Bevölkerungsschutzpädagogik – führt sie uns weiter?

Ein weiteres Fachgebiet der Erziehungswissenschaften

Andreas von Block-Schlesier

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Die Überschrift dieses Beitrags geht schon davon aus, dass es „Bevölkerungschutzpädagogik“ als ein weiteres Fachgebiet der Erziehungswissenschaften inzwischen gibt. Grundlage sind das Pädagogische Leitbild und -Konzept der nach DIN-ISO 29990 zertifizierten AKNZ von 2015. Die BBK- Zeitschrift „Bevölkerungsschutz“ befasste sich in Ausgabe 4/2018 ausführlich mit dieser neuen, weiteren Pädagogik.

Zuvor hatte schon die Zeitschrift „Notfallvorsorge“ 1/2018, durch die gleichen Autoren (Karutz und Mitschke), die „Grundzüge und Handlungsfelder einer Bevölkerungsschutzpädagogik“ ausführlich beschrieben, mit folgendem Fazit: „Deutlich geworden sein sollte, dass ‚Bevölkerungsschutzpädagogik‘ keineswegs nur eine Vermittlungsfunktion erfüllt. Vielmehr ist erzieherisches und erwachsenenbildnerisches Engagement als Kernelement des Bevölkerungsschutzes anzusehen. Eine effektive Vorbereitung auf komplexe Gefahren und Schadenslagen aller Art, die Fähigkeit zu deren Bewältigung sowie die Fähigkeit zum Wiederaufbau – individuelle und gesellschaftliche Resilienz – setzt eine spezifische Erziehung und Bildung stets voraus.“ (s. ebendort).

Karutz und Mitschke sind die ausgewiesenen Experten und zugleich Erfinder dieses Fachgebiets in Deutschland. Und sie haben Recht: Selbstverständlich muss für alle Bereiche des Zivil- und Katas­trophenschutzes bestmöglich ausgebildet werden (vorausgesetzt natürlich, die benötigten Menschen sind vorhanden). Und: Jede Ausbildung erfordert, dass nicht nur fachlich kompetent, sondern auch pädagogisch, didaktisch, methodisch optimal – und insgesamt menschlich – vermittelt wird. Erst recht für diese Staatsaufgabe, die zu den schwierigsten und verantwortungsvollsten unseres Landes gehört.

Nach einem Schaubild in „Bevölkerungsschutz“ 4/18, S.4, erscheint die Materie allerdings sehr komplex: Auf den Begriff „Bevölkerungsschutzpädagogik“, in der Mitte der Grafik, sind 8 weitere Begriffe gerichtet: Sie haben die Namen: Krisenpädagogik, Traumapädagogik, Berufspädagogik, Katastrophensoziologie, Notfallpsychologie, Gesundheitspädagogik, Sicherheitspädagogik und Notfallpädagogik.

Dem am neuen Fach Interessierten wird schwindelig: Sind das alles weitere „Fachgebiete“?

Der Leser fragt vielleicht, wie viele Studiengänge es heute wohl geben mag? Bei Goethe, Faust, heißt es noch, „Habe nun, ach! Philosophie, Juristerei und Medizin und leider auch Theologie durchaus studiert…“ (Es lohnt sich, bei Goethe weiter zu lesen). Dies scheinen die Studiengänge des Jahres 1808 gewesen zu sein.

Bevölkerungsschutzpädagogik ist notwendig

Heute gibt es an Deutschlands Universitäten und Fachhochschulen insgesamt über 20.000 Studiengänge („Statistika“ 19/20), für teilweise sehr bedauernswerte Studenten (m/w/d). Soll man diese Inflation mit weiteren „Pädagogiken“ verstärken?

Pädagogik, die Lehre von der Erziehung, ist eine alte Kunst, erfunden in der Antike. „Pädagoge“ heißt „Kindesführer“. Pädagogik umfasst alles, was Erziehung und Förderung von Menschen betrifft. Sie ist heute die umfassendste Lehre und zugleich eine banale Selbstverständlichkeit. Sie ist, nachdem sie “ Wissenschaft“ geworden ist, die umfangreichste aller Disziplinen, die man heute natürlich „studiert“.

