Im Hinblick auf den anhaltenden Russland-Ukraine-Konflikt und die zunehmende Bedrohung durch terroristische und kriegerische Ereignisse ist die nukleare Gefahr in den Fokus der Notfallmedizin gerückt. Strahlenunfälle stellen eine extrem seltene und darüber hinaus große Herausforderung für alle Beteiligten der präklinischen und klinischen Versorgung dar.
Einheiten des Katastrophenschutzes, des Rettungs- und Notarztdienstes und der in Frage kommenden Kliniken sind in der Abarbeitung von Strahlenunfällen kaum geübt. Die medizinische Erstversorgung und die klinische Weiterbehandlung beinhalten einige spezifische Besonderheiten. Aufgrund der Seltenheit solcher Notfälle kann von Routine bei den an der Versorgung Beteiligten (Sanitäter, Feuerwehrleute, Notärzte, Klinikpersonal) nicht die Rede sein. Eine nukleare Verseuchung infolge eines Verteidigungs- bzw. Spannungsfalls oder eines terroristischen Anschlags auf Kernkraftwerke würde neben der notfallmedizinischen Versorgung von Verletzten die Behörden und Organisationen mit Sicherheitsaufgaben personell, logistisch und strukturell fordern. Nukleare Katastrophen wie in Tschernobyl und Fukushima zeigen uns, dass solche Lagen durchaus möglich sind. Auch wenn die Kernkraftwerke im Bundesgebiet seit 2022 abgeschaltet sind, kann es zu Transportunfällen kommen. Im benachbarten Ausland befindet sich eine Vielzahl von dauerhaft betriebenen Kernkraftwerken, teilweise mit einer Entfernung von weniger als 100 Kilometern zur bundesdeutschen Grenze. Eine Vorbereitung auf solche Ereignisse scheint erforderlich zu sein. Der folgende Artikel möchte einige Aspekte der Ersten Hilfe und der notfallmedizinischen Erstversorgung aufgreifen und beleuchten.
1. Grundlagen
Eine Strahlenwirkung kann aufgrund einer externen Exposition ionisierender Strahlung (Ganz- oder Teilkörperbestrahlung) oder infolge einer internen Exposition nach Aufnahme von radioaktiven Stoffen (Inkorporation durch Inhalation, Ingestion oder Aufnahme über eine offene Wunde oder intakte Haut) auftreten.
Der Mensch ist seit jeher von ionisierender Strahlung umgeben. Ionisierende Strahlung ist jede Teilchenstrahlung oder elektromagnetische Strahlung, die in der Lage ist, aus Atomen oder Molekülen Elektronen zu entfernen, sodass positiv geladene Ionen oder Molekülreste entstehen (Ionisation).
Zu den häufigsten Formen der ionisierenden Strahlung zählen Alpha-, Beta-, Gamma- und Röntgenstrahlung. Während Alpha-Strahlung eine geringe Eindringtiefe besitzt und leicht durch die Haut abgeschirmt wird, haben Beta- und insbesondere Gamma-Strahlung eine höhere Durchdringungsfähigkeit, was sie auch gefährlicher macht.
Die Wirkung der Strahlung auf den menschlichen Körper hängt von der Art der Strahlung, der Dosis und der Dauer der Exposition ab. Schädigungen reichen von akuten – auch lebensbedrohlichen – Strahlensyndromen bis hin zu langfristigen Effekten wie Krebs und genetischen Schäden.
Strahlenunfälle: Typen und Risiken
Strahlenunfälle können auf verschiedene Arten auftreten:
1. Unfälle im Kernkraftwerk
2. Industrieunfälle
3. Medizinische Ereignisse
4. Transportunfälle
5. Terroristische Angriffe
Kernkraftunfälle sind seltene, aber potenziell katastrophale Ereignisse mit einer Vielzahl von Betroffenen und einer großen Menge freigesetzter radioaktiver Materialien und entsprechender Verseuchung von Land, Wasser, Luft und Menschen.
In der Industrie werden radioaktive Materialien für verschiedene Anwendungen, wie in der Radiographie oder in Strahlenquellen zur Materialprüfung, genutzt. Unfälle in diesem Bereich können zu lokalen Kontaminationen und externen Bestrahlungen führen.
