30.09.2024 •

Zivile Verteidigung als gesamtgesellschaftlicher Auftrag

Interview mit Ralph Tiesler, Präsident des BBK.

Ralph Tiesler, Präsident des BBK, im Gespräch mit Heike Lange
BBK

Crisis Prevention: Zeitenwende, Kriegstüchtigkeit, Zivilschutz, Zivile Verteidigung, Gesamtverteidigung, lebenswichtige Infrastrukturen – wie grenzen sich diese Begriffe voneinander ab und welche Rolle spielt in dieser Gemengelage der Bevölkerungsschutz? Welche Player sind für die Zivile ­Verteidigung außer dem Bevölkerungsschutz maßgebend? 

Ralph Tiesler: Diese Begriffe, die Sie hier ansprechen, sind den Menschen nicht so geläufig, wie die Dringlichkeit es vielleicht erfordert. Denn Zivilschutz und Verteidigung gehören zu einem Themenfeld, das wir in den letzten 30 Jahren nicht permanent bearbeiten mussten. Jetzt müssen wir es tun, weil sich die Situation durch den russischen Angriffskrieg auf die Ukraine maßgeblich verändert hat. Krieg ist wieder zu einer realen Gefahr in Europa geworden. Und als Bevölkerungsschützer sage ich: Wenn Bedrohungen nicht ausgeschlossen sind, dann müssen wir uns gegen diese Bedrohungen wappnen. 

Wir müssen krisenfest und wehrhaft sein, wir müssen uns als Land verteidigen können. Und das setzt voraus, dass zunächst die militärische Verteidigung massiv gestärkt wird – wie es derzeit durch die Bundesregierung auch erfolgt. Zugleich müssen wir die zivile Verteidigung weiter stärken. Denn das ist die andere Seite der Medaille. Die Überschrift über beidem ist Gesamtverteidigung. 

Wir müssen als Gesellschaft verinnerlichen, dass Verteidigung eben nicht nur eine militärische Aufgabe ist, sondern einen Staat und eine Gesellschaft insgesamt herausfordert. Zivilschutz ­wiederum ist eine Teilmenge der Zivilen Verteidigung und Kernauftrag für den Bevölkerungsschutz. Zivilschutz ist der Schutz der Bevölkerung vor militärischen Gefahren.

Alle genannten Herausforderungen können, und jetzt kommen wir zu den Akteuren, nur erfüllt werden, wenn alle sich ihres Auftrages bewusst sind und diesen wahrnehmen. Und das muss über Länder- und Ressortgrenzen hinweg so sein. Das betrifft aber nicht nur staatliche Institutionen, sondern auch die Wirtschaft und die Bevölkerung. Am Ende kann sich kein gesellschaftlicher Bereich von der Vorbereitung auf Zivile Verteidigung ausnehmen.

Zudem sind all diese auch zivilen Vorbereitungen auf Verteidigung nicht nur notwendig, sondern sogar Pflicht, denn sie sind Teil der NATO-Verträge.

CP: Vor rund zweieinhalb Jahren sind Sie als Chef des BBK angetreten, um mehr Einheitlichkeit und Professionalität in die Zivile Verteidigung Deutschlands zu bringen und das BBK bekannter zu machen. Wie ist Ihnen das gelungen?

RT: Was uns gelungen ist, ist, dass niemand mehr infrage stellt, dass in den Bevölkerungsschutz investiert werden muss und, dass es dazu einer gemeinsamen Kraftanstrengung bedarf. Ich sehe Fortschritte. Das belegen die konkreten Gespräche und Arbeitspläne mit Partnern. Ein Teil dieser Fortschritte ist dabei sicherlich auf unsere Arbeit im BBK zurückzuführen, auf unsere Konzepte und Ideen. Die Rolle als Plattform, Treiber und ­Knotenpunkt für viele Themen, die wir uns trotz der bekannten föderalen Herausforderungen in den vergangenen Jahren er­arbeitet haben, kommt uns jetzt zugute.

