27.03.2023 •

Guten Morgen Sonnenschein!

Michael Peter Löffler

Morgendliche Einteilung und Tourenzuordnung der Spontanhelfenden.
Michael Peter Löffler/Helfershuttle Ahrtal

Die Nacht vom 14. auf den 15. Juli 2021 führte im Ahrtal zu einer Katastrophe, die bis zu diesem Zeitpunkt in Deutschland von der Dimension der konzentrierten Zerstörung, dem Grad der individuellen Betroffenheit und auch der Anteilnahme und Hilfsbereitschaft schwer vergleichbar ist.

Am Anfang vom HelferShuttel standen zwei Freunde, Thomas Pütz und Marc Ulrich. Ahrtäler durch und durch. Beide partiell betroffen und wie alle geschockt, ob dieses unfassbaren Ausmaßes. Die notwendige Entscheidung des örtlichen Katastrophenmanagements, die verbliebenen Zufahrtsmöglichkeiten für Rettungskräfte freizuhalten und breit zu kommunizieren, dass Spontanhelfende nicht anreisen können / sollen / dürfen (hier gab es, je nach Sichtweise, unterschiedliche Interpretationen der vollzogenen Sperrung), lösten bei ihnen zwei Gedanken aus: Das fassen wir nicht! – Da machen wir was! Ein paar Telefonate, einen alten Campingtisch und einen Sonnenschirm später, stand die Startausstattung und die Idee zur Gründung des „HelferShuttle“. Zwei Leitprinzipien kristallisierten sich ebenso schnell: Jeder kann helfen! und Jeder trägt (eigene) Verantwortung! Zwei Tage später wurden die ersten 300 Spontanhelfer „geshuttlet“! 

Guten Morgen Sonnenschein!

Wie heißt es so schön: Der Rest ist Geschichte

In Summe wurden 125.000 Spontanhelfende geshuttlet. Es wurden insgesamt von den Spontanhelfenden 937.500 Einsatzstunden erbracht. Das entspricht einer Wertschöpfung bzw. Wiederaufbauleistung von 37,5 Mio €. Über 500.000 km Shuttlestrecke, 15.000 Einzelanfragen / Aufträge. Und das alles in einem spontan entstandenen und agil arbeitenden Konstrukt von Spontanhelfenden. Alles Zufall?

Täglich, irgendwann zwischen sieben und acht Uhr morgens, trällerte Nana Mouskouri aus den Lautsprechern und füllte das Gelände des Helfer-Shuttle mit einem: Guten Morgen, Guten Morgen, Guten Morgen Sonnenschein. Das war der Weckruf. Das Signal. Der Startpunkt der dann greifenden Tagesroutinen, die sich einfach so entwickelt hatten. Die Küchencrew hatte den ersten Kaffee und die ersten Brötchen vorbereitet. Spenden von woher auch immer, machten es möglich hier eine Grundversorgung beginnend mit einem kleinen Frühstück sicherzustellen. Die Tagesplanung wurde am Vorabend abgeschlossen, in der Regel „stand“ sie ab 22:00 Uhr. In ihr wurden alle Anfragen, eingegangen per Telefon, per Mail oder online, über ein Formular verdichtet, terminiert, gruppiert und Touren zugeordnet.

Doch Tagesplanung klingt so stabil und sicher. Sicher war nur: Es gibt wieder viel zu tun. Sicher war auch: Irgendwas ändert sich noch ad hoc. Und sicher war auch: Erst gegen 11:00 Uhr werden wir wissen, ob wir es wieder „geschafft“ haben, oder Hilfesuchende auf den Folgetag vertrösten müssen. Die täglich große Unbekannte war nämlich: Wie viele Spontanhelfende werden am Morgen dem Aufruf in den (Sozialen) Medien gefolgt sein und packen mit an. Geplant und vorbereitet war ja „nur“, wo werden wir heute erwartet. Schlamm schippen, entrümpeln, kärchern, Putz abschlagen, umräumen. Nach Ortschaften, Adressen und Truppstärke sortiert, begann ab 09:00 Uhr nach einer kurzen prägnanten Sicherheits- und Verhaltensbelehrung die Sortierung auf geplante Fahrzeuge. Auf das glatte Terrain von Hochrechnungen hatten wir uns erst in der dritten oder vierten Woche gewagt. Ich war davon überzeugt: Jeder Würstchenbudenbesitzer muss ein Gefühl entwickeln, wie viele Portionen er vorbereiten und auf dem Grill zubereiten kann. Macht er das nicht geht er Pleite. Also muss es doch möglich sein, hier in Prognoserechnungen einzusteigen. 

Wir taten es, was uns auch erstaunlich gut gelang. Skeptisch beäugt, schnell zu einem internen Wettspiel entwickelt und extrem hilfreich für alle weiteren Folgeplanungen. Die Schwankungsbreite der Prognosen lag im Schnitt bei plus minus 50 Spontanhelfenden. Die Bandbreite pro Woche erstreckte sich aber von den „ruhigen Tagen“ mit 250 zu den „heißen Tagen“ mit bis zu 3.500 Spontanhelfenden.