Medizinische Vorfälle können durch Strahlenquellen bei der Therapie von Patienten hervorgerufen werden. Fehlerhafte Anwendungen oder defekte Geräte können zu lebensbedrohlichen Strahlenexpositionen führen.
Beim Transport radioaktiver Materialien besteht immer ein Risiko von Freisetzungen (bspw. Castor-Transporte).
Der absichtliche und terroristische Einsatz von Strahlenquellen mit dem Ziel der Schädigung der Bevölkerung stellt ein wachsendes Bedrohungsszenario dar.
Mögliche Szenarien sind unter anderem:
- Einsatz von Geräten für radiologische Exposition, z. B. als versteckte Strahlenquelle (Radiological Exposure Device),
- Einsatz einer Vorrichtung zur radiologischen Dispersion (Radiological Dispersion Device, z. B. sogenannte schmutzige Bombe),
- Angriff auf einen regulären Transport von radioaktivem Material,
- Kontamination von Nahrungsmitteln und Wasservorräten,
- Angriff auf eine kerntechnische Einrichtung oder eine anderweitige Einrichtung, die radioaktives Material enthält,
- Improvisierte Nuklearwaffe (Improvised Nuclear Device).
2. Strahlenschäden
Abhängig von der Strahlenart und -belastung kann es zu teils erheblichen körperlichen Schäden kommen.
Alpha- und Betastrahlung lassen sich vollständig abschirmen. Daher kann man für diese Strahlungsart eine maximale Reichweite angeben.
Gamma-, Röntgen- und Neutronenstrahlung jedoch können lediglich geschwächt werden. Der Schwächungsgrad ist vom durchdrungenen Material (Gewebe) abhängig und wird in Einheiten der Halbwerts- bzw. Zehntelwertschichtdicke angegeben.
Im Strahlenschutz gilt die 3-A-Regel:
- Aufenthaltsdauer so kurz wie möglich halten
- Abstand so groß wie möglich wählen (Abnahme der Strahleneinwirkung)
- Abschirmung ausreichend dimensioniert verwenden.
Akutes Strahlensyndrom
Das ARS tritt auf, wenn eine hohe Dosis ionisierender Strahlung über einen kurzen Zeitraum auf den Körper einwirkt. Es wird in drei Phasen unterteilt:
1. Podromalphase
2. Latenzphase
3. Manifestationsphase
Podromalphase
Die Podromalphase tritt innerhalb von Minuten bis Stunden nach der Exposition auf und ist durch Symptome wie Übelkeit, Erbrechen, Müdigkeit und Durchfall (Diarrhoe) gekennzeichnet. Die Dauer und Schwere der Symptome ist dosisabhängig.
Latenzphase
In dieser Phase scheinen sich die Symptome klinisch zu bessern, was jedoch trügerisch ist, da die Strahlenwirkung im Körper anhält.
Manifestationsphase
Je nach Strahlendosis kommt es zu spezifischen Syndromen:
- Knochenmarksyndrom: Tritt bei Dosen von 1-10 Gy auf und führt zu einer starken Unterdrückung des Knochenmarks, was Immunschwäche und Blutungsneigung verursacht.
- Gastrointestinales Syndrom: Bei Dosen ab 5 Gy wird das Verdauungssystem massiv geschädigt, was zu schweren Durchfällen, Elektrolytverlusten und Infektionen führt.
- Zerebrovaskuläres Syndrom: Bei Dosen ab 20 Gy kommt es zu einer schwerwiegenden Schädigung im zentralen Nervensystem und im Herz-Kreislauf-System, was in der Regel zu Multiorganversagen und Tod führt.
Lokale Strahlenschäden
Lokale Strahlenschäden entstehen durch direkte Bestrahlung von Körperteilen, was zu Verbrennungen, Hautnekrosen und Gewebeschäden führen kann. Diese Schäden können sowohl akut als auch chronisch auftreten und sind oft schwer zu therapieren.
Symptome an der Haut zeigen sich bei lokalen Strahlenschäden oft erst nach einigen Tagen oder mehreren Wochen. Wenn erste Symptome schon nach wenigen Stunden auftreten, deutet das auf eine sehr hohe Strahlenbelastung hin.
Strahlenkrankheit
Bei einer chronischen Exposition gegenüber niedrigen Dosen über einen längeren Zeitraum kann es zur Strahlenkrankheit kommen. Diese äußert sich durch unspezifische Symptome wie Müdigkeit, Kopfschmerzen und verminderte Leistungsfähigkeit. Langfristig besteht ein erhöhtes Risiko für die Entwicklung bösartiger Neubildungen (Krebs).
