Das Bundeswehrkrankenhaus Hamburg und das Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf (UKE) haben eine bisher einzigartige Ausbildung etabliert. Die „Katastrophenmedizin“ für Medizinstudentinnen und -studenten wird hier seit 2020 erfolgreich unterrichtet und soll nun bundesweit Früchte tragen.
Rund fünfzig Terroranschläge und knapp dreißig Naturkatastrophen – die besorgniserregende Bilanz allein für das Jahr 2023. Tendenz steigend. Auch das Verständnis einer Pandemie ist inzwischen nicht nur aus dem Lehrbuch abzuleiten. Aktuell überschatten allerdings insbesondere die kriegerischen Auseinandersetzungen das internationale Geschehen.
Der Konflikt zwischen Israel und der Hamas hat seit dem 07. Oktober 2023 mehr als 4000 Menschenleben gefordert – 40 Prozent davon Kinder und Jugendliche. Der Krieg zwischen Russland und der Ukraine, soll laut ukrainischen Schätzungen, rund 36tausend Zivilisten das Leben gekostet haben.
Eine medizinische Versorgung in diesen Brennpunkten gleicht einem absoluten Ausnahmezustand. Aber sind wir auf diese Ausnahmezustände ausreichend vorbereitet? Die Antwort ist leider „Nein“. Dennoch gibt es Mediziner, die das Problem aktiv angehen.
Ganz nah dran
Ortswechsel an die Elbe. Es fallen Schüsse – an einem Freitagvormittag direkt auf dem Gelände des Bundeswehrkrankenhauses Hamburg. Wenige Sekunden später stürmen drei vollvermummte Männer mit einem Verletzten an Studierenden vorbei. Das eingespielte Team der Polizeibeamten des SEK versorgt einen angeschossenen Kollegen vor den Augen von 20 Studierenden.
Die Übung der Spezialeinheit des Landeskriminalamtes 24 der Polizei Hamburg ist real. Die verwendete Munition ist es zum Glück nicht und auch die Schusswunde des Polizisten ist vorgetäuscht. Ein Mitglied der Spezialkräfte erklärt ausführlich, warum jeder Schritt bei der Erstversorgung des Kollegen so wichtig ist und ab wann die Notärztin oder der Notarzt dazukommen darf, ohne sich selbst in Gefahr zu begeben. Alles ist Teil einer Simulation und ein Unterrichtselement der „Katastrophenmedizin".
Einzigartiges Projekt
Das Wahlpflichtfach „Katastrophenmedizin" soll zukünftigen Ärztinnen und Ärzten Wissen, Fähigkeiten und Einblicke vermitteln, die sie in dieser Form im Studium und auch in ihren ersten Weiterbildungsjahren vermutlich nicht bekommen würden. Die Inhalte basieren auf dem Konzept der katastrophenmedizinischen Ausbildung im studentischen Unterricht an deutschen Hochschulen, entwickelt vom Bundesamt für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe.
Es ist bundesweit das einzige Projekt dieser Art und in seiner Komplexität die angemessene Antwort auf die aktuellen Herausforderungen: Terroranschläge und Flutkatastrophen der vergangenen Jahre haben gezeigt, wo es auch in der medizinischen Versorgung Lücken zu füllen gibt.
Das Wahlpflichtfach „Katastrophenmedizin" soll seinen Teil dazu beitragen. Die Inhalte basieren auf dem Konzept der katastrophenmedizinischen Ausbildung im studentischen Unterricht an deutschen Hochschulen, entwickelt vom Bundesamt für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe.
Mehr als 140 Seminare um zukünftigen Ärztinnen und Ärzten Wissen, Fähigkeiten und Einblicke zu vermitteln, die sie in dieser Form im Studium und auch in ihren ersten Weiterbildungsjahren vermutlich nicht bekommen würden.
Enge Zusammenarbeit zwischen Militär und zivilen Hilfsorganisationen
Interdisziplinär verbindet sich hier zum Beispiel die Anästhesie mit der Ethik, die Chirurgie mit der Infektiologie. Die Liste der Fächer ist lang, sowie die der Kooperationspartner – das AKW Krümmel, die Feuerwehrleitstelle, der Deutsche Wetterdienst, die Rettungshundestaffel, der THW, die Hamburger Polizei, um nur einige zu nennen.
Die Studierenden sollen viel für ihre spätere Arbeit mitnehmen. Selbst die, die nicht in die Notfallversorgung möchten. Trainiert wird breitgefächert: Dynamische Patientensimulation, die Dekontamination von Verletzten, Brandschutz und Evakuierung, oder auch die psychosoziale Notfallversorgung.