Es gab Lehrerbildungsanstalten. Daraus entstanden die Pädagogischen Hochschulen, aus denen wurden Universitäten. Man studiert Pädagogik längst nicht mehr nur für das Lehramt, sondern kann in diesem Fach diverse Abschlüsse erwerben, diplomieren, promovieren, habilitieren, als Bachelor, Master und PHD abschließen, mit oder ohne „Bologna“. Mit pädagogischen Schriften sind Bibliotheken gefüllt. Die Anzahl pädagogischer Spezialgebiete ist unübersehbar geworden. Zu den bekanntesten heutigen Gebieten gehört die Sozialpädagogik (die 23-jährige Absolventen (m/w/d) befähigt, doppelt so alten Eltern die Welt zu erklären). Es gibt Medienpädagogik, Gesundheitspädagogik, Ernährungspädagogik, Umweltpädagogik, Alterspädagogik (Geragogik und Dementagogik!) usw. und vielleicht inzwischen schon Klimapädagogik und Coronapädagogik? Und wie wäre es zukünftig mit Nachhaltigkeits- und Resilienzpädagogik?

Nein, ernsthaft: Es ist natürlich zwingend, dass wir angesichts erheblicher neuer Gefahren, auf die wir im Zivil- und Katastrophenschutz vorbereitet sein müssen, intensiv darüber nachdenken, wie wir dafür bestmöglich schulen können.

Mit den bisherigen Anstrengungen ist es nicht getan: Unser 16-fach verwaltetes Schulsystem hat es nicht einmal geschafft, flächendeckend Erste-Hilfe-Kurse oder Schulsanitätsdienste einzuführen. Die Quote derjenigen, die eine solche Ausbildung an Schulen erfahren haben, liegt zwischen null und max. 10 %. Wenn Kinder und Jugendliche auf diesem Gebiet etwas lernen wollen, geschieht das überwiegend außerhalb der Schule, bei der Jugendfeuerwehr, beim Jugendrotkreuz, den weiteren Hilfsorganisationen oder dem THW. In Dänemark oder Belgien hingegen steht Erste Hilfe im Lehrplan der Schulen.

Dies ist vermutlich einer der Gründe, weswegen der Gedanke einer eigenständigen Bevölkerungsschutzpädagogik entstanden ist: Weil vom allgemeinen Schul- und Hochschulwesen dazu offenbar nichts erwartet wird. Liest man z.B. Gisela Kämper, “Pisa von unten, – Aus dem Alltag einer Hauptschullehrerin –“, hat man wenig Hoffnung auf Veränderung. Corona hat ebenfalls eher Schwächen im Schulwesen aufgezeigt, sicherlich mit lobenswerten Ausnahmen, denn von den digitalen, technischen und menschlichen Möglichkeiten haben keinesfalls alle Schüler profitiert. Valide Auswertungen sollten wir nicht erwarten.

Nachdem jahrhundertelang beim Militär ausgebildet wurde, wie sonst fast nirgends, kann man auch an Bundeswehr-Universitäten zum „Dipl.-päd.“ ausgebildet werden. Die Eignung zum militärischen Ausbilder oder Vorgesetzten wird allerdings nicht an diesem Diplom gemessen.

Lernziel Rechtsbewusstsein

Zu Zeiten der Wehrpflicht wurden junge Männer entweder von Bundeswehr oder Zivildienststellen ausgebildet. Während dieser Beitrag entsteht, hat die neue Wehrbeauftragte (SPD) geäußert: „Die Aussetzung der Wehrpflicht war ein Riesenfehler“. Ob darüber noch diskutiert wird, wenn diese Zeitschrift erscheint, ist fraglich in Vorwahlzeiten. Der Verfasser jedenfalls hat in einem Beitrag in CP 1/20, S. 76-77, den Vorschlag erneuert, doch ein Pflichtjahr für Männer und Frauen einzuführen, mit einer Palette von Wahlmöglichkeiten von Umweltschutz über Bevölkerungsschutz, Alten- und Kinderhilfe bis zur Verteidigung, möglichst EU-weit. 