3. Maßnahmen
Das Vorgehen bei der Rettung von Personen entspricht grundsätzlich der Vorgehensweise bei allen anderen Notfall- und Katastrophensituationen. Das Anlegen einer geeigneten persönlichen Schutzausrüstung, abhängig von der Art des Strahlenunfalls, ist obligatorisch. Dazu zählen Einsatzjacke, Schutzstiefel, Helm, Einmalhandschuhe und Schutzhandschuhe, Schutzbrille, FFP-Maske, ggf. Dosiswarngerät.
Nach Rettung aus dem Gefahrenbereich, ausreichendem Abstand von der Strahlenquelle und nach dem Einleiten lebensrettender Sofortmaßnahmen (LSM) kann mit einer groben Dekontamination begonnen werden.
Die Ersteinschätzung des Verletzten erfolgt anhand des in der Notfallmedizin gebräuchlichen x-ABCDE-Schemas.
x-ABCDE-Schema
x - Exsanguination verhindern; Blutungskontrolle
A - Airway (Atemweg freihalten-/machen)
B - Breathing (Atmung prüfen, RespiratorischeStörungen beheben)
C - Circulation (Kreislauf prüfen; i.v.-Zugang;Kreislaufinsuffizienz behandeln)
D - Disability (Bewußtseinszustand erheben; GCS;Pupillendiagnostik; BZ)
E - Exposure/Environment (äußere Einflüsse wieHitze/Kälte prüfen; Wärmeerhalt)
Ziel des Sichtungsprozesses in einer CBRN-Lage ist eine bestmögliche Rettung und medizinische Versorgung der Betroffenen bei minimierter Gefährdung der Einsatzkräfte.
Lebensrettende Sofortmaßnahmen (LSM) müssen so schnell wie möglich eingeleitet werden und haben Vorrang vor einer Dekontamination. Zu den LSM zählen ggf. stabile Seitenlage, Herz-Lungen-Wiederbelebung, Blutungskontrolle und Freihalten der Atemwege.
Gegenüber konventionellen Unfällen weisen die medizinischen Erstmaßnahmen bei einem Strahlenunfall einige Besonderheiten auf, die zu beachten sind, sofern nicht der Zustand des Patienten unmittelbare, lebensrettende Sofortmaßnahmen erfordert:
a) Informationen über die Strahlenquelle und die Art der Exposition Informationen über die Strahlenquelle und die Art der Exposition sind, soweit sie vorliegen oder ohne Zeitverzögerung erfasst werden können, an das für die weitere Versorgung zuständige Team weiterzugeben.
b) Grobdekontamination
Im Zusammenhang mit lebensrettenden Sofortmaßnahmen wird gegebenenfalls nur eine Grobdekontamination durchgeführt:
- Personen, bei denen Verdacht auf eine Kontamination vorliegt, wird vor Entfernen der Kleidung eine partikelfiltrierende Halbmaske (FFP-Maske) möglichst mit Ausatemventil angelegt.
- Kontaminierte Kleidung ist zu entfernen (ggf. durch Aufschneiden). Wunden müssen vorher wasserdicht abgeklebt werden.
- Dekontaminationsmaßnahmen sollten von geschultem Personal vorgenommen werden.
- Eine Grobdekontamination der Haut durch Abwaschen mit lauwarmem Wasser sollte – soweit möglich und medizinisch vertretbar – vor dem Transport erfolgen.
- Auf mögliche Unterkühlung achten und Patienten durch z. B. Ersatzkleidung oder Rettungsdecken wärmen!
Cave: Wärmestau. Keine Plastikfolien verwenden.
c) Erstversorgung von Wunden
Bei jeder kontaminierten Wunde ist, bis eine Inkorporationsmessung erfolgt ist, von einer Inkorporation radioaktiver Substanzen auszugehen.
- Wunden sollten mit steriler Kochsalzlösung oder sterilen Elektrolyt-Lösungen, ansonsten auch mit Leitungswasser, gespült werden (Spot-Dekontamination).
- Offene Wunden sollten, soweit möglich, wasserdicht verbunden werden, um eine nachträgliche Inkorporation durch Dekontaminationsmaßnahmen an den umliegenden Hautarealen zu verhindern.