Aber, so ehrlich müssen wir sein, einen Teil unserer aktuellen Bedeutung verdanken wir neben unserer unermüdlichen Arbeit schlicht den zahlreichen faktischen Herausforderungen der letzten Jahre. Die multiplen Krisen von Krieg über Pandemie bis hin zum Klimawandel zwingen zum Umdenken. Wir sind allerdings noch lange nicht dort, wo wir hinwollen und müssen. Bevölkerungsschutz ist Teamwork. Ein gutes Beispiel dafür ist die Zusammenarbeit im Kleeblatt-Mechanismus. Wir sind hier ein wichtiges Rad im Getriebe, wenn es darum geht, schwer kranke und schwer verletzte Patientinnen und Patienten aus der Ukraine in deutschen Krankenhäusern zu behandeln. Wir sind aber eben nur ein Zahnrad von vielen, die hier ineinandergreifen müssen, damit alles so reibungslos läuft. Die Bundesländer, Hilfsorganisationen, Kommunen, Krankenhäuser, europäische Partner und Gesundheitsfachleute des Bundes sind ebenfalls essentiell. 

CP: Durch den Angriff Russlands auf die Ukraine und den Konflikt im Nahen Osten sind neue Herausforderungen auf uns zugekommen. Das Thema Zivile Verteidigung hat dadurch weltweit weiter an Bedeutung gewonnen. Was bedeutet das konkret für Deutschland und seine Bevölkerung?

RT: Wir orientieren uns an Szenarien von NATO und Bundeswehr und haben daraus ein Gesamtszenario für die Zivile Verteidigung abgeleitet. Im Falle eines Angriffs Russlands auf das Bündnisgebiet der NATO hätte Deutschland als Logistik-Drehscheibe in Zentraleuropa eine besondere Aufgabe. NATO-Truppen würden durch Deutschland an die NATO-Außengrenzen verlegt. In diesen Szenarien müssten die Soldatinnen und Soldaten während ihrer Durchreise versorgt und untergebracht werden, für ihre Technik würde Energie und Infrastruktur benötigt. Zugleich müssten wir uns gegen gezielte Störmanöver und noch stärker gegen Cyberangriffe wappnen. 

Für die Zivilbevölkerung könnte das auch bedeuten, die zivile Infrastruktur zeitweise mit Militärangehörigen zu teilen. Was diese Szenarien ganz konkret bedeuten, welche Schutzmaß­nahmen zu treffen wären und wie Abstimmungsprozesse zwischen allen Beteiligten und die Belastungen für alle Infrastrukturen so gering wie möglich gehalten werden, wird aktuell zwischen Bund, ­Ländern und Bundeswehr erarbeitet.

CP: Wo ist Deutschland schon gut aufgestellt bzw. was funktioniert gut? Und wo sehen Sie die größten Bedarfe?

RT: Dem Zivilschutz stehen all die Fähigkeiten, die wir jetzt schon in Bun d, Ländern und Kommunen zur Gefahrenabwehr haben, zur Verfügung. Und da steht Deutschland im Vergleich zu anderen Ländern sehr gut da und alle Ebenen haben erkannt, dass wir uns noch besser anpassen müssen. Ein gutes Beispiel dafür, was sich in den vergangenen Jahren deutlich gebessert hat, ist die Warnung der Bevölkerung. Sie ist sowohl technisch als auch konzeptionell auf ein ganz anderes Level gehoben worden als noch vor einigen Jahren. Unsere Umfrage nach dem Warntag 2023 hat ergeben, dass 96 Prozent der Befragten eine Warnung erhalten haben. Ein anderes Beispiel ist die Ausstattung. Seit 2018 haben wir konsequent darauf gesetzt, dass die Fahrzeuge geländegängig sind und das alle Ausrüstung und Technik möglichst auch autark funktioniert, Auf der positiven Seite sehe ich auch, dass wir in Sachen Notfallvorsorge ein anderes gesellschaftliches Bewusstsein entwickeln.

Weitere Investitionen sind nötig zum Beispiel beim gesundheitlichen Bevölkerungsschutz, beim weiteren Ausbau des Sirenennetzes, in der Digitalisierung von Lagebildern und Registern von Engpassressourcen, sodass alle Stellen den Überblick haben. Und wir dürfen auch in der Aus- und Fortbildung im Krisen­management nicht nachlassen, sondern müssen unsere Kapazitäten eher ausbauen, damit alle Verantwortlichen in einer Krise auf die gleichen Kenntnisse zurückgreifen können. 

Die Zeitenwende gilt auch für den Bevölkerungsschutz.

Zivile Verteidigung als gesamtgesellschaftlicher Auftrag
Quelle: BBK

CP: Welche Auswirkungen hat das auf die Struktur des BBK? Was haben Sie für Pläne? Erhalten Sie dafür ausreichende finanzielle Mittel?