Damit verbunden ist die Vorstellung, dass alle jungen Menschen in einer den Diensten vorgeschalteten Grundausbildung – natürlich pädagogisch, didaktisch, methodisch und menschlich bestmöglich vermittelt – erfahren, auf welche Werte unsere Gemeinschaft gegründet ist und dass Pflicht und Befähigung zur Hilfeleistung dazu gehören. Darum geht es dem BBK wie auch den Hilfsorganisationen immer wieder: Dass Kenntnisse, wie sie heute nur Minderheiten, z. B. im Schul- oder betrieblichen Sanitätsdienst, bei der Jugendfeuerwehr etc. erhalten, breiter vermittelt werden, wenn möglich an jeden in Deutschland und Europa. Eine schöne Utopie? Nein, das wäre machbar, würde man es wollen.

Das führt nun zu der Frage, ob man sich aktuell Sorgen machen muss um die charakterliche Entwicklung der Menschen in unserem Land und ob da heute ein besonderer Handlungsbedarf besteht. Natürlich wollen diejenigen, die die Gesellschaft geprägt haben, so etwas nicht hören: Aber: Nicht nur der Verfasser hat schon vor Jahren darauf hingewiesen, dass eine Erziehung mit dem Lernziel eines angemessenen Rechtsbewusstseins erforderlich ist. Nicht wenige haben gewarnt, auch das BBK...

Wo stehen wir heute? Haben wir dazu Aussagen und Nachweise?

Ja, durchaus! Alarmierende Aussagen kommen von allerhöchster Stelle: Der Bundespräsident und der Bundesinnenminister, um einmal diejenigen zu nennen, von denen wir annehmen dürfen, dass sie – flankiert durch beste Ministerialbeamte – wissen, was sie sagen, äußerten sich so:

„Es gibt eine Tendenz zur Verrohung und Entsolidarisierung in unserem Land, auf die wir reagieren müssen“, sagte der Bundespräsident, SPD, (WELT, 23.06.18) und

“Wir erleben eine hochproblematische Verrohung unserer Gesellschaft“, sagte der Bundesinnenminister, CSU, (Süddeutsche Z., 04.11.19).

Was soll (außerhalb akuter Einsätze) bei Bevölkerungsschützern noch Alarm auslösen, wenn nicht solche Aussagen? Und müssen wir nicht alles tun, um gegenzusteuern?

Aber wie? Durch Einführung eines neuen Fachgebiets? Oder mit der Besinnung auf die Werte unseres Grundgesetzes überall dort, wo erzogen und ausgebildet wird und wo vielleicht etwas vernachlässigt wurde?

Es sollte überall angesetzt werden: In Elternhäusern, Schulen, Lehrerausbildung, sonstiger Hochschulausbildung, Berufsausbildung, Ausbildung der Menschen im öffentlichen Dienst, lückenlos. Es reicht nicht, dass unser Grundgesetz anlässlich von Jubiläen gefeiert wird. Wo erzogen und ausgebildet wird, müssen seine unverbrüchlichen Werte vermittelt werden. Es kann nicht sein, dass Jugendliche den Begriff Menschenwürde nie hörten. Wer nicht weiß oder bestreitet, dass es diese Werte gibt, kennt unsere Verfassung nicht oder lehnt sie ab und sollte nirgends pädagogisch tätig sein. 

Das gilt für unseren Bevölkerungsschutz natürlich ganz besonders und für alle Bereiche von Erziehung und Ausbildung. Wir haben neben dem Schulsystem ein Bundesausbildungsgesetz, ein Bundesinstitut für Berufsausbildung, die Industrie- und Handelskammern, Berufs- und Ausbildungsordnungen, die Ausbildungsgänge des Öffentlichen Dienstes, an Schulen, Hochschulen und in der Praxis sowie die Fülle von privaten Ausbildungsgängen. Es gibt das bewährte „Duale System“ und zunehmend duale Studiengänge. Wenn vorgesehen ist, mit Modulen einer Bevölkerungsschutzpädagogik alle diese Ausbildungen in geeigneter Weise zu unterstützen, ist das uneingeschränkt zu begrüßen, ja, es ist ein Segen!