Die lebensrettenden Anlagen von Tourniquets und Pelvic Binder können die Studierenden nach ihrem Durchlauf fast im Schlaf. Auch ein chirurgischer Atemweg oder eine Thoraxdrainage sind nach dem Kurs kein Neuland mehr.
Die ersten Ideen zur „Katastrophenmedizin" gibt es bereits seit 2012. Zu diesem Zeitpunkt wirbt auch die sanitätsdienstliche Führung für die Implementierung der Einsatzmedizin an den Hochschulen. Doch erst 2017 nimmt das Projekt am Bundeswehrkrankenhaus Hamburg wirklich Gestalt an, damals noch unter der Leitung des Generalsarztes a. D. Dr. Joachim Hoitz. Sein Nachfolger sowie heutiger ärztlicher Direktor und Kommandeur, Oberstarzt Dr. Thomas Harbaum, führt mit seinem Team das Projekt aus tiefster Überzeugung fort.
„Die Ansprüche an jede und jeden Einzelnen in der akuten Katastrophenmedizin unterscheiden sich diametral von denen der klinischen Individualmedizin. Auch allein schnelle, fundierte Entscheidungen in komplexen Lagen zu treffen und die Bereitschaft, Verantwortung dafür zu übernehmen, setzen eine sehr gründliche Ausbildung voraus“, so Harbaum.
Für den Oberstarzt kann das Bundeswehrkrankenhaus Hamburg mit seinen jahrelangen Erfahrungen aus den Einsätzen wichtige Impulse geben.
„Die akademische Kooperation im Bereich der Katastrophenmedizin zeigt einmal mehr, wie harmonisch mittlerweile das Hamburger Netzwerk mit dem UKE funktioniert", bilanziert Harbaum weiter.
„Wir wollen der nächsten Generation an Mediziner:innen einen Blick über den fachlichen Tellerrand hinaus ermöglichen, sprich im Katastrophenfall weg von der universitären Individualmedizin, hin zur Katastrophenmedizin außerhalb der eigenen Komfortzone und am Ressourcenlimit", greift Oberfeldarzt Dr. Clemens Bopp das Thema auf.
Der Anästhesist-, Notfall- und Intensivmediziner am Bundeswehrkrankenhaus Hamburg blickt zusammen mit seinem chirurgischen Kollegen Oberfeldarzt Dr. Daniel Hinck, inzwischen an der Führungsakademie der Bundeswehr, auf jeweils mehr als 20 Jahre Einsatz- und Notfallversorgung zurück. Ihre Patientenfälle aus extremen Situationen teilen die Dozenten hier mit den Studierenden und besprechen gemeinsam Vorgehensweisen aus der Militärchirurgie und erklären diese detailliert für den Katastrophenfall.
„Damage Control Surgery ist die Pflicht eines Chirurgen in Katastrophen - Tactical Abbreviated Surgical Care die Kür, wenn sich chirurgisches Handeln durch äußere Einflüsse am Limit bewegt. Hier setzten wir mit unserer Lehre an, um zu zeigen, irgendwas geht immer.", meint Oberfeldarzt Dr. Daniel Hinck.
Bei einer „Damage Control Surgery", wird der Patient schnellstmöglich operativ stabilisiert und eine Gefäßverletzung zum Beispiel mit einem Plastikschlauch zur Überbrückung versorgt. Die bestmögliche Versorgung findet zeitversetzt unter kontrollierten Bedingungen statt. Im Falle der „Tactical Abbreviated Surgical Care" kann bei einem solchen Gefäßdefekt vielleicht nur ein Ballon zur Gefäßblockade eingelegt werden. Unter Inkaufnahme des Verlustes der Extremität.
„So viel Wissen und praktische Übungen konnte keiner von uns allein vermitteln. Auch keines der beiden Krankenhäuser. Jeder brauchte die Expertise und auch die Ausstattung des jeweils anderen Klinikpartners.", leitet Oberfeldarzt Dr. Bopp zu seinem universitären Kollegen über.
Dr. André Dankert ist Anästhesist und Notfallmediziner und mit seiner langjährigen Erfahrung im Hamburger Katastrophenschutz das Pendant am Universitätskrankenhaus Hamburg Eppendorf. Er ist mitverantwortlich für die Neuausrichtung des Katastrophenschutzes in der Hansestadt.