RT: Das BBK ist in den vergangenen Jahren deutlich gewachsen, allein in den letzten zwei Jahren haben wir gut 200 neue Mitarbeitende dazu bekommen. Auch von den Konjunkturpaketen der letzten Jahre hat das BBK sehr profitiert. Wir haben uns deshalb intern auch eine neue Struktur gegeben, um auf die aktuellen Anforderungen gut reagieren zu können. Das sind Fortschritte. Aber es ist auch klar, dass weiteres Personal und finanzielle Investitionen nötig sind. Wir wissen zu schätzen, dass wir bei den Haushaltsverhandlungen innerhalb der Regierung deutlich besser weggekommen sind als viele andere. Das zeigt: Der Bund stärkt den Bevölkerungsschutz.

CP: Was kann und sollte jeder einzelne Bürger beitragen?

RT: Zuerst brauchen wir ein Bewusstsein dafür, dass wir mit keinem Geld der Welt 100 Prozent Sicherheit gewährleisten ­können. Außerdem wird das gut funktionierende System der Hilfeleistung insgesamt entlastet, wenn jeder und jede im Rahmen seiner und ihrer Möglichkeiten selbst vorsorgt. Vor diesem Hintergrund muss jede und jeder die Entscheidung treffen, was man selbst tun kann und will. Das beginnt beim Aufbau eines Notvorrates und Packen eines Notfallrucksacks bis hin zur Installation von ­Vorkehrungen für einen Stromausfall oder ein Hochwasser am eigenen Heim. Wir bieten zu alledem Empfehlungen und Tipps an. Wer darüber hinaus noch mehr tun will, kann beispielsweise seine Kenntnisse in Erster Hilfe auffrischen oder sich für ein Ehrenamt im Bevölkerungsschutz bei der Feuerwehr, beim THW oder in einer der Hilfsorganisationen melden.

CP: In Baden-Württemberg läuft seit dem vergangenen Schuljahr (2023/24) das Pilotprojekt „Katastrophenschutz an Schulen“. Was sagen Sie zu dem Ansatz? 

RT: Wir unterstützen ausdrücklich das Vorhaben, Inhalte des Bevölkerungsschutzes stärker altersgerecht in Schulen und anderen Bildungseinrichtungen zu thematisieren. Das entspricht auch unseren bisherigen Ansätzen. Angesichts der sicherheitspolitischen Lage sollte ein stärkerer Fokus auf den Zivilschutz gelegt werden. Dabei würden wir es begrüßen, wenn Länder in ihrer jeweiligen Zuständigkeit die Curricula durchlässiger gestalten und sich für Themen des Bevölkerungsschutzes, der ja den Zivilschutz beinhaltet, stärker öffnen. Das BBK steht dafür beratend und unterstützend zur Verfügung.

Das BBK erstellt seit Jahren altersgerechte Materialien für unterschiedliche Zielgruppen. So gibt es Materialien für junge Menschen und für Lehrpersonen, die über die Webseite des BBK abrufbar sind und jederzeit auch in gedruckter Form bestellt werden können. Auch Erste-Hilfe-Kurse mit Selbstschutzinhalten werden vom BBK finanziert und schließen in eigenen Formaten explizit die Zielgruppe Kinder und Jugendliche ein.

CP: Wir hatten dieses Jahr schon einige Hochwasser- und Sturmlagen. Die akuten Extremwetterlagen binden Ressourcen, personell und natürlich finanziell. Ist das ein Problem, um rechtzeitig zivilverteidigungstüchtig zu sein?

RT: Das sehe ich nicht so. Natürlich bindet es Mittel, diese Lagen zu bewältigen. Aber die meisten Vorbereitungen auf Extrem­wetterlagen und vor allem die dafür nötigen Absprachen im Vorfeld und während der Abarbeitung der Lagen stärken uns auch für die Zivile Verteidigung. Das ist die Logik des gut bekannten Allgefahren-Ansatzes in Verbindung mit dem so genannten Doppelnutzen.

CP: Das deutsche Hilfeleistungssystem fußt auf dem Ehrenamt. Ehrenamtliche Helferinnen und Helfer werden mehr denn je gebraucht. Gleichzeitig sehen wir uns einem demografischen und gesellschaftlichen Wandel gegenüber. Das heißt, es gibt insgesamt weniger junge Menschen und um die buhlen sehr viele Bereiche. Bereitet Ihnen das Sorgen?