- Die Ausbreitung einer Wundkontamination kann durch Ruhigstellung vermindert werden.
- Je nach inkorporiertem Radionuklid kann eine zeitnahe Gabe von Antidot sinnvoll sein.
Diese Maßnahmen dienen auch der Vorbereitung des Transports des Patienten.
d) Kontaminationskontrolle
Die Kontaminationskontrolle bedarf der Unterstützung durch geschultes Personal. Messungen sollen nur durchgeführt werden, wenn notwendige lebensrettende Sofortmaßnahmen nicht verzögert werden.
Folgendes Vorgehen bei Strahlenunfällen: 1. Eigensicherung (Umfangreiche PSA anlegen, Dosiswarngerät mitführen) 2. Sicherheitsabstand (mind. 2 Meter, je weiter weg desto besser) 3. Lebensrettende Sofortmaßnahmen und begleitend: 4. Dekontamination (Entfernen kontaminierter Kleidung, gründliches Abwaschender Haut mit Wasser und Seife, Augenspülung im Bedarfsfall mit sterilem Wasser) |
Zur Weiterbehandlung und nach Dekontamination in einem spezialisierten DEKON-Bereich der Feuerwehr sollte zeitnah der Transport in eine geeignete Zielklinik vorbereitet werden. Dazu sollte der Verletzte vollständig entkleidet sein und ein Wärmeerhalt gewährleistet werden. Dazu kann zusätzlich der Patienteninnenraum des Rettungsmittels vorgeheizt werden.
Die Entfernung kontaminierter Kleidung reduziert erfahrungsgemäß die Kontamination um bis zu 90 %! |
Neben der Transportvorbereitung sollten durch das Rettungsfachpersonal die Strahlendosis, die Symptome und die durchgeführten Maßnahmen dokumentiert werden. Wenn aufgrund einer großen Anzahl von Betroffenen (Massenanfall von Verletzten oder Erkrankten (MANV)) eine individuelle Dekontamination nicht möglich ist, soll- ten die folgenden Hinweise zur Personenselbstdekontamination gegeben werden:
- Vor Dekontamination nicht essen, trinken oder rauchen,
- die eigene Wohnung unverzüglich aufsuchen,
- Schuhe vor Betreten der Wohnung ausziehen,
- Ablegen möglicherweise kontaminierter Kleidung (Aufbewahrung von Schuhen und Kleidung in einem beschrifteten Plastiksack außerhalb des Wohnbereiches),
- die zuvor unbedeckten Körperteile waschen (Hände, Gesicht, Hals, Haare),dabei beachten, dass durch herabfließendes, kontaminiertes Wasser die Schleimhäute (Mund, Nase, Bindehäute) nicht kontaminiert werden (Gefahr der Inkorporation),
- anschließend Duschen inklusive Waschen der Haare,
- nicht kontaminierte Kleidung anziehen.
Die psychosoziale Betreuung stellt vor allem bei einer Vielzahl zu dekontaminierenden Personen eine große Herausforderung dar. Hier sollte frühzeitig auf die Unterstützung durch für Strahlennotfälle speziell geschulte Kriseninterventionskräfte zurückgegriffen werden.
In spezialisierten Kliniken erfolgen umfassende diagnostische und therapeutische Maßnahmen. Eine neue und in der Weiterentwicklung befindliche App ermöglicht den Ärzten in der Klinik eine Einschätzung des Schweregrades („H-Module 1.3“). Langfristige Effekte von Strahlenexpositionen erfordern eine kontinuierliche medizinische Überwachung. Dies umfasst regelmäßige Kontrollen zur Früherkennung von Krebs, Behandlungen von Strahlenspätschäden und gegebenenfalls psychologische Betreuung. Strahlenunfälle haben nicht nur physische, sondern auch psychologische Auswirkungen auf die Betroffenen. Angst vor der Strahlenbelastung und Zukunftsängste sind häufig vorzufinden. Daher sollte die psychologische Betreuung ein wesentlicher Pfeiler der Nachsorge sein.
Weitere Informationen finden sich in der Empfehlung der Strahlenschutzkommission „Strahlennotfallmedizin – Handbuch für die medizinische Versorgung und Ausbildung“.
Crisis Prevention 3/2024
André Luhmer
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