„Die geopolitische Lage und der Wandel des Klimas zwingt Ärzte und medizinisches Fachpersonal dazu, sich auf kommende Ereignisse besser vorzubereiten. Stand heute sind Lehrinhalte der Notfallmedizin nur Randgebiete der medizinischen Ausbildung und es wird auf den Katastrophenfall nicht vorbereitet.", so Dr. André Dankert.
Dankert, Bopp und Hinck bilden die Leitung der „Katastrophenmedizin", als das Wahlpflichtfach 2020 zum ersten Mal den Hamburger Medizinstudenten angeboten wird.
Seit 2021 ist auch Oberstabsarzt Dr. Constanze Witzel, als Weiterbildungsassistentin der Chirurgie aus dem Bundeswehrkrankenhaus Hamburg, fester Teil des Leitungsteams. Sie bringt zudem Vorerfahrungen aus ihrem ersten Berufsleben als Journalistin mit.
Ein fester Teil des Curriculums
Die „Katastrophenmedizin" als Wahlpflichtfach (kurz WP) ist fest integriert im Lehrplan für Medizinstudierende des Universitätsklinikums Hamburg Eppendorf.
Einmal im Semester findet für zwei Wochen diese Vertiefung statt. Mit dem 9. Semester im Dezember 2022 hat das Projekt zum ersten Mal seinen vollen Umfang erreicht. Jetzt werden jedes Jahr von Semester zwei bis neun insgesamt 20 Studierende ihr Wahlpflichtfach durchlaufen und auch in diesem geprüft werden. Die Resonanz ist groß, aber die Plätze begrenzt. Letztlich entscheidet ein Losverfahren der Universität.
„Wir sind inzwischen ein Opfer des eigenen Erfolgs.", lacht Oberfeldarzt Dr. Bopp. „Was einmal als Herzensprojekt angefangen hat, wird mit jedem Jahr arbeitsintensiver. Wir machen das hier alle noch neben unseren eigentlichen Kernaufgaben am Klinikum. Aber wir machen es gern!"
Ein Teil der Medizin der Zukunft
Ziel war es trotzdem das Projekt zu erweitern - die Einblicke und Lerneffekte auch einem größeren Personenkreis zugänglich zu machen und nicht nur ortsgebunden zu belassen. Doch das Team des Bundeswehrkrankenhauses Hamburg und des UKE hat dafür selbst zu wenig Kapazitäten. Ein Grund, sich Unterstützung zu suchen.
Innerhalb der Bundeswehr lag es damit nahe, sich an die Sanitätsakademie der Bundeswehr in München zu wenden. Kommandeur Generalstabsarzt Dr. Hans-Ulrich Holtherm zeigte direkt großes Interesse an dem Projekt des Bundeswehrkrankenhauses Hamburg. Ende Oktober 2023 wurde durch ihn die erste Sonderkonferenz einberufen, die auch in Zukunft bundesweit zivile und militärische Experten an einen Tisch bringen soll.
„Wir wollen uns in Zukunft noch mehr auf die einsatzvorbereitende Medizin konzentrieren und eben auch auf die Aspekte der Versorgung, die die komplette Katastrophenmedizin mit abdecken. Der Auftrag der Bundeswehr wird sich in kommenden Jahren mehr auf die Bündnis- und Landesverteidigung ausrichten und somit müssen wir auch auf die damit verbundenen Katastrophenszenarien vorbereitet sein.", so Generalstabsarzt Dr. Hans-Ulrich Holtherm und ergänzt „Das Hamburger Konzept ist ideal für diese Ausbildung und wir als Sanitätsakademie der Bundeswehr freuen uns auf eine erfolgreiche Zusammenarbeit mit dem Bundeswehrkrankenhaus Hamburg und dem Universitätsklinikum Eppendorf.“
Die „Katastrophenmedizin“ rückt damit immer weiter in den Fokus und bekommt die Aufmerksamkeit, die das Thema wohl schon lange verdient hätte. Die Studenten des durchlaufenen Wahlpflichtfaches aus Hamburg fühlen sich zumindest besser auf den Ernstfall vorbereitet. Immer in der Hoffnung, dass das Wissen nie selbst angewendet werden muss. Aber dieser Wunsch wird, bei der aktuellen internationalen Lage, wohl kaum in Erfüllung gehen.
Crisis Prevention 4/2023
Dr. Constanze Witzel
Bundeswehrkrankenhaus
Hamburg Lesserstraße 180
22049 Hamburg
E-Mail: ConstanzeWitzel@bundeswehr.org