RT: Das ist natürlich eine große Herausforderung. Die Ausübung eines Ehrenamts im Bevölkerungsschutz ist mit viel Verantwortung und Zeit verbunden. Die Menschen, die Leben retten, agieren in Notsituationen hochprofessionell und benötigen für ihre Einsätze eine gute und teils sehr aufwändige Ausbildung. Das wird häufig vergessen.

Trotzdem haben wir zuletzt gesehen, dass die Anmeldezahlen auch gestiegen sind, z.B. beim THW. Diese Menschen, die entschieden haben, für die Gemeinschaft eintreten zu wollen, müssen wir unterstützen. Deshalb werben wir unter anderem für bundesweit einheitliche gesetzliche Regelungen für alle Ehrenamtlichen im Bevölkerungsschutz. Das gilt zum Beispiel für die Regelungen zur Freistellung und zum Versicherungsschutz. Eine qualitativ hochwertige und funktionierende Ausstattung trägt ebenfalls zur Motivation der ehrenamtlich Engagierten bei, ­deshalb legen wir sehr hohe Maßstäbe an die Ausrüstung an, die wir konzipieren, beschaffen und an die Ehrenamtlichen weitergeben.

Ein Phänomen, das der gesellschaftliche Wandel mit sich bringt, ist schon länger bekannt. Die Menschen sind weniger bereit, sich langfristig für eine Aufgabe festzulegen. Aber gut ist, dass die Solidarität und die Bereitschaft in Notlagen zu helfen, nach wie vor sehr hoch ist. 

Was hier gebraucht wird und helfen kann, sind gute Konzepte, wie ungebundene Helfende gut in akuten Lagen eingebunden werden können. Aktuell erarbeiten Bund und Länder gemeinsam mit den Einsatzorganisationen ein Konzept zur Einbindung von Spontanhelfenden in den Zivil- und Katastrophenschutz. Das Konzept soll noch in diesem Herbst dem zuständigen Arbeitskreis der IMK vorgelegt werden. Wir fördern außerdem das Projekt „Mobile Helfer“, das ein ganzheitliches System zur Registrierung, Alarmierung und Ausbildung von ungebundenen Helfenden entwickelt. 

Was mich beim Thema Ehrenamtliche tatsächlich nachdenklich stimmt, ist die Tatsache, dass viele Menschen, die sich engagieren, das zum Teil in mehreren Organisationen parallel tun oder beruflich sehr ähnliche Tätigkeiten ausüben. Wenn wir auf dem Papier also drei Helferinnen haben, eine beim THW, eine beim Sanitätsdienst und eine Pflegekraft in einer großen Klinik, könnte es sein, dass es sich dabei um ein und dieselbe Person handelt. Bei einem Ereignisfall steht sie aber nur für eine der Organisationen zur Verfügung. Es ist gar nicht so einfach, sich darüber einen Überblick zu verschaffen. Darüber sind wir aber jetzt in Gesprächen mit den Einsatzorganisationen. Das ist nötig, um ein realistisches Bild davon zu bekommen, auf wieviel Unterstützung wir im Ernstfall zurückgreifen können.

CP: Wir haben jetzt viel über die Hilfsorganisationen, staatliche Institutionen, das Ehrenamt und die Bevölkerung gesprochen. Zu einer resilienten Gesellschaft gehören aber auch krisenfeste Versorgungsunternehmen. Wie wollen Sie die KRITIS zivilverteidigungstüchtig machen?

RT: Viele Unternehmen haben mittlerweile ein gutes und flexi­-bles Krisenmanagement etabliert. Die Erfahrungen aus den vergangenen Ereignissen von Corona über Gasmangellage bis Stark­regen, aber auch zunehmende IT-Sicherheitsvorfälle haben diese Fähigkeiten noch einmal gestärkt. Auch hier können und müssen wir in den nächsten Jahren auf den langfristigen Verbindungen und Erfahrungen aufbauen. Wir sehen auch, dass die Kommunen immer mehr erkennen, dass sie mit ihren Versorgern über Notfälle sprechen und dafür planen müssen, und das auch tun. 

Zudem wird das KRITIS-Dachgesetz die physische Resilienz von kritischen Anlagen stärken und somit einen Beitrag zur Versorgungssicherheit der Bürgerinnen und Bürger in Deutschland leisten. 

Das Interview führte Heike Lange


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