übergeben.
Donnerstag, 11. März 2004: Insgesamt zehn Sprengsätze detonieren in vier Zügen in Madrid; 191 Menschen verlieren ihr Leben, über 1 800 werden verletzt. Die Urheber der Anschläge, nachweislich islamistisch-fundamentalistische Terroristen, sprengen sich am 3. April 2004 selbst in die Luft, um der Festnahme durch die spanische Polizei zu entgehen. Dabei kommt ein Polizist ums Leben. Heute, hier und jetzt: Ist ein derartiger (Terror-)Anschlag in der Bahn bzw. ein (Terror-)Anschlag im Bereich des schienengebundenen Personenverkehrs in Deutschland denkbar, möglich, wahrscheinlich?
Terroranschlag - denkbar in Deutschland?
Im Zuge verschiedener Forschungsaktivitäten hat sich der Studiengang Integrated Safety and Security Management (ISSM) der Hochschule Bremerhaven mit dieser Frage beschäftigt. Einige der Gedanken und der Ergebnisse werden nachfolgend vorgestellt. Ein Beispiel: Im Rahmen eines Dissertationsprojektes der Universität zu Köln haben die Studierenden des ISSM-Jahrgangs 2012 unter anderem die theoretische Machbarkeit eines (Terror-) Anschlags mittels der Explosion eines mit Chlorgas beladenen Güterzugwaggons bei Durchfahrt durch einen überdachten Personenbahnhof untersucht. Die für den hypothetischen Anschlag notwendigen Informationen konnten sich die Studierenden größtenteils aus dem Internet aus öffentlich zugänglichen Quellen (bspw. des chlorproduzierenden Unternehmens, der Deutschen Bahn und google maps®) beschaffen.
Im Anschluss an die vierwöchige „Anschlagsplanung“ wurden die Studierenden aus ihrer „Attentäter“-Rolle herausgeholt und damit beauftragt, ihren eigenen “Anschlag“ zu verhindern. Die Auswirkungen eines derartigen Anschlags würden sich in drei Kategorien gliedern:
Kategorie 1: Verletzungen (ggf. fatal) durch die Explosion des Druckgaskesselwagens (Druckwelle, Fragmente des Druckkessels);
Kategorie 2: Verletzungen (ggf. fatal) durch die Exposition gegenüber Chlorgas, die im Wesentlichen durch Einatmen erfolgt;
Kategorie 3: Verletzungen (ggf. fatal) durch die entstehende Massenpanik (Stürze, Quetschungen, Kreislaufzusammenbrüche, etc.).
Ein zweites Beispiel: Im Rahmen der gleichen Lehrveranstaltung hat eine Studierende des ISSM-Jahrgangs 2013 die theoretische Machbarkeit eines (Terror-)Anschlags in der Münchner S-Bahn untersucht. Auch hier konnten nahezu alle notwendigen Informationen aus dem Internet aus öffentlich zugänglichen Quellen beschafft werden. Der hypothetische Anschlag hätte im genannten Fall mit Giftgas durchgeführt werden können.
Der zweite Teil der Aufgabe für die Studierende bestand wiederum darin, diesen Anschlag zu verhindern. Drittes Beispiel: Bei einer Vor-Ort-Begehung der U-/S-Bahn-Stationen in Hamburg, Berlin und München (und in der London Underground) hat der Verfasser untersucht, inwieweit die Fluchtwege der unterirdischen Bahnstationen so gelegen sind, dass im Falle einer – wodurch auch immer ausgelösten – Massenpanik möglichst viele Personen in möglichst kurzer Zeit aus der Station evakuiert werden können.
Ein gutes Exempel, wie eine Evakuierung großer Menschenmassen über mehrere, gut sichtbare, breite Treppen möglich ist, zeigt die U-Bahn-Station Jungfernstieg in Hamburg. In anderen unterirdischen Stationen ist einerseits deutlich weniger Platz zwischen Wand und Gleisbett, andererseits hat die Station nur einen einzigen Ein-/Ausgang, der im Falle einer (beabsichtigten oder unbeabsichtigten) Blockierung und gleichzeitigem Halt eines Zuges eine Evakuierung unmöglich macht. Um die Frage nach der Durchführbarkeit und nach der Wahrscheinlichkeit eines derartigen (Terror-) Anschlages in Deutschland zu beantworten, seien an dieser Stelle einige statistische Werte herangezogen.
Bahnverkehr vs. Flugverkehr
Unstrittig ist, dass das Sicherheitskonzept im (deutschen) Bahnverkehr eine andere Qualität hat als das im (deutschen) Luftverkehr. Die Begründung dafür ist recht leicht zu finden: Ein erfolgreicher Anschlag auf ein mit Personenzahl x im Reiseflug befindliches Luftfahrzeug wird in nahezu jedem Fall eine Opferrate von 100% nach sich ziehen. Beispiele finden sich in genügender Anzahl (bspw. PanAm über Lockerbie, 21. Dezember 1988). Die Signalwirkung ist immens und sichert den Attentätern weltweites und anhaltendes Medienecho.
