Mit diesem Artikel wende ich mich an jene Leser der CRISIS PREVENTION, die sich im weitesten Sinne mit der Gefahrenabwehr in der Bundesrepublik Deutschland befassen. Gerade durch eine Mischung aus hauptamtlichen Kräften und ehrenamtlichen Freiwilligen ist Deutschland, auch und im Besonderen im weltweiten Vergleich, in dieser Hinsicht hervorragend aufgestellt. Dies gilt für die überwiegende Zahl der Gefahren, mit denen wir in der Republik konfrontiert werden können. Dennoch gibt es Bereiche, in denen vor allem die quantitativen Annahmen über die gesamtstaatlich zur Verfügung stehenden Fähigkeiten nicht der Realität entsprechen. Dies trifft für den Bereich der ABC-Abwehr zu, über welchen bei bestimmten Szenarien Aussagen über Erwartungen an die Leistungs- und Unterstützungsfähigkeit der Bundeswehr getroffen werden, die innerhalb der Bundesrepublik Deutschland nach einem ABC-Ereignis zum Einsatz kommen sollten. Der Beitrag soll am Beispiel der Einsatzrealität der ABC-Abwehrkräfte der Bundeswehr ihre Möglichkeiten aufzeigen, gleichzeitig aber auch mit dem hohen Bindungsgrad der Kräfte deren Grenzen. Dies soll dem Leser eine realistische Beurteilung der Lage ermöglichen und besonders den zivilen Entscheidungsträgern eine Grundlage zur Einschätzung einer möglichen Unterstützung geben.
Der Schutz vor dem möglichen Einsatz von chemischen, biologischen, radiologischen oder nuklearen Kampfmitteln oder Gefahrstoffen im Inneren ist eine gesamtstaatliche Aufgabe, die in der Bundesrepublik Deutschland in erster Linie Aufgabe der Bundesländer und deren Behörden ist. Dies ergibt sich in der Hauptsache aus dem Grundgesetz Artikel 30, der sogenannten „Kompetenzvermutung“, welche Aufgaben der Verwaltung und der Gefahrenabwehr den Bundesländern zuordnet. Die Bundesländer haben entsprechende Vorkehrungen getroffen, Fähigkeiten zu entwickeln und in ihren „Behörden und Organisationen mit Sicherheitsaufgaben“ (BOS) entsprechende Kapazitäten bereitzustellen.
Der Bund unterstützt dabei die Länder in der Fähigkeitsentwicklung. So hat beispielsweise das Bundesamt für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe den Bundesländern Mittel für die ABC-Aufklärung (ABC-Aufklärungsfahrzeuge) und Dekontamination (Dekon-P-Module) zur Verfügung gestellt. Damit können die Bundesländer in begrenztem Umfang dem möglichen Auftreten solcher Gefahren begegnen. Sobald der Umfang jedoch eine bestimmte Größenordnung überschreitet, wird auf die Bundeswehr und ihre ABC-Abwehrfähigkeiten – dieser Artikel wird hierzu noch im Späteren detaillierter ausführen – verwiesen, die dann zum Einsatz kommen sollen.
Der Einsatz der Bundeswehr im Inneren ist grundgesetzlich geregelt, dies soll hier nicht diskutiert werden. Vielmehr ist die Frage entscheidend, was die Bundeswehr tatsächlich zu leisten in der Lage wäre, falls es zu einem ABC-Ereignis in Deutschland käme. Diese Erwartungen scheinen grundsätzlich überhöht, da die Umfänge und Fähigkeiten der Bundeswehr oftmals falsch eingeschätzt werden und damit zu einer falschen Beurteilung der Lage führen. Es steht außer Frage, dass die Bundeswehr, dem Artikel 35 GG folgend, in einer konkreten Lage mit allen verfügbaren Kräften unterstützen wird.
Nach der langen Phase eines vermeintlich „ewigen Friedens“ nach 1989 müssen wir heute feststellen, dass sich das sicherheitspolitische Umfeld verändert hat. Staatliche Akteure wie Russland, Syrien, Libyen oder Nordkorea verfügen neuerdings oder immer noch über Massenvernichtungswaffen¸ deren Androhung des Einsatzes oder auch ein Einsatz an sich nicht grundsätzlich ausgeschlossen werden kann. Weiterhin ist der Einsatz von radiologischen, biologischen und chemischen Kampfstoffen im Rahmen terroristischer Attacken ein realistisches Szenario, bei welchem sich nicht mehr die Frage stellt, ob dieses Ereignis eintreten wird, sondern nur wann.