Entwicklung der Anzahl von Spontanhelfenden in den ersten vier Monaten.
Entwicklung der Anzahl von Spontanhelfenden in den ersten vier Monaten.
Quelle: HelferShuttle

Das bedeutete immer:

Haben wir morgen ausreichend Fahrzeuge, Fahrer mit den passenden Zulassungen, Getränke und Essen für den Zeitpunkt der Rückkehr? Reichen die sanitären Möglichkeiten?

Haben wir morgen genug Spontanhelfende, die uns bei der Organisation unterstützen: In der Tourenplanung, der sanitätstechnischen Versorgung am Platz, dem Essenszelt, dem Materiallager (welches irgendwann immer mehr den Charakter eines kleinen Baumarktes entwickelte), der Koordination der freiwilligen Essensspender, die zwischenzeitlich auf uns aufmerksam geworden sind und auch etwas beitragen wollten („Ich komme am Samstag mit 500 Portionen Döner“), der Hotline („shuttlet ihr auch am Sonntag?“), der Betreuung des Email-Account etc. 

Und zu guter Letzt: Bleibt es trocken? Reichen die Parkplätze? Haben wir genügend Einweiser? 

Agiles Management und agile Managementstrukturen haben sich hier auf „natürliche Weise“ etabliert. Gewürzt mit einer flachen (bzw. nahezu keiner) Hierarchie. Jeder war willkommen und durfte anpacken (und sich ggf. auch ausprobieren) Was „Mist“ war wurde umgehend per „Abstimmung mit den Füßen“ sanktioniert. Wer Chef spielen wollte, wurde umgehend geerdet. Denn alle, die vor Ort waren, waren spontan und freiwillig hier. Jede und Jeder hatte die Möglichkeit sich am Abend oder am Morgen neu zu entscheiden: komme ich wieder, oder bleibe ich daheim. Jede und Jeder hatte die Möglichkeit, schlichtweg auch sein „eigenes Ding“ zu machen. Grenzen setzte vollkommen natürlich die Gruppendynamik. Der gemeinsame Konsens: Vielfallt, Flexibilität, (Fehler)Toleranz und der unbändige Wille „Wir wollen helfen!“ sorgte für den nötigen Filter und die Sozial-Hygiene. 

Flipchart, Zettel, Stift und Papier waren in den ersten Tagen das Tool der Dinge, hatten aber sehr schnell ausgedient. Laptop und Excel hielten Einzug und wurden maximal ausgereizt. Bis zu dem Zeitpunkt, als ein Spontanhelfender uns anbot, „mal schnell“ ein Dispositionstool zu programmieren. Nach einer Nacht war die Betaversion fertig, zwei Tage später bereits live und löste von da an Zug um Zug die davor spontan entwickelten manuellen und halbautomatischen Prozesse ab. 

Für mich war die gesamte Zeit beim HelferShuttle, eins der besten Managementtrainings ever! Alles was ich zuvor in den unterschiedlichsten Management Schulen lernen konnte (Wharton, Harvard, St Gallen, …), war hilfreich und nutzlos zugleich. Gibt es überhaupt „Führung“ und was heißt führen in einem derart fluiden Gebilde? Wie überzeuge ich andere von meiner Idee? Wie gestalte ich Prozesse, so dass sie morgen bei komplett anderen Anwendern immer noch funtkionieren und so einen Mehrwert stiften? Wie motiviere ich Spontanmotivierte? Eine steile und harte Lernkurve, aber von unschätzbarem Wert. 

Hoffnung und Zuversicht bereits kurz nach der Flut, ein zerstörter
Lagerraum...
Hoffnung und Zuversicht bereits kurz nach der Flut, ein zerstörter
Lagerraum eines kleinen Winzerbetriebes.
Quelle: Michael Peter Löffler/
Helfershuttle Ahrtal

Gut anderthalb Jahre nach der Katastrophe haben sich die Formen der Hilfe, der Spontanhelfenden und auch die Hilfsbedürftigkeit aller Betroffenen verändert. Die gesamte Region ist immer noch sehr stark gekennzeichnet von der zerstörerischen Kraft der Flut. Bauruinen sind weitestgehend abgetragen, Häuser entkernt, hier und da auch schon wieder ein Garten angelegt. Erste Wiederaufbauprojekte stehen vor dem Abschluss. Der HelferShuttle ist nun eine Plattform, auf der sich Hilfesuchende und Spontanhelfer suchen und finden können; die unmittelbare physische Organisation und Unterstützung wurde eingestellt. 

Der gemeinnützige Ableger SpendenShuttle e.V. (www.spenden-shuttle.de) hat in dem letzten Jahr mehrere Millionen € an Spenden sammeln können. Unter Nutzung der Erfahrungen und des Wissens zum Grad der Betroffenheit, werden die Spenden zielgerichtet Einzelhaushalten, aber auch Initiativen zum Wiederaufbau zugeführt. Ebenso werden vom SpendenShuttle initiierte Projekte mit nachhaltigen Effekten finanziert. Aus einem Kern von Spontanhelfenden ist (auch spontan) eine Struktur entstanden. Die Leitprinzipien sind aber gleichgeblieben: Jeder kann helfen! und Jeder trägt Verantwortung! Denn …

… nein du darfst nicht traurig sein, Guten Morgen, Sonnenschein



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