Ein neues eigenständiges Fachgebiet, als weiterer Studiengang zu den 20.000, die wir haben, sollte Bevölkerungspädagogik hingegen eher nicht werden. Sonst droht dort die Einschätzung, die Pädagogikkompendien schon kritisch-spöttisch erfahren haben: Sie seien „Kochbücher von 500 Seiten über den Hackbraten“.

Lösung Soziales Pflichtjahr?

Spaß beiseite, es geht um die äußerst ernste Frage: Wie werden wir es schaffen, angesichts ganz erheblicher neuer Gefahren, für die wir im Zivil- und Katastrophenschutz vorbereitet sein müssen, das geeignete Wissen und die Grundeinstellung bei Fachpersonal, Helfern und Bevölkerung zu verankern?

Die AKNZ (Akademie für Krisenmanagement, Notfallplanung und Zivilschutz) zeigt mit ihrem hervorragenden Jahresprogramm 2020 das Spektrum der Schulungsbereiche. Bestes Lehrpersonal steht zur Verfügung. Wer fachlich mit dem Bevölkerungsschutz in Verbindung steht und sich interessiert, hat alle Möglichkeiten, dort Wissen zu erwerben oder zu erweitern. Ja, das Angebot ist thematisch und personell eindrucksvoll. Aber wie werden die breite Bevölkerung und der offenbar kritische Anteil der Bevölkerung im Sinne der Warnung unseres Bundespräsidenten erreicht?

Wie erhält der Bevölkerungsschutz Zugang zum Schulsystem, wo bisher, wie erwähnt nur wenige erreicht werden? Wie können mehr Lehrer und Ausbilder sensibilisiert werden? „Dafür bin ich nicht Lehrerin geworden, dass ich mich jetzt mit Paragrafen herumschlagen muss“, ist ein Satz, den der Verfasser, einst im Schulrecht tätig, öfter hörte. Und: Wird eine Verwaltung, die so infrage gestellt wird wie unsere Schulverwaltung (16-fach unterschiedlich), etwas verbessern? Es erscheint zweifelhaft!

Dann aber ist es erst recht notwendig, im Anschluss an den Schulabschluss, ein breitgefächertes Pflichtjahr einzurichten, um dort zu vermitteln, was die Defizite von Elternhäusern und Schulen ausgleicht. Dorthin gehört dann, an vorderste Stelle, die Bevölkerungsschutzpädagogik.

Wenn der Innenminister, wie er in der Corona-Phase erklärte, und die FAZ am 16.6.2020 kommentierte, den deutschen Bevölkerungsschutz (mal wieder) umorganisieren will, wird dies hoffentlich nicht so erfolgen, wie „Reform“ früher im Sozialismus bespöttelt wurde:

Alle Spatzen sitzen auf dem Telefondraht. Es fällt ein Schuss. Alle Spatzen fliegen hoch und setzen sich anschließend wieder auf denselben Draht. Nur in anderer Reihenfolge. Das war die Reform.

Nein, das hätte das Land nicht verdient: Dass für so eine Reform Geld benötigt wird, das nicht (mehr) da ist. Dass Bewährtes abgeschafft und dafür ein neues System langwierig eingeführt wird, vielleicht in Zeiten unkalkulierbarer Bedrohungen. Die Fehler, die die Gesamtverteidigung nach der Wende erfahren hat, sollten sich nicht wiederholen.

Wir brauchen für unsere „Wehrhafte Demokratie“ (Formulierung des Bundesverfassungsgerichts) den besten Zivil- und Katastrophenschutz. Dass er so gut ist wie momentan noch, verdanken wir seinem motivierten staatlichen und privaten Personal. Dieses übrigens weiß genau, was zukünftig dringend verbessert und umstrukturiert werden müsste!

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