Im Rahmen der ab 1990 durchgeführten Reduzierung der Bundeswehr – in verschiedenem Kontext auch Friedensdividende genannt – wurden auch die Kräfte der ABC-Abwehr der Bundeswehr signifikant vermindert. Von ursprünglichen acht Bataillonen sieht die derzeitige Struktur der Streitkräfte lediglich noch zwei Bataillone sowie die Schule ABC-Abwehr und gesetzliche Schutzaufgaben unter der Führung des in Bruchsal beheimateten ABC-Abwehrkommandos der Bundeswehr (ABCAbwKdoBw) vor.
Dieses Fähigkeitskommando ist für die ABC-Abwehrkräfte der Bundeswehr (ABCAbwKrBw) sowie deren Weiterentwicklung verantwortlich. Die Struktur wurde schlank und konsequent ausgeplant und fokussierte sich auf die Unterstützung von zwei Einsatzgebieten, welche in einem Kontingentsystem zu bedienen waren. Vor dem Hintergrund dieser planerischen Vorgaben wurde die Fähigkeit ABC-Abwehr insgesamt um 75 % gekürzt. Diese Entscheidung muss in ihrem zeitlichen Kontext bewertet werden und war zur damaligen Zeit vertretbar.
Welche Kräfte sind nun verfügbar oder können notfalls auch unter Inkaufnahme von anderen Lücken verfügbar gemacht werden?
Verfügbar sind in diesem Sinne all jene Kräfte, die sich nicht in Einsatz, Übung oder Ausbildung befinden. Da die Soldaten und Soldatinnen in der Regel kein Lebensarbeitszeitverhältnis haben, sondern nur zeitlich begrenzt bei der Bundeswehr sind, ist deren Stehzeit – im Vergleich zu anderen Organisationen wie z. B. Polizei oder Feuerwehr – eine deutlich kürzere. Der Ausbildungs- und Übungsbedarf ist demgemäß deutlich höher.
Zudem sind die vorhandenen ABC-Abwehrfähigkeiten der Bundeswehr primär für den Schutz und die Sicherheit der Truppe im Einsatz eingesetzt. Sie fügen sich in das Fähigkeitsspektrum der Bundeswehr ein und sind auf dieses System optimiert. Ihre Ausprägung orientiert sich an den Bedrohungs- und Risikoanalysen, welche national und multinational im Rahmen der NATO und EU aufgestellt werden. Die Verfügbarkeit der ABC-Abwehrkräfte im In- wie im Ausland ist abhängig von den konkreten Aufträgen und Einsätzen, welche das ABCAbwKdoBw zu erfüllen und durchzuführen hat.
Hier sind vor allem die Einsatzverpflichtungen der Bundeswehr zu nennen. Immer noch sind die Einsätze im Kosovo (KFOR) sowie in Afghanistan (Resolute Support) zu bedienen. Das ABCAbwKdoBw stellt folglich die ABCAbwKrBw für den Schutz der Kontingente. Eine der Aufgaben im Rahmen der Dekontamination ist die Tierseuchenprophylaxe, eine gesetzliche Auflage der Europäischen Union, die auch für die Bundeswehr bindend ist. Diese Kräfte werden voraussichtlich bis Ende 2018, ggf. auch länger im Einsatz gebunden sein.
Zu diesen „klassischen“ Aufträgen kommen die Ausbildungsunterstützung NORD-IRAK in ERBIL, die Operation COUNTER DAESH sowie der Einsatz in Mali (MINUSMA= Multidimensionale integrierte Stabilisierungsoperation MALI). Die erstgenannte Operation dient dazu, irakische Kräfte so auszubilden, dass sie in der Lage sind, ihre eigene Sicherheit wieder herzustellen und zu sichern.
COUNTER DAESH ist der multinationale Kampf gegen den sog. Islamischen Staat, an dem sich die Bundesrepublik Deutschland beteiligt. Die Kontingente sind derzeit in der Regel nicht groß, aber mit den Kräften, die in permanenter Bereitschaft in Deutschland gehalten werden müssen, wird schnell eine Zahl deutlich oberhalb der 50 erreicht. Mit Vor- und Nachbereitung der Soldatinnen und Soldaten wird schnell eine Zahl von 150 überschritten. Zudem verlangt die zunehmende Multinationalisierung eine deutlich intensivere Übungstätigkeit und Vorbereitung.