Im Gegensatz dazu wird ein erfolgreicher Anschlag auf einen mit Personenzahl y fahrenden Reisezug (s. Beispiel 2 u. 3) oder ein erfolgreicher Anschlag auf einen (großen, überdachten) Personenbahnhof (wie in Beispiel 1 vorgestellt) in nahezu keinem Fall eine Opferrate von 100% nach sich ziehen. Die Aufmerksamkeit der Medien und der Weltöffentlichkeit wäre im ersten Moment bei einer ähnlichen Opferzahl sicherlich ähnlich hoch, würde jedoch vermutlich in kürzerer Zeit wieder abebben; vergleiche dazu 9/11 und die o. g. Anschläge in Madrid. Die Signalwirkung wäre grundsätzlich geringer, die Ursachen dafür sind sicherlich im psychologischen Bereich zu suchen.
Je „exklusiver“ ein Transportmittel ist, desto mehr Aufmerksamkeit wird einer wie auch immer gearteten Kopfzeile 2 Crisis Prevention 3/2015
(Schadens-)Meldung darüber zukommen.
Die Bahn transportiert jährlich ca. zwei Mrd. Passagiere (2.254 Mio. in 2014) in Deutschland, die Luftfahrt weniger als 10% davon (208,5 Mio. Passagiere ebenfalls in 2014). Wäre es beabsichtigt, bei jeder Bahnfahrt, ob ICE oder Nahverkehrszug, Sicherheitskontrollen wie in der Luftfahrt durchzuführen, müssten unter anderem
- neue Sicherheitseinrichtungen (Security) an jedem (!) Bahnhof (ob Metropolenbahnhof oder Haltepunkt „im Grünen“) eingerichtet,
- das (Sicherheits-)Personal immens aufgestockt,
- somit sicherlich die Fahrpreise angesichts dessen drastisch erhöht werden,
und dennoch könnte keine 100%-ige Sicherheit für die Reisenden bzw. weitere Personen im Umfeld gewährleistet werden, falls ein oder mehrere potentielle Attentäter einen Anschlag auf einen Reisezug geplant hätten. Dies gilt
- sowohl für den eigentlichen Reiseabschnitt zwischen den Ein- und Ausstiegsbahnhöfen für die Passagiere
- als auch für den Aufenthalt im Bahnhof:
- Passagiere: Ankunft am Bahnhof, Warten auf Zugverbindung, Verlassen des Zielbahnhofes;
- Verwandte/Freunde/Geschäftspartner: Begleiten zum Zug, Abholen vom Zug;
- weitere Personen im Bahnhofsgebäude: bei der Informationsbeschaffung, beim Besuch der Restaurants, Geschäfte und
Einrichtungen ohne direkten Bezug zu einer Reise.
Somit lässt sich festhalten, dass für einen derartigen (Terror-) Anschlag in Deutschland
- die Durchführbarkeit im Vergleich zur Luftfahrt relativ hoch,
- die Wahrscheinlichkeit jedoch als relativ moderat und
- die Auswirkungen als geringer, wenn auch trotzdem möglicherweise weitreichend einzustufen sind.
Gleichwohl lassen sich einige Maßnahmen mit vergleichsweise einfachen Mitteln und ohne großen finanziellen Aufwand umsetzen. Beispielsweise sind Kampagnen zur Sensibilisierung und Erhöhung der Aufmerksamkeit bei Passagieren sinnvoll und zielführend; ebenso sind die Mitarbeiter der Bahn regelmäßig mit Schulungen, Übungen und ggf. auch Rollenspielen mit der Möglichkeit eines Anschlages durch Terroristen zu konfrontieren.
Bauliche Maßnahmen im Hinblick auf Safety und Security müssen bei Neubauten schon in der Planungsphase berücksichtigt werden. Inwieweit bestehende Bahnhofsinfrastrukturen, insbesondere unterirdische, nachträglich im Hinblick auf Safety und Security verbessert werden können, ist Gegenstand einer weitergehenden Betrachtung.
Fazit
Ein beherztes und selbstloses Eingreifen wie im Falle der drei U.S.-Amerikaner im Thalys kann nicht in jedem Fall erwartet werden, gleichwohl wird – wenn die Reisenden und das Personal im Bahnverkehr mehr Aufmerksamkeit und ggf. mehr Security Awareness an den Tag legen – ein Anschlag in oder mit einem Zug möglicherweise zu verhindern sein.
Crisis Prevention 3/2015
Prof. Frank Reininghaus
Hochschule Bremerhaven
Studiengang Integrated Safety and Security Management
An der Karlstadt 8
27568 Bremerhaven
Tel.: 0163/4612515
E-Mail: frankreininghaus@yahoo.de