Neben diesen konkreten Einsätzen ist das ABCAbwKdoBw wesentlich in die sogenannten „einsatzgleichen Verpflichtungen“ eingebunden. Eines der beiden Bataillone des Kommandos wird beispielsweise im Rahmen der NATO Response Force (NRF) das multinationale ABC-Abwehrbataillon der NATO führen und dafür, neben dem Stab, weitere eigene Kräfte verfügbar machen. Das ABCAbwKdoBw stellt zudem den Kern und die Führung des „CBRN[1] JOINT ASSESSMENT TEAMS“, welches zusammen mit dem multinationalen ABCAbwBtl die „Combined Joint CBRN Defence Task Force“ bildet.
Eine Kompanie des Bataillons ist bereits seit 2015 in einem hohen Bereitschaftsstatus und für Aufträge basierend auf der NATO Unterstützung abrufbereit. Um diesem Anspruch gerecht zu werden, um Ausbildung und Integration in den multinationalen Rahmen zu gewährleisten, war diese Kompanie kürzlich drei Monate in Litauen eingesetzt. Damit ist dieses Bataillon bis Ende 2018 nur bedingt für weitere Aufgaben verfügbar.
Darüber hinaus muss das ABCAbwKdoBw dauerhaft Kräfte für militärische Evakuierungsoperationen und zur Unterstützung von Spezialkräften bereithalten, die somit für weitere Verwendungen nur sehr eingeschränkt zur Disposition stehen.
Um diese extrem fordernde Professionalität der Kräfte zu halten, sind Übungsbeteiligungen und Ausbildungen – auch unter realistischen Bedingungen – unerlässlich. Zudem wird das Übungsumfeld aus oben bereits erwähnten Gründen zunehmend internationaler. In Kanada, den USA und zukünftig vielleicht auch in der Slowakei üben Kräfte der ABCAbw mit echten Kampfstoffen.
In den USA trainieren unsere Dekontaminationskräfte zusammen mit Spezialisten der US-Streitkräfte. Vielfältige Beteiligungen an multinationalen Übungen im Rahmen der Bereitstellung von ABC-Abwehrfähigkeiten für die „schnelle Eingreiftruppe der NATO“ sind fester Bestandteil der Ausbildung. Europäisches Engagement, zum Beispiel mit den niederländischen Streitkräften, rundet dieses notwendige Portfolio ab.
Nur so sind wir in der Lage, in der Koalition weltweit effektiv operieren zu können. Planung, Vorbereitung und Durchführung binden die Kräfte deutlich in Zeit und Stärke, sind aber Garant des Erfolges und schränken die Verfügbarkeit weiter ein.
Zusammenfassend ist festzustellen, dass die Konsequenzen der Reduzierung der ABCAbwKrBw in den letzten 20 Jahren klar erkennbar und im Dienstbetrieb spürbar sind. Die Einbindung des ABCAbwKdoBw sowie seiner zwei Verbände und der Schule ist mannigfaltig: Missionen, einsatzgleiche Verpflichtungen, multinationale Übungen, interkontinentales Training.
Das deutsche Engagement bei einer Fähigkeitsbündelung auf Ebene der NATO und EU soll der stattgefundenen Reduzierung der ABCAbwKrBw entgegen wirken.
Die deutschen Fähigkeiten in diesem Bereich werden breiter und tiefer. Spezialisten im Feld, Profis an der Basis und Wissenschaftler im Labor sind bestrebt, diese Palette fortwährend zu erweitern, das vorhandene Wissen zu festigen und derzeit noch unbekannte Wege mit neuen möglichen Partnern gemeinsam zu begehen.
Eben wegen dieses Engagements sind die ABCAbwKrBw nur in sehr geringem Umfang im Sinne der Annahme dieses Artikels verfügbar und können nicht in die Krisenalarmpläne der BOS aufgenommen werden. Bei längerfristig planbaren, vorhersehbaren Ereignissen ist das ABCAbwKdoBw bemüht, Forderungen nach Unterstützung im Rahmen der Amtshilfe gerecht zu werden und die eigene Planung darauf abzustimmen. Bei adhoc-Anforderungen nach einem Unfall oder einer Katastrophe kann diese Unterstützung im Vorhinein nicht zugesichert werden.
Aller Reduzierung und aller Einsätze zum Trotz steht aber außer Frage, dass eine Unterstützung mit den Fähigkeiten des Kommandos geleistet wird, wann immer dies möglich ist.
[1] CBRN Defence ist der in der NATO verwendete Begriff für ABC-Abwehr
Crisis Prevention 3/2017
Henry Neumann
Oberst und Kommandeur
ABC-Abwehrkommando der Bundeswehr
General-Dr.-Speidel-Kaserne
Am Eichelberg
76646 Bruchsal
Tel.: 07251/938 - 2000
E-Mail: ABCAbwKdoBwKdr@bundeswehr.org